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WeinLetter #57: Trinkst Du schon CO2-neutralen Wein?

Liebe Wein-Freund*in,

Du liest den WeinLetter #57. Heute gibt's: CO2-Neutralität im nachhaltigen Weinanbau im Allgemeinen und beim Pfälzer Weingut Neiss im Besonderen! Du sagst jetzt: Hey WeinLetterman, biste jetzt unter die Aktivist:innen gegangen und geht's wirklich nicht ein bisschen drunter? Naja, ich hab's Dir gesagt: 2023 ist das Jahr, in dem ich mich ganz verstärkt um den Klimawandel und seine Folgen auf Weinhandwerk und Weinkonsum kümmere. Es ist nämlich so, dass sich beides extrem und teilweise gezwungenermaßen transformiert. Und jene zu den Gewinner:innen gehören werden, die die Chancen der Erneuerung sehen, und den Rucksack der Tradition abschnallen. Weshalb das Weingut Neiss? Erstens: Es ist Gründungsmitglied des Netzwerks Fair and Green, das nachhaltiges Wirtschaften zertifiziert. Zweitens: Winzer Axel Neiss und Franziska Ahlers von Vertrieb und Marketing haben mir exklusiven Einblick in die Klima-Daten des Betriebs gegeben und in den Prozess, wie man den CO2-Ausstoß senkt. Lohnt sich. Viel Spaß beim Lesen! Und schreibt mir, was ihr davon haltet: weinletter@posteo +++ Empfehlt (und shared) diesen WeinLetter bitte weiter. Unterstützt den WeinLetter gerne auch finanziell und werdet aktives Mitglied! (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Aber vor allem:

Trinkt friedlich! Und klebt allenfalls am Glas!

Euer Thilo

Katja und Axel Neiss stehen in einem Weinberg in der Pfalz.

"Wir können unsere Existenzgrundlage nicht kaputt machen": Katja und Axel Neiss FOTO: WEINGUT NEISS

Die Tonnen-Diät

Das Weingut Neiss aus der Pfalz produziert CO2-neutral. Wie haben sie das geschafft? Axel Neiss gibt einen exklusiven Einblick in den Footprint seines Betriebs. Mit konkreten Zahlen zur Nachhaltigkeit – und Empfehlungen für die Zukunft.

von Thilo Knott

Da sind die Weinkartonagen. Auch sie haben einen CO2-Footprint wie fast alles im Betrieb von Axel Neiss. Früher hatten sie diese aus Italien kommen lassen. 0,88 tCO2e machte das aus. tCO2e steht für Tonnen an CO2-Emission. Heute beziehen sie die Kartonagen aus Pirmasens. Macht eine Einsparung von 0,76 tCO2e. Der heutige Footprint der Kartonagen ist nur noch 0,12 tCO2e groß.

So können sie hier in Kindenheim in der Pfalz im Prinzip alles berechnen. Energie, Transport, Traktor-Diesel, Abfall. Alles. Denn Axel Neiss hat sich in die Bücher schauen lassen. Er hat sich nachhaltig zertifizieren lassen. Mit dem Siegel des Vereins Fair and Green. Es werden Betriebsführung, Umweltschutz und gesellschaftliches Engagement, ja, regelrecht ausgemessen. Wie bei den Kartonagen. Axel Neiss sagt: „Weinbau ist Landwirtschaft: Wir leben von vitalen Böden. Wir können unsere Existenzgrundlage nicht kaputt machen."

Axel Neiss bewirtschaftet 47 Hektar Weinberge. Er hat ein breites Sortiment, angeführt wird es von einer feinen Auswahl an kühlen, mineralischen Rieslingen. 380.000 Flaschen Wein produzieren sie pro Jahr. Er hat Flächen in Toplagen der Nördlichen Weinstraße: Schwarzer Herrgott, Burgweg, Glockenspiel, Schlossberg. Der Vater trat in den 90ern der „Gemeinschaft umweltschonender Weinbau“ bei. Der Sohn, Axel Neiss, ist Gründungsmitglied des Fair-and-Green-Vereins. Im Jahr 2013 ist er beigetreten. „Wir sind Mitgliednummer 007“, sagt er. Seit 2021 nun sind sie CO2-neutral.

Das Weingut Neiss wurde in vier Bereichen vermessen

Zwischen den Rebstöcken in den Weinbergen des Weinguts Neiss aus der Pfalz wachsen viele Blumen.

Zeilenbegründung: Auch Biodiversität wird bei der Nachhaltigkeitsprüfung der Weinbetriebe eine Rolle FOTO: WEINGUT NEISS

Der Verein Fair and Green hat mittlerweile 130 Weinbetriebe in acht Ländern zertifziert. Deutschland ist mit 80 Prozent der Schwerpunkt. Es sind vor allem Weingüter, es können aber auch Weinhändler umstellen. Die Qualität der Nachhaltigkeit wird in einem Vier-Säulen-Modell gemessen:

  1. Betriebsführung: Hier wird geschaut nach dem Wirtschaftsplan, der wirtschaftlichen Situation, den Kennzahlen, Investitionen & Innovationen, Betriebsabläufe, Digitalisierung, Kommunikation & Marketing.

  2. Umweltschutz: Hier wird untersucht: Ökobilanz, Energieeinsatz, Treibhausgasanalyse, Wassereinsatz, Ressourcenschutz, Recycling & Abfallvermeidung, Gebäude & Bauen.

  3. Gesellschaftliches Engagement: Hier zahlen Unternehmenswerte, ganzjährig Beschäftigte, Aus- und Weiterbildung, gesellschaftliches Umwelt, soziale Verantwortung, kulturelles Engagement ein.

  4. Wertschöpfung: Hier geht es um Beschaffung, Boden- und Nährstoffe, Pflanzenschutz & Nützlinge, Biodiversität, Kellerwirtschaft, Qualitätsmanagement, Absatz & Transport. (Mehr Infos: www.fairandgreen.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))

„Nachhaltigkeit ist ein aufwendiger Prozess“, sagt Axel Neiss. „Der Clou ist die extreme Dokumentationspflicht“, sagt er. „Du führst Buch über alle Anschaffungen, Flaschen, Verschlüsse, alle Daten zu Warenströmen, Postleitzahlen von Adressaten und Exportländern.“ Das maßgebliche Kriterium CO2-Neutralität verlangt den größten Aufwand. Jede Rechnung etwa einer Warenanlieferung oder einer -versendung wird in CO2-Emissionen umgerechnet und geht in die Bilanz ein. Wie viele Flaschen wurden an die Kunden innerhalb Deutschlands verschickt – oder ins Ausland exportiert? Welches Gewicht hatte jede Flasche? Wie groß war die Lieferentfernung? Flaschengewicht in Relation zur Lieferentfernung gleich CO2-Emission. Und waren es Paketversand, Speditionsversand, eigene Auslieferungen, die die größte Emission verursachen würde?

Das ist der Footprint des Weinguts Neiss

Die Evaluation hat für das Jahr 2020 eine CO2-Bilanz von 157,56 Tonnen CO2-Emission ergeben – hinzu kommt bei Fair and Green noch ein Sicherheitsaufschlag von 10 Prozent: Das ergibt eine Gesamt-CO2-Emission von 173,32 Tonnen.

Was sind die drei Haupttreiber?

  • 94,48 Tonnen: bezogene Waren und Dienstleistungen. Hier fließt die Glasherstellung mit rein, die in jedem Betrieb der Haupt-CO2-Verursacher ist.

  • 44,57 Tonnen: Kraftstoffverbrauch. Der Diesel-Traktor im Weinberg – zumal bei viel Regen – ist quasi unvermeidbar.

  • 14,29 Tonnen: Vorgelagerter Transport und Vertrieb.

  • Der Rest sind kleinere Margen wie beispielsweise die 1,12 Tonnen CO2-Emissionen, die durch im Betrieb entstehende Abfälle verursacht werden.

Es wurden eine Vielzahl von Maßnahmen für den Klimaschutz umgesetzt. Die Kartonagen aus Pirmasens. Elektroauto angeschafft. Recyclingmengen minimiert. Photovoltaikanlage installiert und den Ökostrom vom regionalen Erzeuger eingekauft. Den Weinversand bei DHL und UPS auf klimaneutral umgestellt. Auf mineralische Dünger verzichtet. Regenwasser statt Trinkwasser für die Bewässerung der Weinberge eingesetzt. Die Weinberge für die Biodiversität begrünt. Leichtglasflaschen eingeführt, die weniger als 420 Gramm wiegen und schon 80 Prozent des Sortiments abdecken. Die Glashütte in Italien durch eine in Deutschland ersetzt.

So hat das Weingut Neiss das Glas reduziert

„Größter Hebel für eine bessere CO2-Bilanz sind die Glasflaschen. Da haben wir im Orts- und Gutsweinbereich auf 420 Gramm umgestellt. Und auf eine Glashütte in Deutschland statt Italien“, sagt Axel Neiss. Reduzierung des Gewichts und Regionalisierung des Zulieferbetriebs: Beide Maßnahmen bringen eine erhebliche Reduzierung in Höhe von 26,97 Tonnen CO2-Emissionen. Und doch bleiben die Glasflaschen auch der Grund, warum eine „echte“ CO2-Neutralität (noch) nicht verwirklicht werden kann. „Wir haben mit Zertifikaten im Wert von 5.000 Euro den Rest der CO2-Emissionen kompensiert“, sagt Axel Neiss.

Das Weingut Neiss aus der Pfalz hat auf einem Tisch das Zertifikat "Klimaneutraler Betrieb" neben zwei Weinflaschen gestellt.

"Wir haben einen ganz guten Job gemacht": Auszeichnung "Klimaneutraler Betrieb" FOTO: WEINGUT NEISS

Lohnt sich so ein aufwendiger Prozess? Für die Natur allemal. Aber auch – für den Wirtschaftsplan? Axel Neiss sagt klar: „Bei einer rein ökonomischen Betrachtung wird es sich nicht amortisieren – zumindest nicht kurzfristig.“ Einerseits.

Das Weingut Neiss exportiert 40 Prozent der Produktion

Andererseits ist es so, dass er mit diesem Schritt die Zukunft seines Betriebs absichert. Konkret spricht er über die Exportquote des Betriebs von 40 Prozent. Davon wiederum gehen die Hälfte nach Skandinavien plus Finnland (je nach Skandinavien-Defintion). Dort existieren die staatlichen Weinmonopole. Sie regulieren teils härter als in Deutschland. Etwa bei der Informationspflicht der Lebensmittel-Hersteller:innen auf der Weinflasche. Aber auch bei den Nachhaltigkeitsanforderungen. „Wenn die sagen, die CO2-Belastung muss halbiert werden, dann gilt das auch für uns, die wir Wein einführen“, sagt Axel Neiss. Heißt: „Ohne Halbierung, kein Export!“

Er hofft deshalb, dass sich die Kriterien für die Nachhaltigkeit von Landwirtschaftsbetrieben weiterentwickeln. So könnten die Weinbauern durch gezielten Humusaufbau mehr CO2 in den Böden binden. „Dieses CO2-Zehren könnte positiv in die Klimabilanz eingehen“, schlägt Axel Neiss vor.

Dann wird er prinzipiell, wenn es um dieses „Lohnt sich das?“ geht. „Irgendwann mal vererben wir das Weingut und die Weinberge. Da liegt es in unserer DNA, dass wir schon immer in langen Zyklen denken.“ Und Nachhaltigkeit gehört zu diesem Erbe. Er sagt: „Es ist jetzt wissenschaftlich dokumentiert, dass wir einen ganz guten Job gemacht haben.“

Mehr WeinLetter zum Klimawandel gibt's hier:

  1. WeinLetter #54: Die Pfandflaschen-Revolution kommt aus Württemberg (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

  2. WeinLetter #50: So sieht die Zukunft des deutschen Weins aus. Das Essay (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

  3. WeinLetter #46: Begräbt die EU den deutschen Wein? (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

  4. WeinLetter #39: Die neue Nachhaltigkeitsstrategie des VDP (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Ins Glas geschaut: Wie schmeckt der CO2-neutraler Riesling „Schwarzer Herrgott“?

Frühling und ein Riesling "Schwarzer Herrgott" FOTO: THILO KNOTT

In der Rubrik „Ins Glas geschaut“ stellen Weinexpert:innen und Weinliebhaber:innen ihren Wein der Woche vor. Heute: Riesling von der Großen Lage „Schwarzer Herrgott“ vom Weingut Neiss.

von Thilo Knott

Der Wein: Weingut Neiss: Riesling Zeller Schwarzer Herrgott, Große Lage, trocken, 2021, 13,5 Vol %, 39 Euro ab Hof.

Der Grund: In dem 1971 erschienen Meisterwerk „A Theory of Justice“ entwickelt der US-amerikanische Moralphilosoph John Rawls eine bis heute fulminante Theorie der Gerechtigkeit als Fairness. Er entwickelt zwei Gerechtigkeitsprinzipien. Das eine Prinzip markiert eine Art Chancengleichheit, also faire Ausgangsbedingungen für jeden. Das andere Prinzip definiert, unter welchen Bedingungen Ungleichheit zulässig, also fair ist. Er entwickelt diese Prinzipien in einem imaginären Urzustand, in dem sich Mitglieder der Gesellschaft hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ treffen und ohne Vorannehme etwa der künftigen Stellung fragen: Wie wollen wir gerecht zusammenleben?

Wenn wir jetzt den John Rawls’schen „Schleier des Nichtwissens“ über die Weinbranche legen würden, dann würden wir über die schnöde und oft einzig gestellt Frage „Schmeckt der Wein?“ hinausgehen. Und noch weitere Bedingungen definieren, was das gute Leben oder eben den guten Wein dann charakterisiert? Nachhaltigkeit gehört hier sicherlich hinzu. Und so verarbeiten wir bei der Bewertung eines Weins eben nicht nur rein sensorische Informationen. Sonst wären die „blinden Hühner“ bei der Blindverkostung ja auf einmal die Meister des Geschmacks. Sondern wir verarbeiten auch die Informationen des Weinhandwerks, des Landwirtschaftens, ja sogar des feschen Etiketten-Marketings. Auch das ist okay. (Mehr Infos zur Wein-Psychologie gibt es im WeinLetter #13 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))

Nachhaltigkeit ist kein Selbstzweck. Schmecken sollte der Wein schon auch

So kann man jetzt die Frage beantworten: Schmeckt nachhaltig produzierter Wein besser? Schmeckt also – und um den geht es hier - der Riesling „Schwarzer Herrgott“ des nachhaltig zertifizierten Weinguts Neiss besser, weil er sehr gut und nachhaltig ist? Die Antwort gebe ich mit einem in der Philosophie häufig anzutreffenden: Jein! Ja, die Vorstellung nachhaltig produzierter Lebensmittel hat Einfluss auf die Bewertung eines Lebensmittels. Nein! Es ist aber kein Selbstzweck.

Der Winzer Axel Neiss macht den Riesling „Schwarzer Herrgott“ und führt einen seit 2021 nachhaltig zertifizierten Betrieb. Er sagt: „Wenn der Wein Scheiße ist, dann nutzt Dir die Leichtglasflasche auch nichts.“ Er weiss natürlich auch, dass sein „Schwarzer Herrgott“ schon ein Top-Weine ist.

Was macht diesen Riesling aus? Die Lage „Schwarzer Herrgott“ ist knapp 10 Hektar groß und liegt im Norden der Pfälzer Weinstraße im Zellertal, der VDP zählt sie zu den großen Lagen. Der „Herrgott“ ist nach Süden ausgerichtet und liegt auf einem Kalksteinplateau. Der benachbarte Donnersberg hält viel Regen ab. Philipp Kuhn hat hier Parzellen – und eben Axel Neiss.

Der 2021 schmeckt nach Birne, Apfel – aber dezent. Das ist das Gegenteil von Obstsalat, sondern liegt auf der feinen Struktur-Seite mit einer dezenten Säure. Charakteristisch sind eine tolle Mineralität und schöne Länge. Ich möchte eigentlich nicht mehr von „Cool Climate“ sprechen, weil es den Klimawandel und seine ganze Unwucht romantisiert und die real existierenden Grundwasser-Probleme der Winzer:innen in Deutschland negiert. Aber wenn es noch einen Vertreter von "Cool Climate" davon gibt, dann ist es der „Schwarze Herrgott“. Da lassen wir jetzt mal den Schleier des Nichtwissens drüber fallen.

Zuletzt in der Rubrik "Ins Glas geschaut" erschienen: Philipp Bohn testet Spätburgunder von Karsten Peter (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) +++ WeinLetter-Chef Thilo Knott testet die Scheureben von Stefanie Weegmüller-Scherr (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) +++ Thilo Knott testet Mutanten-Chadonnay vom Weingut Laquai aus dem Rheingau (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) +++ Rainer Schönfeld empfiehlt drei Weine zu Asia-Gerichten (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)+++ Franz Untersteller testet PiWi Cabernet Blanc vom Stuttgarter Wein-Projekt "Steiler Zucker" (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) +++  Thilo Knott testet Gamaret der neuen Vinissima-Chefin Stefanie Herbst (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) +++ Thilo Knott testet Newcomer-Spätburgunder für 50 Euro von Peter Wagner (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) +++ Philipp Bohn testet Eltz-Riesling, den es seit 1976 eigentlich nicht mehr gibt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) +++ Andrej Marko testet die PiWi-Rebsorte Cabernet Blanc vom Weingut Hoflößnitz aus Radebeul (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) +++

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