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Zeus are us

Begegnung in Strasbourg/Original Sin/Wohnen in Paris/Michel Bras

Es ist allen vertraut, und doch nähern sich die Leute mit Ehrfurcht – wie immer, wenn jemand aus dem Fernsehen bekannt ist und seitdem durch Träume spukt. Während der legendären Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris im vergangenen Sommer galoppierte ein silbernes, gespenstisches Pferd über die Oberfläche der Seine (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) – wie der Geist der Zeiten. Sein Name: Zeus. Nun geht die Illusion auf Tour durch Frankreich und war neulich in Strasbourg zu bestaunen.

Möhren oder Zuckerstücke kann man ihm nicht geben – man bekommt selbst etwas: Hoffnung. Dass es Fortschritt gibt in der Geschichte der Menschheit und die blöden Zustände dieser Gegenwart nicht ewig andauern – das kann man in vielen Reden und Artikeln mitteilen. Aber Zeus – eine komplizierte und doch irgendwie klassisch wirkende, ganz und gar analoge Konstruktion aus Metall und Technik, die, einmal eingeschaltet, Zeit und Raum überwindet wie ein Pegasus ohne Flügel – berührt noch einmal auf eine ganz andere, poetische Weise.

Dieses Kunstwerk ist dem Atelier Blam aus Nantes zu verdanken, wo man sich auf allerlei spektakuläre analoge Effekte spezialisiert hat.

Man kann in Zeus einen Verwandten der von Hegel bekannten Eule der Minerva erkennen, die ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung beginnt – oder der Katzen, denen Robert Darnton einen wichtigen Aufsatz über die Kultur des vorrevolutionären Paris gewidmet hat. Er schrieb dort, dass Erkenntnis nicht immer oder nicht nur mit Begriffen vermittelt wird, sondern auch in Bildern und Gestalten – beispielsweise in Katzen: Cats are good to think. Auch wenn es in seinem Beispiel für die lieben Haustiere schlecht ausging: Sein berühmter Text trägt den Titel „Das große Katzenmassaker“.

Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte waren Demokratie, Menschenrechte und die persönliche Freiheit so unvorstellbar wie ein fliegendes Pferd. Die Aufteilung der Gesellschaft in Stände, das Gottesgnadentum der Monarchen und eine ewige Ordnung der Dinge schienen ewig unabänderlich wie der Lauf der Jahreszeiten. Selbst die kühnsten Hitzköpfe unter den vormodernen Denkern hätten sich die Europäische Union, den Rechts- und Sozialstaat und das allgemeine Wahlrecht nicht erträumt. Heute haben wir uns an all das gewöhnt – vielleicht ein bisschen zu sehr.

In der politischen Rhetorik hat sich jedenfalls die große Langeweile breit gemacht. Listen von Spiegelstrichen, die erwartbaren Begriffe und Parolen, dann und wann das Versprechen: Du hast auch was davon!

Als bräuchte die parlamentarische Demokratie keine Geschichte, keine Sinnstiftung und keine Momente der Rührung. Als wären Bürgerinnen und Bürger nur Girokonten auf zwei Beinen und keine Menschen mit Träumen, Empfindungen und Vorstellungskraft. Die vielleicht Kinder haben oder kennen, denen sie etwas erzählen möchten: Woher alle kommen, wohin die Zeit und die Welt galoppieren wie die Illusion eines silbernen Pferdes über dem Wasser.

Zeus erinnert uns daran, dass die Geschichte keine Pausen macht. Eine Stadt wie Strasbourg war einst auch die Heimat tausender Pferde – freilich nicht im Sinne von Bibi und Tina, sondern in ihrer Funktion als Waffen. Mal galoppierten sie gegen Deutschland, mal gegen Frankreich. Heute stehen Touristen aus beiden Ländern einträchtig und eingeschüchtert vor Zeus.

Es gibt Fortschritt, wenn jemand ihn erträumt. Wir vielleicht.

Eine Geschichte von Herodot ist die Grundlage des modernen Bürgerbegriffs: Der weise Solon begibt sich nach seiner Amtszeit in Athen auf Reisen und besucht den sagenhaft reichen König Kroisos. Der fragt ihn, wer in seinen Augen wohl der glücklichste Mann der Welt sei – und erwartet, fügt Herodot an, selbst genannt zu werden. Aber Solon nennt einen anderen, einen Nobody, nämlich den athenischen Bürger Tellos, der in seiner Stadt ein biederes Leben führte, eine Familie gründete und bei der Verteidigung seiner Heimat starb.

Ein kleiner Einschub ist für mich der wichtigste Satz in der Story. Bevor die Antwort von Solon wiedergegeben wird, beschreibt Herodot sie wie folgt: Solon aber hielt sich an die Wahrheit und antwortete –

Der Witz der Szene liegt nicht darin, wie genau das Leben des Tellos ausgesehen hat, sondern in dem, was Solon für seine Antwort heranzieht: Nicht den Kontext, die Erwartungshaltung seines Publikums, in welcher Performance er gut rüberkommt oder was sich für ihn finanziell lohnen könnte – sondern einfach die Wahrheit.

Leider ist dieses Verständnis von Bürgertum fast vergessen.

Ich habe in den letzten Tagen das Buch von Jake Tapper und Alex Thompson über die Vertuschung des Zustandes von Biden gelesen und denke seitdem darüber nach.

Die unmittelbare politische Deutung ist schlimm genug, aber die weitergehenden Fragen sind noch beunruhigender: Im Buch werden viele Situationen beschrieben, in denen sich reiche und berühmte Menschen schlicht nicht trauen, die Wahrheit zu sagen. Sie überlegen und grübeln, simulieren und berechnen, was welche Entwicklung für sie bedeutet. Wir lesen von einer gut geölten Lügenmaschine, die der Welt einen Biden verkauft, der längst nicht mehr im Angebot ist. Doch statt seine erneute Kandidatur zu verhindern, ging sein Umfeld gegen jene vor, die die Wahrheit sahen und öffentlich machten.

Die Fähigkeit zum wahrheitsbezogenen Widerspruch ist eine kulturelle Errungenschaft, die nicht mehr besonders gefördert wird. Dabei ist sie nicht nur aus idealistischen Gründen relevant – sie funktioniert als Betriebssystem der offenen Gesellschaft und der bürgerlichen Republik. Gesellschaften sind stärker, wenn jemand dem Chef widerspricht.

Die zweite Amtszeit von Donald Trump, dieser politische und menschliche Tiefpunkt, ist nur deshalb möglich, weil andere zuvor die republikanische Verpflichtung zur Wahrheit aufgegeben haben.

Wohnen ist ein zentrales Thema unserer Zeit – hier bündeln sich die sozialen und kulturellen Fragen der Gegenwart. In einer zugleich witzigen wie erhellenden Doku zeigt die Filmemacherin Marion Angelosanto, was alles an dem Thema hängt – und zwar am Beispiel ihrer eigenen, winzigen Eigentumswohnung im Pariser Vorort Pantin. Das Haus ist eine Eigentümergemeinschaft, aber reiche Menschen sind das nicht, die hier wohnen. Viele Szenen würden die deutschen Helden der Vox-Realityserien Ab ins Beet und Ab in die Ruine gruseln: Alles nur Improvisation, nirgends deutsche Wertarbeit. Um alles schlimmer zu machen, beschließt der damalige Innenminister Darmanin noch, die Pariser Crackszene loszuwerden – und befördert die Süchtigen und ihre Dealer per Bus in die Städte des Umlands. Eben auch nach Pantin. „Das Wohnhaus ist Frankreich en miniature“, behauptet eine Nachbarin – da ist auch etwas dran. Immerhin Stoff für einen sehr empfehlenswerten Film.

https://www.arte.tv/de/videos/118196-000-A/mein-haus-bei-paris/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Zu den wichtigsten, aber weniger bekannten Spitzenköchen in Frankreich zählt Michel Bras. In dieser Doku werden seine Geschichte und seine Arbeitsweise vorgestellt. Mir gefällt daran sein Optimismus und seine Freude an der Zusammenarbeit mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Bras ist weit entfernt davon, die alten Zeiten zu glorifizieren: „Die Mama kochte noch mit Schmalz. Wir sind also weit gekommen.“

https://www.youtube.com/watch?v=jfxX-AOdheg&t=211s (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Sein signature dish ist eine vegetarische Komposition aus zahllosen Zutaten: le gargouillou. Eine ganze Lebensgeschichte und Philosophie manifestiert sich auf so einem Teller. 35 Jahre musste er werden, bevor er sich getraut hat, sein gargouillou zu servieren.

https://www.youtube.com/watch?v=ehW8tTI9GWw (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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