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WeinLetter #46: Begräbt die EU den deutschen Wein?

Liebe Wein-Freund*in,

Du liest den WeinLetter #46. Heute gibt's: Pestizide. Es geht um die neue EU-Verordnung zum Pestizideinsatz in der Landwirtschaft. Denn wenn sie so umgesetzt wird, wie sie im Entwurf formuliert ist, dann bedeutet das den Tod vieler Weingüter. Das ist zumindest der Alptraum der deutschen Winzer:innen, die das Thema umtreibt. Gert Aldinger zum Beispiel. Ich habe lange mit dem deutschen Ausnahmewinzer aus Fellbach gesprochen. Seinen Betrieb stellt er gerade auf Bio um. Er versteht die Welt nicht mehr - und erklärt das hier im WeinLetter. Ja, was ist das jetzt für ein Konflikt? Ich will es so beschreiben - es geht um: Sehr Gutes tun! Die Halbierung von Pestiziden im Landbau ist State of the Science. Da freut sich, nennen wir ihn: Lurchi. In manchen Gebieten soll es aber auch ein Komplettverbot geben - auch von biologischen Pflanzenschutzmitteln. Und da fängt's an. Auch für Lurchi. Wein ist kein Naturprodukt und muss irgendwie geschützt werden vor z. B. Pilzbefall. Wenn die Reben aber keinen, noch nicht mal biologischen Schutz mehr haben, dann droht in vielen Gebieten der Verlust der Rebstöcke, die Verbuschung der Steillagen und das Ende vieler Weinbetriebe. Und da fühlt sich Lurchi auch nicht mehr wohl. Zu diesem Konflikt gibt's alle Fakten! +++ Und einen Kommentar von Franz Untersteller, Minister a. D., Grüner, aus Baden-Württemberg: Er ruft seine Parteikolleg:innen und Minister:innen im Umwelt- und Landwirtschaftsressort zum Aufstand gegen Brüssel auf! Warum? Er hat 2020 selbst ein Biodiversitätsstärkungsgesetz realisiert +++ Empfehlt (und shared) gerade diesen WeinLetter bitte weiter. Unterstützt den WeinLetter gerne auch finanziell und werdet aktives Mitglied! (Öffnet in neuem Fenster) Aber vor allem:

Trinkt friedlich!

Euer Thilo

Ürziger Sonnenuhr, Steillage an der Mosel - Pflanzenschutz künftig verboten: War's das mit deutschem Ausnahme-Riesling? FOTO: DEUTSCHES WEININSTITUT

Ist die Sonnenuhr für den deutschen Wein abgelaufen? 

von Thilo Knott

„Der Weinbau entwickelt sich immer weiter“, sagt Gert Aldinger. Aber das, was gerade passiert? „Das ist eine Schreibtisch-Entscheidung.“ Was gerade passiert: Die EU-Kommission hat eine Verordnung zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln veröffentlicht – die „Sustainable Use Regulation“. Sie ist Teil des Green Deals, den sich die EU zum Ziel gesetzt hat. Es ist ein Entwurf, aber er gibt die Richtung vor, in der weiter diskutiert wird.

Gert Aldinger hat selbst viele Entwicklungen durchlebt. Er hat den Betrieb von seinem Vater 1992 übernommen - 500 Jahre nach der Gründung, 1492 war das Jahr der Entdeckung Amerikas. 1992 verzeichnete der Rebenbestand 48 Prozent Trollinger. Jetzt verarbeitet er noch vier Prozent. 2019 hat er den Betrieb an seine beiden Söhne Hansjörg und Matthias übergeben. Nicht ohne den Betrieb mit ihnen auf biologisch-nachhaltige Arbeitsweise umzustellen. Die nächste Entwicklung der Aldingers.

Ja, ein Winzer verändert die Natur, wie sie ihm gegeben ist. Auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen. Logisch. Es ist schließlich der Broterwerb. Aber betriebswirtschaftlich heißt eben auch, dass Veränderung möglichst mit der Natur erfolgreich ist. Es geht nicht um Romantik oder Besitzstandswahrung, wenn Gert Aldinger sagt: „Die EU ist übers Ziel hinausgeschossen. Es geht jetzt um mein Lebenswerk.“

Was also ist passiert, wenn Lebenswerke wie das von Gert Aldinger oder anderer Winzer:innen auf dem Spiel stehen? Ist die Reduzierung von Pestiziden nicht das, was nachhaltig produzierende Winzer:innen immer gefordert haben, weil die konventionellen Weinbauer:innen ausgebracht haben, was der Helikopter hergegeben hat? Hier gibt’s die wichtigsten Fragen und Antworten zur hoch umstrittenen EU-Verordnung.

"Es geht jetzt um mein Lebenswerk": Vater Gert Aldinger (Mitte) mit seinen Söhnen Hansjörg (links) und Matthias FOTO: WEINGUT ALDINGER

1. Was will die EU in der Pestizid-Verordnung?

Die Pestizid-Verordnung der EU, die rechtlich verbindlich sein wird und den Mitgliedsstaaten keine nationalen Spielräume lassen wird, sieht eine Pestizid-Reduzierung bis 2030 in Höhe von 50 Prozent vor. Dies ist ein zentraler Kern des Green Deals. Diese Regelung gilt für konventionellen, also chemisch hergestellten Pflanzenschutz, wie auch für Bio-Pflanzenschutzmittel. Während der konventionelle Weinbau bisher chemische und synthetische Pflanzenschutzmittel einsetzen darf, verzichtet der biologische Weinbau auf alles "Künstliche" und setzt nur Pflanzenschutzmittel ein, die auch in der Natur vorkommen. Die biologischen Pestizide sind aber auch nicht ganz ohne Wirkung. Das macht es so schwierig: So ist Kupfer, das im Bio-Weinbau erlaubt ist, höchst umstritten – gerade unter nachhaltig produzierenden Winzer:innen.

Interessant in dem Zusammenhang ist aber eine weitere Einschränkung in der EU-Verordnung, die Regeln für „sensible Gebiete“ festlegt. Was sind diese „sensiblen Gebiete“? Es geht um öffentliche Parks und Gärten, Spielplätze, Schulen, Freizeit- und Sportplätze, öffentliche Wege und Natura-2000-Schutzgebiete. Hier soll die Verwendung von Pestiziden komplett verboten werden. In Deutschland fallen auch Landschaftsschutzgebiete, Naturschutzgebiete, Wasserschutzgebiete und Vogelschutzgebiete darunter. Vieles davon findet sich in den Weinanbaugebieten wie das komplette Moseltal, der Kaiserstuhl in Baden oder das Remstal in Württemberg – im Remstal macht das Weingut Aldinger seine Top-Weine. Und hier also darf - wenn es nach Brüssel geht - weder konventionell noch ökologisch gegen diverse Reb-Krankheiten gespritzt werden.

Liegt im Landschaftsschutzgebiet - Pflanzenschutzmittel wären verboten: Fellbacher Lämmler ist die Toplage des Weingut Aldinger FOTO: WEINGUT ALDINGER

2. Was kritisieren Winzer:innen wie Gert Aldinger an der EU-Pestizid-Verordnung?

„Das ist eine Art Enteignung“, sagt Gert Aldinger. Punkt. Ein harter Vorwurf. Er sagt zunächst, dass Bio-Weinbauer:innen, die ohnehin viel weniger „nachhelfen“, in gleichem Maße reduzieren sollen wie die konventionellen, das könne nur jemand verantworten, der nicht weiß, dass Bio-Winzer:innen ohnehin schon auf viel Ertrag verzichten. Aber geschenkt.

Doch dass in den „sensiblen Gebieten“ komplett auf Pflanzenschutzmittel jedweder Art verzichtet werden soll, das sei „eine Schreibtisch-Entscheidung“. Gert Aldinger fühlt sich doppelt gestraft. Er ist gerade in der Bio-Umstellung. Das heißt: Er hat ohnehin schon nachhaltig produziert, jetzt lässt er es sich zertifizieren. Doch kränkt ihn auch der zweite Teil der Verordnung. Noch im alten Jahrhundert, Anfang der 1990er, haben sich im Remstal Landwirte, Winzer:innen und Waldbesitzer:innen zusammen geschlossen, um das Remstal zum Landschaftsschutzgebiet zu machen. „Wir wollten die Landschaft schützen, so wie sie dasteht“, sagt Gert Aldinger. Schützen vor neuen Bauplätzen, schützen vor der Versiegelung von noch mehr Grünflächen. Es war gelebte Biodiversität – freilich, auch die ökonomische Absicherung könnte ein Motiv gewesen sein. Aber: „Jetzt ist das ganze Remstal von der Verordnung betroffen, weil es Landschaftsschutzgebiet ist – das ist pervers“, sagt Gert Aldinger.

Warum nicht auf Pestizide und biologische Spritzmittel verzichten? Es gibt Pilzkrankheiten. Die widerlichsten: echter und falscher Mehltau. „Wenn wir die nicht bekämpfen können, dann gehen die Trauben, die Rebstöcke kaputt – dann war’s das. Fertig.“ Er sagt: „Dann ist alles zunichte gemacht – egal ob konventionell oder bio.“

Doch nicht nur Spitzenwinzer wie Gert Aldinger schlagen Alarm. Stephan Danner ist Geschäftsführender Vorstand der Durbacher Winzergenossenschaft (Öffnet in neuem Fenster). 330 Hektar sind hier vereint, sie produzieren drei Millionen Flaschen, von den 241 Mitglieds-Familien sind 140 aktiv. Zu 80 Prozent  als Vollerwerbswinzer*innen, zu 20 Prozent als Nebenerwerbswinzer*innen. Die Durbacher sind Steillagen-Sepzialisten und gehören zu den besten Genossenschaften des Landes. Was, wenn der EU-Entwurf Wirklichkeit wird? Denn auch der Schwarzwald ist Schutzgebiet. "Wir wären sehr stark betroffen", sagt Stephan Danner: "Ich kann heute nicht einmal abschätzen, ob dies nicht sogar das Ende unseres Betriebes wäre." Und damit das Ende von 140 aktiven Betrieben. "Die EU wäre der Totengräber unseres Weinbaus - und dies nicht nur in Durbach!"

Der Kaiserstuhl mit seinen Terrassen - und Pflanzenschutzmittel wären verboten FOTO: WEINGUT PETER WAGNER

3. Was sagen die Weinlobbyisten zur EU-Pestizid-Verordnung?

Der Deutsche Weinbauverband (DWV) prophezeit „faktisch die unumkehrbare Stilllegung“ vieler Weinberge. Der DWV berechnet: An der Mosel würde die Weinerzeugung um rund 90 Prozent zurückgehen, in Baden und Württemberg um etwa ein Drittel der Rebflächen. Die bekanntesten Einzellagen würden ausgelöscht. „Staatliche Vorgaben, die sich an unrealistischen Zielvorgaben orientieren, würden zum Berufsverbot führen“, argumentiert der DWV.

„Ja zu weniger gefährlichen Pestiziden in der Landwirtschaft, Nein zu absehbaren Fehllenkungen des Entwurfs“: So argumentiert wiederum der Bundesverband ökologischer Weinbau (Ecovin). Und rechnet mit dem Aus für viele Öko-Betriebe in den „sensiblen Gebieten“. Der ökologische Weinbau brauche vor allem wirksame Mittel gegen Pilzkrankheiten. „Aktuell haben wir hier nur ganz wenige Stoffe wie Backpulver, Schwefel und Kupfer zur Verfügung, deren Mengen wir nicht einfach halbieren können“, sagt Ecovin-Präsident Andreas Hattemer.

"Allerdings sehe ich noch Nachbesserungsbedarf“: Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) FOTO: BMEL/JANINE SCHMITZ/PHOTOTHEK

4. Wie reagiert die deutsche (grüne) Politik?

Umwelt mit Steffie Lemke als Ministerin, Landwirtschaft mit Cem Özdemir als Minister: Zwei Grüne führen die Ressorts, in deren Zuständigkeit die Umsetzung der EU-Verordnung liegen würde. Was überwiegt? Ökos für schärfere Öko-Regelungen? Oder Ökos für Öko-Regelungen mit pragmatischem Antlitz? Cem Özdemir argumentiert so (Öffnet in neuem Fenster): "Es ist gut und richtig, das europäische Pflanzenschutzrecht zu harmonisieren und ein klares, ambitioniertes Reduktionsziel für den Einsatz von Pestiziden vorzugeben. Allerdings sehe ich noch Nachbesserungsbedarf.“ Er hat einen konkreten Vorschlag, scheinbar im Sinne der Winzer:innen: „Bei den Regelungen zu den sogenannten sensiblen Gebieten sollten die EU-rechtlich gesicherten Schutzgebiete im Fokus stehen und spezielle nationale Schutzgebietskategorien wie die Landschaftsschutzgebiete ausgeklammert werden."

Für den ehemaligen Umweltminister Baden-Württembergs Franz Untersteller (Die Grünen), der 2020 im Südwesten das Biodiversitätsstärkungsgesetz eingeführt hat, ist das viel zu kurz gesprungen: "Das führt uns weinbaulich auch nicht aus dem Verderben!" 18 Prozent der Landesfläche in Baden-Württemberg würden unter "Natura 2000" fallen, den EU-Schutzgebieten. "Vieles davon findet sich in den Weinbergen wieder." In einem Gastkommentar für den WeinLetter fordert er von seinen Parteikollegen, Özdemir und Lemke, jetzt aktiv zu werden: "Sie müssen in Brüssel möglichst rasch auf die Barrikaden gehen." (siehe weiter unten oder direkt hier (Öffnet in neuem Fenster))

5. Und wie geht’s weiter?

Nach der Vorstellung der Verordnung hat die EU-Kommission Bürger:innen, Unternehmen und Verbände die Möglichkeit eingeräumt, das Ansinnen zu kommentieren. Das haben viele deutsche Landwirtschaftsbetriebe gemacht. Eine Auswahl (Quelle: meininger.de): „Ich bewirtschafte ein 10 ha großes Weingut seit 40 Jahren. Es sind 70 Prozent meiner Weinberge betroffen. Also werde ich meinen Betrieb aufgeben müssen.“ - „Die Umsetzung des geplanten Pflanzenschutzverbotes in Schutzgebieten, würde unseren Betrieb in seiner Zukunftsfähigkeit extrem beeinträchtigen bzw. diese komplett in Frage stellen.“ – „Durch das geplante Verbot sämtlicher Pestizide (auch die für Bio-Betriebe) würde für einen Großteil der Fläche in meiner Heimatgemeinde keine landwirtschaftliche Nutzung mehr möglich sein.“

Der Entwurf wird gerade im EU-Parlament verhandelt. Und zum Schluss gibt es „Trilog-Verhandlungen“. Hier sind folgende Institutionen vertreten: die EU-Kommission, das EU-Parlament und der Ministerrat. Und bis dahin? Gert Aldinger sagt, sogar bei jeder Weinprobe mit Gästen spreche er über diese EU-Verordnung. Er will bei jeder Gelegenheit aufklären - denn er weiß: „Das Thema ist noch gar nicht angekommen an der Basis, viele wissen das noch gar nicht.“

Kommentar: Das ist pures Gift für den deutschen Weinbau

"Hoher ökologischer Nutzen und wertvoller Lebensraum": Die Neckarterrassen sind ein Kulturgut des deutschen Weinbaus FOTO: FRANZ UNTERSTELLER

Ein Kommentar von Franz Untersteller, Minister a. D.

Sieht man einmal von dem ein oder anderen Hardcore-Lobbyisten ab, wird heute von niemand mehr ernsthaft bestritten, dass diverse Mittel aus der Giftküche der Chemiebranche zum Rückgang der Artenvielfalt bei Kleinlebewesen wie Insekten, Käfern oder Schmetterlingen beigetragen haben. Dass dies wiederum für die Bestäubung von Pflanzen ebenso gravierende Folgen hat wie für die Vogelwelt, der damit die Nahrungsgrundlage entzogen wird, ist vielfach wissenschaftlich belegt und beschrieben. Völlig zurecht wurden die Forderungen in den vergangenen Jahren immer lauter, dieser fatalen Entwicklung endlich Einhalt zu gebieten. Und die Politik hat an verschiedenen Stellen reagiert.

So sieht beispielsweise das als Reaktion auf das seinerzeitige Volksbegehren „Rettet die Bienen“ 2020 in Baden-Württemberg beschlossene Biodiversitätsstärkungsgesetz vor, den Einsatz chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel im Südwesten bis 2030 um 40 bis 50 Prozent zu reduzieren und deren Anwendung in privaten Hausgärten ebenso wie in Naturschutzgebieten zu untersagen. Ganz ähnlich lesen sich die Anforderungen in dem ein Jahr später auf Bundesebene in Kraft getretenen „Gesetz zum Schutz der Insektenvielfalt“.

Nicht mal der ökologische Weinbau kommt ohne Pflanzenschutzmittel aus

Ganz neue Töne schlägt nun die EU-Kommission mit dem Ende Juni vorgelegten Entwurf einer „Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln“ an. Mit dem Vorschlag wird die seit 2009 bestehende Pflanzenschutzmittelrichtlinie zu einer Verordnung umgewandelt, wodurch die darin enthaltenen Regelungen unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat Geltung erlangen. Und diese haben es in sich: Zwar möchte auch Brüssel den Pflanzenschutzmitteleinsatz – in dem Fall EU-weit - bis 2030 um 50 Prozent reduzieren, schlägt aber zur Umsetzung ein Anwendungsverbot für jegliche Art von Pflanzenschutzmittel in „empfindlichen Gebieten“ vor. Dies soll wohlgemerkt auch für biologische (!) Pflanzenschutzmittel gelten. Unter die Rubrik „ökologisch empfindliche Gebiete“ subsumieren die Autoren des Kommissionsentwurfs nicht nur die oben genannten Naturschutzgebiete, sondern auch Landschaftsschutz- und Wasserschutzgebiete, Vogelschutzgebiete und die sogenannten Natura-2000 bzw. FFH-Schutzgebiete.

Weinberge von Hedwig und Helmut Dolde rund um Neuffen: Die Schwäbische Alb ist ein Natura-2000-Gebiet - und Pflanzenschutzmittel wären verboten FOTO: FRANZ UNTERSTELLER

Intime Kenner des Weinbaus scheinen beim Abfassen des Entwurfs kaum beteiligt gewesen zu sein. Ansonsten wäre ihnen rasch aufgefallen, dass man in gleich mehrerlei Hinsicht weit übers Ziel hinausschießt. Nicht mal der ökologische Weinbau kommt ohne Pflanzenschutz aus, will er nicht widerstandslos vor den diversen Pilzkrankheiten, die Rebstöcke nun mal regelmäßig befallen, kapitulieren. Die Menge der hier aktuell eingesetzten Mittel wie Backpulver, Schwefel und Kupfer lassen sich auch nicht - wie von Brüssel gefordert - pauschal halbieren. Würden die EU-Vorschläge 1:1 Wirklichkeit, wäre dies in vielen Gebieten vermutlich gleichbedeutend mit dem Ende ausgerechnet des Ökoweinbaus.

Die Verbuschung der Flächen würde den Lebensraum seltener Arten zerstören

Mit rund 9.100 Hektar liegt in Baden-Württemberg rund ein Drittel der Rebflächen in diversen Schutzgebieten. Besonders betroffen wäre beispielsweise der seit langem in weiten Teilen als Vogelschutzgebiet ausgewiesene Kaiserstuhl. Aber auch weite Teile der Steillagen entlang des Neckars und dessen Seitentäler wie das Remstal, die verbreitet als Landschaftsschutzgebiete ausgewiesen sind, wären betroffen. In Rheinland-Pfalz gilt das gleiche wie für die Mosel samt der Riesling-Steillagen entlang der oberen Saar. Fast das gesamte Moseltal ist nämlich ebenfalls als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen. In Rheinhessen liegen rund 1.000 Hektar an Weinreben in diversen Schutzgebietszonen, in der Pfalz mit 2.200 Hektar mehr als doppelt so viel. In Franken müsste wegen der Schutzgebietsausweisungen auf rund der Hälfte des Weinanbaugebiets auf jeglichen Pflanzenschutz verzichtet werden.

Dass die teilweise Jahrhunderte alten, zigtausend Kilometer langen Trockenmauern in den terrassierten Weinberglagen von Mosel, Neckar und anderswo einen hohen ökologischen Nutzen haben und einen wertvollen Lebensraum für viele Wärme liebende und teilweise vom Aussterben bedrohte Pflanzen- und Tierarten darstellen, wurde von den Autoren des Entwurfs offensichtlich komplett ausgeblendet. Würde nämlich in der Folge der jetzt angedachten Regelungen die Bewirtschaftung dieser traditionellen Weinanbauflächen aufgegeben, wäre das Gegenteil dessen bewirkt, was man in Brüssel damit beabsichtigt. Die Verbuschung der Flächen und der ohne Bewirtschaftung drohende Zerfall der alten Trockenmauern würde vielen seltenen Arten ihren Lebensraum zerstören. Gleiches gilt für das - und hier wird's dann schin fast grotesk - im Green New Deal noch enthaltene Bestreben Brüssels, den Anteil nach ökologischen Grundsätzen bewirtschafteter Flächen auszuweiten.

Cem Özdemir muss in Brüssel auf die Barrikaden gehen

Bleibt zu hoffen, dass man in der weiteren Debatte um den Entwurf seitens der EU-Kommission gewillt ist erheblich nachzubessern. Übrigens: Die Betroffenheit der Weinländer Spanien, Frankreich und Italien ist aufgrund geringerer Schutzgebietsausweisungen hier wesentlich geringer. Die deutsche Politik – insbesondere das Umwelt- und Landwirtschaftsministerium - und hiesige Weinbauverbände müssen jetzt aktiv werden. Sie müssen in Brüssel möglichst rasch auf die Barrikaden gehen. Ansonsten bedroht die „Sustainable Use Regulation“-Verordnung die Existenz vieler traditionsreicher Weinbaubetriebe in Deutschland.

Franz Untersteller, 65, ist gelernter Landschaftsplaner. Er war zwischen 2006 und 2021 Abgeordneter der Grünen im baden-württembergischen Landtag, zwischen 2011 bis 2021 Minister für Umwelt, Klima u. Energiewirtschaft im Kabinett von Ministerpräsident Winfried Kretschmann. In dieser Funktion hat er im Südwesetn vor zwei Jahren das Biodiversitätsgesetz realisiert. Auch damals gab es diese Diskussion um ein Komplettverbot von Spritzmitteln in Schutzgebieten. Das war die Maximalforderung der Bienenschützer, die dies mit einem Volksbegehren erzwingen wollten. Sie haben davon Abstand genommen, weil Untersteller und Landwirtschaftsminsiter Peter Hauk (CDU) viele Forderungen der Naturschützer in das Gesetz der grün-schwarzen Regierung aufgenommen hatten. Nur nicht das Komplettverbot der Spritzmittel in Schutzgebieten. Aktuell ist Untersteller Globaler Botschafter für das weltweite Klima-Projekt Under2Coalition (Öffnet in neuem Fenster). Er ist zudem seit Januar freiberuflich als Unternehmensberater tätig. Er schreibt regelmäßig für den WeinLetter - hier ist er bei der Weinlese des Weinguts von Hedwig und Helmut Dolde (Öffnet in neuem Fenster) zu sehen. FOTO: FRANZ UNTERSTELLER

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