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Rückfahrt nach Bonn

Hits der Achtziger/Chaja Polak/Beigbeder und Tesson/Dark Hearts/Ottolenghi

Die Themen und der Sound der neuen Regierung wirken erschreckend veraltet, man könnte von Vintage-Politik sprechen, von einer Regression in die Jahre meiner Jugend, als die Hauptstadt der Bundesrepublik am Rhein lag.

Ganz fair ist der Vergleich nicht: Helmut Kohl förderte die Frauen in seinem Kabinett, etwa eine gewisse Angela Merkel. Er opferte die heilige D-Mark zugunsten eines fantastischen europäischen Projekts, das war der Euro. Was für ein Risiko! Kohl sorgte für ein Ende der Grenzkontrollen in Europa, nun werden sie wieder eingeführt.

Die neue Koalition navigiert per Rückblick. Da ist beispielsweise der Arbeitsbegriff: Länger arbeiten ist wieder angesagt, die Vier-Tage-Woche und die Work-Life-Balance werden lächerlich gemacht. Klassiker der bundesdeutschen Rhetorik also. Arbeit ist bekanntlich die deutsche säkulare Religion, darauf können sich immer alle einigen. In die Hände spucken und Gürtel enger schnallen sind Ansagen, gegen die sich nie irgendjemand hierzulande wehren wird. Genau so ist das mit der Rückkehr zur Kernkraft, dem Ausbau der Autobahnen und der Drangsalierung von Migranten – irgendein Publikum findet diese ollen Kamellen immer gut. Nichts gegen politische Traditionspflege, wie sie auch die SPD mit wieder anderen Dauerbrennern (Politik für die arbeitende Mitte machen!) betreibt, aber all dies illustriert das eigentliche Problem, statt es zu lösen: den Mangel an Ideen.

Heute ist die Dauer der Arbeit weit weniger entscheidend als ihre Qualität. Es ist ganz gleich, wie lange man am Schreibtisch sitzt – wenn der gute Einfall für ein Produkt, ein Konzept oder einen Begriff nicht kommt, bringt auch die Tausend-Stunden-Woche nichts. Für gute Ideen kann man einiges tun, aber eine Regulierung der Arbeitszeit trägt nichts dazu bei.

Immer wieder prägen neue Erfindungen und Anwendungen unseren Alltag - beispielsweise die einfach auszuleihenden elektrischen Scooter und Fahrräder - aber so gut wie nie wurden solche neuen Systeme oder Dinge in Deutschland entwickelt, geschweige denn hergestellt. Und das kann in einem Land, in dem alle von Kind an basteln und tüfteln eigentlich nicht sein. Deprimierenderweise sind sogar Rückschritte zu verzeichnen, etwa in der Solarbranche, wo Deutschland gut im Rennen war, heute ist das leider nicht mehr der Fall. Wichtige andere Felder werden gar nicht mehr bespielt. Die Ursache dafür ist, würde ich vermuten, auch eine zu strenge und traditionell gesinnte Führungs-und Entscheidungsstruktur in großen Unternehmen. Fehlervermeidung ist das Gebot der Stunde, da agieren Firmen wie die Parteien: zögernd, ungeschickt und irgendwie aus der Zeit gefallen. Lieber noch mal eine Runde mit bewährten Gedanken und Produkten etwas Gewinn einfahren, statt irgendwie aufzufallen. In Ermangelung von frischen Konzepten und neuen Ideen gibt es eben Programmwiederholung. Ich warte auf die Wiedereinführung des Testbilds ab 23 Uhr, die neuerliche Pflicht zum Tragen von Badekappen in öffentlichen Bädern und die hundertste Leitkultur-Debatte meines Lebens. Dauert nicht mehr lang, dann wird auch wieder Martin Heidegger zitiert.

Es ist gut, dass das Dogma der schwarzen Null überwunden wurde und zuversichtliche Investitionen wieder möglich sind. Aber wozu? Erhöhung des Militärbudgets, Senkung der Steuern in der Gastronomie und die Reparatur beschädigter Brücken sind gut, kommen aber als Gesamtkonzept nicht auf die Höhe der Zeit. Das neu aufgenommene Geld muss dazu dienen, die Kreativität und den zukunftsorientierten Wagemut zu fördern, also sind Kunst und Kultur die allerwichtigsten Branchen, die es nun zu entwickeln gilt. Zeiten, in denen bedeutende Künstlerinnen und Künstler auch über Deutschland hinaus bekannt wurden, waren auch Zeiten des allgemeinen Wirtschaftswachstums. Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft sind kommunizierende Röhren. Auf den kreativen Feldern und den entsprechenden Einrichtungen nun sogar Kürzungen vorzuschlagen, ist natürlich auch ein Weg: der völlig falsche.

Zeit für Neues.

Zu den komplizierten und bedrückenden Situationen dieser Tage zählt der Angriff der israelischen Armee auf das, was von Gaza noch übrig ist. Der Einsatz begann als Reaktion auf die Verbrechen und Morde des 7. Oktobers 2023, dient aber längst anderen Zielen als der Terrorbekämpfung. Die Hamas nutzt diese Lage für ihre Propaganda und kaum jemand fragt, was diese reiche Bewegung eigentlich dafür tut, ihre Landsleute zu schützen und zu schonen. Eine Freilassung der Geiseln und eine Kapitulation wären Signale, die die Gefahr für die Bevölkerung von Gaza verringern könnten, aber diesen Weg geht die Hamas nicht. Sie erhofft sich politischen Gewinn von der weltweiten Empörung über zivile Opfer. Darum ist die Bevölkerung in Gaza dem Kriegsgeschehen schutzlos ausgeliefert und hat Anspruch auf Hilfe. Unsere Informationen darüber sind spärlich und verzerrt: unabhängige Reporter dürfen nicht nach Gaza. In Israel gibt es derweil beträchtliche zivilgesellschaftliche Proteste gegen das Vorgehen des Militärs und die Vertreibungspläne der rechten Regierung. Und auch in Gaza lehnen sich Menschen gegen die Hamas auf. Der Kampf um Menschlichkeit und der Kampf gegen Antisemitismus gehören zusammen.

Hierzulande viel zu wenig bekannt ist die kluge und durchdachte Position von Chaja Polak, einer niederländischen Schriftstellerin und Überlebenden des Holocaust.

In einer bemerkenswerten Meditation - übersetzt von Bärbel Jänicke - schafft sie es, die verschiedenen Elemente der gegenwärtigen Krise freizulegen und einzeln zu betrachten. Wie kann es sein, fragt sie, dass im israelischen Fernsehen kaum etwas über das Leid in Gaza kommt und auf den arabischen Sendern und Nachrichtenseiten die Gräuel des 7.Oktobers keine Erwähnung finden – als ginge von Empathie eine Gefahr aus. Dann untersucht sie die bedrückende Wiederkehr eines virulenten akademischen Antisemitismus. Sie kritisiert die leichtfertige Verwendung von Begriffen wie Genozid und Holocaust - und kommt dann immer wieder auf das konkrete Leiden, die Erfahrungen der Menschen zurück, ihre eigenen zunächst einmal. Zweieinhalb war sie, als ihre Eltern abgeholt wurden, nur ihre Mutter sah sie nach dem Krieg wieder. “Kein Kind darf diese Angst durchleiden, allein auf bloßen Füßen am Fenster in der Nacht.” Sie überwindet in ihrem präzisen Text das Denken im Freund-Feind-Schema und führt ihre Leserinnen und Leser zu jener menschlichen Dimension zurück, aus der sich nach 1945 jene universalistische und humanistische Moral entwickelte, die heute so bedroht ist.

Das für mich beste literarische Format auf Video sind die Begegnungen von Frédéric Beigbeder im La Pérouse in Paris, direkt am Ufer der Seine. Dieses Mal empfängt er einen meiner französischen Lieblingsautoren, den waghalsigen Sylvain Tesson. Der verbringt viel Zeit damit, auf Dinge hinauf zu klettern, zu wandern und in der Welt herum zu streifen – sein Gastgeber besteigt höchstens mal Treppen, wenn sie in eine Bar führen. Zwei Irre, die über Bücher und das Leben plaudern, das ist das Format : eine Stunde Glück.

https://www.youtube.com/watch?v=Ki3d1e3IGak (Öffnet in neuem Fenster)

Frankreich hat islamistischen Terror in Paris, Nizza und an anderen Orten erlebt, aber auch sehr viele Terroristen exportiert. Ganze Cliquen und Familien machten sich auf die Reise nach Syrien oder in den Irak, um sich dem IS anzuschließen. Viele davon leben nicht mehr, aber manche sind noch im Nahen Osten in Haft - und ihre Kinder eben auch. Ihr Schicksal ist ein großes innenpolitisches Thema.

Zufällig habe ich jetzt eine Serie entdeckt, die von einer französischen Militäreinheit im Einsatz im Irak erzählt. Ihre Mission ist die Suche nach französischen IS-Kämpfern. Die Serie ist nicht ganz so gut wie das Bureau des Legendes (Öffnet in neuem Fenster)– aber spannende Action, Politdrama und l’ amour toujours sind im Programm enthalten und lohnen einen Blick. Staffel 2 ist auch schon im Angebot!

https://www.amazon.de/gp/video/detail/B0B8T4FLVY/ref=atv_sr_fle_c_srce7a38_1_1_1?sr=1-1&pageTypeIdSource=ASIN&pageTypeId=B0B8T7LFVC&qid=1747997385666 (Öffnet in neuem Fenster)

In diesen Zeiten wird selbst die Küche politisch. Ich habe hier oft Rezepte von Yotam Ottolenghi geteilt und möchte daher auch auf seinen Post zur Lage in Gaza hinweisen:

Respekt vor diesem Koch und großes Wohlwollen für seine Rezepte:

https://ottolenghi.co.uk/blogs/stories/spring-chicken-dishes (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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