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Queerer Kanon #5: Fire Island als Utopie, Litfest Homochrom & Neues

Liebe Leser*innen

der Sommer ist in vollem Gange, was läge da näher, als auf Reisen zu gehen?

Tobi wagt in dieser Ausgabe des Queeren Kanons eine literarische Reise nach Fire Island, einer Sandbank im Atlantik, die sich als queere Utopie großer Beliebtheit erfreut und seit fast einhundert Jahren eine illustre Schar an Literat*innen und Künstler*innen anzieht. 

Auch Marlon war unterwegs und hat unter anderem das Litfest Homochrom in Köln besucht. Dort wohnte er den Lesungen von Kevin Junk, Eli Levén und Stefan Hornbach bei und gab sich dem munteren queeren Festivaltreiben hin.

In unserer Rubrik Out & Proud stellen wir den zweiten Teil einer queeren Fantasy-Trilogie und die Neuausgabe eines trans Klassikers vor. Und zum Schluss haben wir wieder zwei Textempfehlungen für euch, die sich queeren Liebesromanen und einem Essayband von David Wojnarowicz widmen.

Wie immer freuen wir uns auf euer Feedback, eure Fragen, Vorschläge und Kommentare.

Tobi & Marlon

Zwischen Utopie und Vergänglichkeit: Fire Island in der queeren Literatur 

Vor der Küste Long Islands, den Launen des Atlantiks ausgesetzt, liegt eine schmale, langgezogene Sandbank, die wohl am treffendsten als eine Art Xanadu des queeren Amerikas bezeichnet werden kann. Die Rede ist von Fire Island. Einer schwullesbischen Utopie an der Grenze des Kontinents, in der sich zu gleichen Teilen Trugbild und Heterotopie destillieren und deren Name zutiefst mit Sonne, normschönen Körpern, Discomusik und enthusiastischem Cruising verbunden ist. 

Fire Island nimmt einen besonderen Platz in der queeren Kultur der USA ein. Irgendwo zwischen mythischer Überhöhung und neoliberal geprägter Realität. Spätestens seit den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Insel den Ruf eines hedonistischen Paradieses für vorwiegend schwule Männer erworben. Dabei handelt es sich streng genommen nicht um die ganze Sandbank. Denn Fire Island beherbergt auch ruhigere Gemeinden, in denen etwa heterosexuelle Familien und einige Künstler*innen ihre Sommer verbringen.

Wenn über das Eiland gesprochen wird, sind vor allem die beiden Gemeinden Cherry Grove und Fire Island Pines gemeint, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen und nur von einem Pinienwald getrennt sind. Letzterer erfreut sich tags wie nachts großer Beliebtheit unter Cruisenden und trägt daher den vielsagenden Beinamen Meat Rack (etwa 'Fleischregal' / 'Fleischtrog'). 

Im Sommer beherbergen Cherry Grove und Fire Island Pines zahlreiche wohlhabende queere New Yorker*innen, deren Inselleben zwischen Strand, privaten Parties in großzügigen Ferienhäusern, Tea Dances in den Bars und Clubs und Disconächten sowie Meat-Rack-Besuchen oszilliert.

Doch schon lange bevor die Sandbank ihren heutigen Status als Mekka der schwullesbischen New Yoker Mittelklasse erlangte, gastierten dort queere Autor*innen und Künstler*innen, wie Jack Parlett in seiner gerade erschienenen Literatur- und Kulturgeschichte Fire Island: Love, Loss and Liberation in an American Paradise (Öffnet in neuem Fenster) (2022) eindrucksvoll schildert. 

So verbrachte etwa das Maler*innenehepaar Margaret Hoening French und Jared French von 1937 an seine Sommer auf der Insel. Begleitet wurden sie von Paul Cadmus, ebenfalls Maler und Jared Frenchs Liebhaber. Neben einer ganzen Reihe an Gemälden schufen sie ein beeindruckendes fotografisches Werk, das unter dem gemeinsamen Decknamen PaJaMa (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht wurde.

In den Vierzigern erkoren die Dichter W. H. Auden, Stephen Spender und Tania Stern Cherry Grove zu ihrer Sommerresidenz und empfingen dort unter anderem Christopher Isherwood. Auden störte sich jedoch zunehmend an der schwulen Freikörperkultur, die am Strand von Cherry Grove gelebt wurde. Er fühlte sich durch den offensiv gelebten Körperkult an die faschistische Körperideologie der Nationalsozialisten erinnert. Im Jahr 1948 beschrieb er die Insel in seinem Gedicht  Pleasure Island

The sunset happens, the bar is copious / With fervent life that hopes / To make sense / but down the beach some / decaying / Spirit shambles away / Kicking idly at driftwood and dead shellfish / And excusing itself / to itself

(Ausschnitt aus W. H. Auden, Pleasure Island (1948))

1959, als Cherry Grove sich schon zu einem beliebten Treffpunkt für schwule und lesbische Gäste entwickelte, fand sich James Baldwin in der Gemeinde ein, um in Ruhe an seinem Roman Another Country (1962) zu arbeiten. Sechs Jahre später kehrte er zurück und traf durch Zufall auf den bekannten schwulen Dichter Frank O'Hara, mit dem er fortan im Austausch stand.

O'Hara reiste seit Mitte der 50er-Jahre regelmäßig auf die Insel und widmete ihr sein Gedicht A True Account of Talking to the Sun at Fire Island (Öffnet in neuem Fenster) (1958). 1966, ein Jahr nach dem Treffen mit Baldwin, wurde O'Hara nach einem Baraufenthalt in Fire Island Pines von einem Strandtaxi erfasst und starb im Alter von 40 Jahren.

Wenig später entwickelten sich Cherry Grove und Fire Island Pines zu dem (Sehnsuchts-)Ort, der durch unzählige popkulturelle Repräsentationen das Bild der meisten von Fire Island bestimmt. In Clubs wie dem Sandpiper und dem Ice Palace wurde Disco revolutioniert (Öffnet in neuem Fenster); die Tea Dances, die nachmittags begannen und von viktorianischen Teezeremonien inspiriert waren, wurden zur Tradition und das Image eines Paradieses des zügellosen queeren Hedonismus entstand. Beschrieben unter anderem von George Whitmore, dessen Ich-Erzähler (und Alter Ego) Danny Slocum das Treiben wie folgt zusammenfasst: 

It was disco, disco, disco - morning, noon, and through the sleepless night. As my dancing friend often says, disco should stay in the disco not be allowed to follow us into 'real life'. (George Whitmore, The Confessions of Danny Slocum (1980))

Diese Hochzeit Fire Islands, die in etwa mit den Stonewall Riots (1969) begann und Anfang der 1980er Jahre endete, wurde von zahlreichen Schriftsteller*innen literarisch eingefangen. Unter ihnen Larry Kramer, Edmund White und Felice Picano. Eine besondere Rolle nimmt dabei Andrew Hollerans Romandebüt Dancer from the Dance (1978) ein, das betörende Beschwörung und Schwanengesang zugleich ist. Hollerans poetische, wie wehmütige Prosa durchzieht bereits der Hauch der Vergänglichkeit, der das jähe Ende des sorglosen Lebens vorwegzunehmen scheint.

Denn mit dem Aufkommen von HIV und AIDS in den frühen 80er-Jahren legten sich Trauer und Schwermut wie ein Wolkenschleier über Cherry Grove und Fire Island Pines. Zahlreiche Stammgäste verschwanden, die Körper der Strandschönheiten wurden kritisch beäugt. Wer zu schlank war, galt als krank. Einige ließen nach ihrem Tod ihre Asche von Freund*innen am Strand verstreuen, um so Teil der Dünen zu werden, in denen sie ihre Sommer verbrachten. 

Die damalige Alltäglichkeit des Todes auf Fire Island spiegelt sich beispielsweise in David Barnetts 1991 veröffentlichter Kurzgeschichte The Times as It Knows Us wider. Darin diskutieren sieben Bewohner eines Ferienhauses einen Artikel sowie Nachrufe auf an AIDS Verstorbene in der New York Times und ergänzen diese um Details, die von der Times ausgelassen wurden, etwa die Todesursache der Verstorbenen.

Zu dieser Zeit kamen zunehmend mehr lesbische Frauen und Paare auf die Insel. Zwar urlaubten auch vorher schon Lesben auf Fire Island, etwa Patricia Highsmith, Jane Bowles und Carson McCullers, die 1950 Cherry Grove besuchten. Die Zahl der schwulen Sommerfrischler war aber ungleich höher. Viele der neu Hinzugezogenen kümmerten sich um ihre an AIDS erkrankten Freunde, wie Parker Sargent in seinem Film Grove Girls (Öffnet in neuem Fenster) (2019) dokumentiert.

Auch die fehlende Diversität in Cherry Grove und Fire Island Pines, die seit Langem von Schwarzen queeren Aktivist*innen kritisiert wurde, fand in den Achtzigern immer stärker literarisch Ausdruck. So bezeichnete Joseph Beam, ein enger Freund Essex Hemphills (Öffnet in neuem Fenster), das schwule weiße Bürgertum der Ostküste als "the incestuous literatti of Manhattan and Fire Island" (1986). Eine Kritik, die sich zwei Jahrzehnte später auch in Michael R. Jacksons mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Musical A Strange Loop (2019) wiederfindet. Jacksons Erzähler empfindet sich zwischen all den normschönen Strandflaneuren als "too fat and Black to live at all."

Mit der Entwicklung erster antiviraler Therapien Ende der 90er sowie der Verfügbarkeit von PrEP ab den späten 2010er-Jahren, wurde Fire Island wieder  zu einem Zentrum ausgelassenen queeren Lebens. Vielleicht noch stärker als zuvor wurde jedoch sichtbar, dass dieser Ort nicht allen offen steht. Die Preise für Unterkünfte sind stark angestiegen, die Glorifizierung athletischer Körper scheint nach wie vor in vollem Gang und eine stärkere Diversität nur in langsamer Entwicklung begriffen.

All diese Dynamiken thematisieren auch Joel Kim Booster und Andrew Ahn in Fire Island (2022), ihrer queeren Filmadaption des Jane-Austen-Klassikers Stolz und Vorurteil. Darin besucht der von Kim Booster gespielte Protagonist Noah, ein attraktiver asiatisch-amerikanischer Anfangdreißiger, gemeinsam mit seinen Freunden ein letztes Mal die Insel, bevor das Haus ihrer Gastgeberin verkauft wird. Auf dem Weg zu einer Privatparty kommentiert er süffisant aus dem Off: 

"A lot of people think you have to be successful, white and rich, with 7 percent body fat to vacation on Fire Island."   

Doch auch Ahn und Kim Booster verzichten schlussendlich nicht darauf, ihre Kamera bewundernd an den gestählten Körpern ihres Ensembles entlanggleiten zu lassen. Denn Noah verfügt zwar über begrenzte finanzielle Mittel und beeindruckende Bücherstapel (auf denen sich unter anderem Austen und Jeremy Atherton Lins Gay Bar (Öffnet in neuem Fenster) befinden), sieht aber aus wie ein Abercrombie-&-Fitch-Model. Sein Love Interest ist indes ein wohlhabender NGO-Anwalt, der sowohl einen muskulösen Körper als auch einen ausgewählten Literaturgeschmack aufbietet und sich jederzeit zu Diskussionen über Alice Munro hinreißen lässt. 

Die Attraktivität Fire Islands als (literarischer) Topos und (Handlungs-)Ort scheint indes ungebrochen. Die Kombination aus (vermeintlichem) queerem Paradies, freier Sexualität und Natur wirkt insbesondere vor dem Hintergrund der immer rigideren, queerphoben Gesetzgebung in einer Vielzahl US-amerikanischer Staaten mitunter wie ein Paralleluniversum. Doch kein Paradies ist von Dauer. Erst recht nicht, wenn es auf Sand gebaut ist. Klimawandel und Gentrifizierung bedrohen das prekär gelegene Eiland. Wahrscheinlich ist es aber gerade diese Vergänglichkeit, die die Anziehungskraft jenes Königreichs aus Sand ausmacht. (Tobi)

Homochrom Litfest 2022: Auf den Lesungen von Kevin Junk, Eli Levén und Stefan Hornbach

Von 7. bis 10. Juli fand das zweite Litfest Homochrom (Öffnet in neuem Fenster) in Köln statt. Im Rahmen von insgesamt 36 Lesungen und Podiumsgesprächen haben queere Autor*innen aus ihren Texten gelesen und über diese gesprochen. Ich hatte das Vergnügen, insgesamt drei der Lesungen besuchen zu können.

Kevin Junk: Fromme Wölfe

Am 09.07. hat Kevin Junk im Café Bach der Aidshilfe Köln aus seinem Debütroman Fromme Wölfe (Öffnet in neuem Fenster) gelesen, der im vergangenen Jahr im Querverlag erschienen ist. Der Episodenroman erzählt von einer Gruppe Freund*innen und Fremden, die an einem Wochenende in den queeren Clubs Berlins Liebe, Sex und Drogen erkunden (eine ausführliche Rezension findet ihr hier (Öffnet in neuem Fenster)).

Dieses spezielle, ungezügelte Lebensgefühl der Clubs war bei der Veröffentlichung 2021 in scheinbar weite Ferne gerückt. Immerhin befand sich ein Großteil der Welt aufgrund der Pandemie im Lockdown. Die Milieustudie des Romans hatte also bereits auch eine gewisse historische Dimension bekommen. Auch deswegen hat Junk die Lesung dafür genutzt, um den aktuellen Zustand der Clubs in Berlin zu reflektieren. Mit vorsichtigem Optimismus hat er von einem queeren Potential erzählt und Nichteingeweihten den Unterschied zwischen ‚Höhlen‘- und ‚Hütten‘-Clubs erklärt.

Auch der explizit dargestellte Drogenkonsum im Roman wurde thematisiert und das nicht nur, weil Junk seinen Schreibprozess als erfahrungsbasiert beschreibt. Das sorgte für ein paar Lacher, als ein paar Anekdoten aus dem Lektoratsprozess zum Besten gegeben wurden („Ist das wirklich so? Ist das recherchiert?“), ist aber tatsächlich ein ernstes Anliegen. Denn Fromme Wölfe ist vor allem als Versuch zu verstehen, eine Sprache für etwas zu finden, was das Leben vieler Menschen ausmacht, und damit das Tabu zu brechen.

Junk erzählte darüber hinaus auch von seinen literarischen Einflüssen, etwa Yukio Mishima, Audre Lorde und Klaus Mann sowie seinem sich im Entstehen befindenden zweiten Roman. Wer mehr von Kevin Junk lesen möchte: Im Herbst erscheinen die zweite Ausgabe der Lyrik-Anthologie Parabolis Virtualis (Öffnet in neuem Fenster) und im Verlagshaus Berlin der Gedichtband RE: re: AW: Liebe (Öffnet in neuem Fenster).

Eli Levén: Gib ihnen, wovon sie träumen

Direkt im Anschluss an die Lesung von Kevin Junk hat Eli Levén im Filmforum des Museum Ludwig aus seinem Debütroman Gib ihnen, wovon sie träumen (Öffnet in neuem Fenster) (aus dem Schwedischen von Ursula Giger) gelesen (sowohl Tobi als auch ich haben über den Roman hier (Öffnet in neuem Fenster), hier (Öffnet in neuem Fenster) und hier (Öffnet in neuem Fenster) geschrieben).

Auch Levén ging es darum, mit der Darstellung seines*r Protagonist*in Sebastian bzw. Ellie die Sprache für etwas zu finden, das es in dieser Form in der schwedischen Literatur noch nicht gab. Sein Roman erschien im Original bereits 2010. Levén wies daher darauf hin, dass die Art, wie über trans Menschen gesprochen wird, sich in den vergangenen zehn Jahren stark gewandelt hat. Und auch weil er einen Unterschied zwischen der Realität und der fiktionalen Darstellung einer Figur sieht, versteht er Sebastian als androgyn.

Der Roman war aber auch eine bewusste Rebellion gegen die Art, wie in der Literatur über Queerness geschrieben wurde. Levén war nicht an einer Darstellung interessiert, die sich auf eine positive Repräsentation beschränkt. Er wollte sowohl dem Glück als auch dem Schmerz im Leben einer queeren Person gleich viel Raum geben.

Auch die Verfilmung des Romans Something Must Break von Ester Martin Bergsmark wurde thematisiert. Der Film stand vor der besonderen Herausforderung, die besonders bildhafte Sprache des Romans filmisch umzusetzen. Von Anfang an war es erklärtes Ziel von Levén und Bergsmann die im Text beschriebenen Gerüche, Berührungen und Empfindungen visuell einzufangen.

Levéns zweiter Roman Hur jag skulle vilja försvinna (Wie ich am liebsten verschwinden würde, bisher nicht ins Deutsche übersetzt) ist 2020 erschienen und spielt in Berlin. Die Arbeiten an einem dritten Roman haben bereits begonnen.

Stefan Hornbach: Den Hund überleben

Den Abschluss des zweiten Homochrom Litfests bildete die Lesung von Stefan Hornbach, der aus seinem Debütroman Den Hund überleben (Öffnet in neuem Fenster) gelesen hat. Darin erzählt Hornbach von dem 24-jährigen Sebastian, der nach einer Krebsdiagnose nur noch ein Ziel hat: den Familienhund überleben.

Auch wenn der Roman biografische Elemente enthält, betonte Hornbach, dass die Geschichte als Ganzes vor allem von seinem Fachwissen inspiriert und er nicht daran interessiert gewesen sei, seine eigene Geschichte zu erzählen.

Ebenso wichtig war es ihm, eine hoffnungsvolle Geschichte zu erzählen: Der Protagonist wird durch seine Diagnose nicht nur zum Patienten. Er ist weiterhin ein Sohn, Freund, jemand, der sich verliebt. In einem ähnlichen Kontext ist vielleicht auch die queere Liebesgeschichte zu verstehen, die neben der Haupthandlung entlangläuft. Denn viele Kritiker*innen haben lobend hervorgehoben, dass Queerness ein selbstverständlicher Teil des Romans ist und nicht problematisiert wird.

Auch von der Entstehung des Romans hat Hornbach erzählt: Eine der ersten Szenen, die er geschrieben hat, war auch zugleich eine der zentralen Stellen des Romans – die Diagnose. Aus dieser Szene war zuvor bereits das Theaterstück Über meine Leiche entstanden, das sich durch seinen schwarzen Humor auszeichnet.

Für Hornbach bestand weiterhin der Wunsch, sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen und einen Roman zu schreiben. Dieser sollte sich im Gegensatz zum Theaterstück aber durch einen zurückhaltenden Humor auszeichnen.

Fazit

In ungefähr zwei Wochen werden die Mitschnitte der Lesungen auf Plattformen wie YouTube und Spotify veröffentlicht, sodass jeder, der nicht dabei sein konnte, eine Chance hat, die 36 Veranstaltungen nachzuholen. Um Spenden (Öffnet in neuem Fenster) wird allerdings gebeten, denn nicht zuletzt von diesen hängt ab, ob es eine dritte Ausgabe des Homochrom Litfests geben wird. Das Festival bietet einen dringend notwendigen Diskussionsraum für queere Literatur, aber auch einen Ort, an dem sich queere Autor*innen vernetzen können. Eine Fortführung ist also unbedingt wünschenswert. (Marlon)

Out & Proud: Aktuelles und Neuerscheinungen

Marlon James: Moon Witch, Spider King (Öffnet in neuem Fenster) (erschienen bei Riverhead Books)

Moon Witch, Spider King von Marlon James ist der zweite Teil der Dark-Star-Trilogie und die Fortsetzung zu Black Leopard, Red Wolf (2019; Schwarzer Leopard, Roter Wolf, aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner). Allerdings erzählt der Roman die gleiche Geschichte wie sein Vorgänger, jedoch aus einer anderen Perspektive. Wer also noch nicht dazu gekommen ist, den Auftakt der Trilogie zu lesen oder in der Zwischenzeit vergessen hat, was alles im ersten Band passiert ist, kann problemlos in die Geschichte einsteigen. Viele Kritiker*innen sind sich eh einig: Moon Witch, Spider King eignet sich besser als Einstieg in die Geschichte der Suche nach dem namenlosen Jungen.

In Black Leopard, Red Wolf war es Tracker, der seine Geschichte erzählt hat. Nun berichtet Sogolon, die wir in Trackers Bericht noch als Antagonistin kennengelernt haben. Dieser Perspektivwechsel konfrontiert Leser*innen mit der Frage, bei welcher der Figuren ihre Loyalitäten liegen. Und auch: Was ist die ‚Wahrheit‘? Denn beide Figuren widersprechen sich in ihren Erzählungen, beanspruchen für sich aber die Wahrheit.

Die Frage wird dadurch verkompliziert, dass sich Sogolons Geschichte über mehr als 170 Jahre erstreckt und dass sie sich als alte Frau Teile ihrer eigenen Geschichte erzählen lassen und darauf vertrauen muss, dass diese stimmt. Für sie ist Trackers Geschichte Teil eines größeren Ganzen, er taucht sogar erst auf den letzten 100 Seiten auf. Wir begegnen Sogolon als junges, noch namenloses, Mädchen, welches die Flucht vor ihren grausamen Brüdern gelingt, die sie für den Tod der Eltern verantwortlich machen. 

Über Umwege gelangt sie an den Königshof von Fasisi, wo sie in den Dienst der Prinzessin Emini tritt. Sie muss lernen die höfischen Intrigen zu navigieren und nicht in das Netz des Spinnenkönigs zu geraten. Sein Ziel ist die Kontrolle über Wahrheit und Erinnerung und somit das Schicksal des gesamten Landes.

Als 2019 der Auftakt des von afrikanischen Mythen inspirierte Fantasy-Epos erschien, wurde es oft als „afrikanisches Game of Thrones“ bezeichnet. Mit Band zwei scheinen diese Vergleiche endlich gerechtfertigt, konzentriert sich doch ein immenser Teil der Handlung auf die höfischen Intrigen. Die Geschichte des namenlosen Mädchens und seiner Verwandlung zu Sogolon und schließlich zur Moon Witch erinnert allerdings viel mehr an die von Marlon James selbst genannten Inspirationen: Die X-Men Comics.

Mit Tracker steht im Zentrum des ersten Bandes eine queere Figur. Das heißt aber nicht, dass Moon Witch, Spider King aufgrund des Perspektivwechsels nicht mehr queer gelesen werden kann. Das Buch ist auch eine Geschichte über weibliche Autonomie in einer von patriarchalen Strukturen regierten Welt. James Roman ist trotz allem voller queerer Momente und Völker, die sich einer binären Geschlechtsvorstellung widersetzen.

Moon Witch, Spider King liest sich wie eine Parabel über die aktuelle Debatte um den Wahrheitsbegriff. Das führt auch mitunter dazu, dass man Black Leopard, Red Wolf nach der Lektüre direkt noch einmal lesen möchte. Trotz seiner literarischen Ansprüche vollbringt der Fantasyroman es ganz nebenbei auch, auf über 600 Seiten durchgängig zu unterhalten. (Marlon)

Imogen Binnie: Nevada (Öffnet in neuem Fenster) (erschienen bei Picador Collection)

Imogen Binnies Debütroman Nevada hat inzwischen den Status eines modernen Klassikers in der queeren und trans Literatur. Ohne Binnies erstmals 2013 bei Topside Press (Öffnet in neuem Fenster) erschienenem Road Trip wäre etwa Torrey Peters Bestseller Detransition, Baby kaum möglich gewesen, wie Peters selbst in ihrem Blurb zu Protokoll gibt. Doch was genau macht Nevada zu dem kulturellen Fixpunkt, auf den sich eine ganze Reihe von trans Autor*innen beziehen?

Da wäre Imogen Binnies Protagonistin Maria, eine 29-jährige trans Frau, die an einem toten Punkt in ihrem Leben angekommen zu sein scheint. Ihre Beziehung mit Steph geht dem Ende entgegen, in ihrem Job in einer Buchhandlung reizt sie die Grenzen der Arbeitsverweigerung aus und auf ihren Radtouren durch New York bringt sie sich immer wieder in Gefahrensituationen.

Während sich ihr Blog zur Anlaufstelle vieler trans Frauen entwickelt hat, denen sie cool und abgeklärt die Welt erklärt, fehlen ihr im realen Leben klare Ziele und Mittel. Für die erwünschte OP hat sie nicht genügend Geld, alltäglichen Diskriminierungen begegnet sie mit Stoizismus , beim Sex mit Steph verfällt sie ins Schauspielern. Bis eine Reihe (un-)vorhersehbarer Ereignisse sie dazu zwingt, sich aus ihrer Stasis zu lösen.

Binnies temporeicher, humorvoller Roman verbindet Coming-of-Age mit Roadtrip. Marias Charme und Witz kann man sich ebenso wenig entziehen wie der Leichtigkeit mit der die Autorin komplexe Themen verhandelt. Darüber hinaus fängt sie das New York und die Internetkultur der frühen Zweitausender präzise ein. Die Neuauflage enthält zudem ein sehr informatives Nachwort von Binnie selbst, in dem sie unter anderem erklärt, warum sie sich bewusst gegen Transitions-Narrative entschieden hat. (Tobi)

Queere Freuden

Hier möchten wir auf Texte, Posts und andere Formate aus dem queeren Themenkosmos verweisen, die uns in den letzten Wochen beschäftigt haben.

Ob Alice Osmans Heartstopper, Casey McQuistons Red, White and Royal Blue oder Lily Lindons Double Booked - queere Liebesromane erfreuen sich derzeit großer Beliebtheit, konstatiert Ella Braidwood in ihrem Guardian-Artikel. Warum das so ist und welche Werke den Boom gestartet haben, erklärt sie kurzweilig. (Tobi)

https://www.theguardian.com/books/2022/jun/21/the-rise-of-lgbtq-romance-fiction (Öffnet in neuem Fenster)

Am 22. Juli jährt sich der Todestag von David Wojnarowicz zum 30. Mal. Wojnarowicz ist wohl in jeder Hinsicht das, was gemeinhin als Ausnahmekünstler bezeichnet wird. Sein Oeuvre umfasst unter anderem Fotografien, Performances, Gemälde und Filme. Am nähesten kommt man ihm aber in seinem schriftstellerischen Werk. Seine Essay-Sammlung Close to the Knives: A Memoir of Disintegration (1991) gilt zurecht als queerer Klassiker. 

Darin verbindet Wojnarowicz Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend mit queerem Aktivismus. Eine Auflistung derer, die während der zu seinen Lebzeiten wütenden AIDS-Krise untätig bleiben, steht neben einem berührenden Text über das Sterben seines langjährigen Freundes und ehemaligen Partners Peter Hujar. Wojnarowiczs Sprache ist direkt, lakonisch, seine Texte voller Wut, Trauer, Esprit und Einfallsreichtum. Close to the Knives entzieht sich klaren Zuschreibungen. Es ist ebenso ungeschönte Bestandsaufnahme der US-amerikanischen Gesellschaft und Politik der Achtzigerjahre, wie Zeugnis der Verzweiflung und Sorge.

Zum Erscheinen im Jahr 1991 hat David Futrelle einen kenntnisreichen, sehr aufschlussreichen Artikel über Wojnarowiczs Buch geschrieben, in dem er unter anderem aufzeigt, welche Ähnlichkeiten es mit James Baldwins A Fire Next Time aufweist. (Tobi)

https://chicagoreader.com/news-politics/reading-a-queer-in-america/ (Öffnet in neuem Fenster)

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