Zum Hauptinhalt springen

Queerer Kanon #6: New Yorker Potenzprobleme & neue Lyrik & Prosa

Liebe Leser*innen,

nach einer kleinen Sommerpause melden wir uns mit der sechsten Ausgabe unseres Newsletters zurück. Und direkt mit einer schönen Ankündigung: Am ersten Oktober findet die dritte Ausgabe der Literaturreihe Schreiben gegen die Norm(en)? statt, die wir mit einigen anderen sponsern werden.

Im Rahmen von Over the Rainbow stellen wir euch mit George Whitmores The Confessions of Danny Slocum einen in Vergessenheit geratenen schwulen Klassiker aus den frühen 1980er-Jahren vor. 

In unserer Out & Proud-Rubrik treffen Lyrik, Prosa und Tagebuch in Form der  Neuerscheinungen und aktuellen Titel von Anna Hetzer, Eva Baltasar und Hervé Guibert aufeinander. Und zum Schluss legen wir euch noch einen Podcast sowie die erste deutsche Soloausstellung des Künstler*innenkollektivs fierce pussy ans Herz.

Wie immer freuen wir uns auf euer Feedback, eure Fragen, Vorschläge und Kommentare.

Tobi & Marlon

Queerer Kanon? x Schreiben gegen die Norm(en)?

Wir freuen uns sehr, gemeinsam mit einer Reihe anderer Unterstützer*innen die dritte Ausgabe der Lesungs- und Gesprächsreihe Schreiben gegen die Norm(en)? präsentieren zu dürfen. Diese findet am Samstag, den 1.10. im Berliner Schwuz statt und wird von Andrea Schmidt und Kevin Junk moderiert. Auf der Bühne lesen und diskutieren werden Marlen Pelny, Jchj V. Dussel, Siham Karimi und Heike Geißler.

Die von Alexander Graeff initiierte Reihe startete im Dezember 2018. Der Fokus liegt auf dem empowernden, queerfeministischen, kritischen und experimentellen Schreiben der literarischen Gäst*innen. Im Gespräch mit wechselnden Moderator*innen werden vielfältige literarische Ansätze gegen (hetero-)normative und dominanzkulturelle Strukturen in Gesellschaft und Literaturbetrieb diskutiert.

Wir stehen seit längerem mit dem Team von Schreiben gegen die Norm(en)? im Austausch, da wir uns im Rahmen unseres Newsletters häufig mit denselben Fragen beschäftigen. Umso mehr freuen wir uns, das Team unterstützen zu können. Tickets für die Veranstaltung können hier (Öffnet in neuem Fenster) erworben werden. Darüber hinaus wird es einen Livestream geben.

Over the Rainbow: Queere Klassiker

George Whitmore: The Confessions of Danny Slocum

Der augenzwinkernde Titel von George Whitmores Debütroman lässt es schon erahnen: sein Protagonist Danny hat Probleme, zum Höhepunkt zu kommen. Dieses Dilemma begleitet ihn seit dem unglücklichen Ende seiner letzten Beziehung. Als gutaussehender, anfangdreißigjähriger schwuler Mann im New York der späten 70er-Jahre mangelt es ihm nicht an potentiellen libidinösen Abenteuern. Doch seine gelegentlichen Dates sind alles andere als angetan, wenn Danny am Ende des Beischlafs nicht zum Kommen imstande ist.

Rat und Hilfe sucht er bei seinem Therapeuten Virgil. Der hat einen Therapieansatz entwickelt, den man vermutlich nicht im Behandlungshandbuch finden wird: Er bringt Danny mit dem etwa zehn Jahre jüngeren Vorstädter Joey zusammen, der am selben Problem leidet. Gemeinsam sollen sie sich einmal die Woche treffen und gegenseitig ihre Körper erkunden. Von Woche zu Woche tasten sie sich sprichwörtlich weiter hervor, in der Hoffnung gemeinsam ihr Problem lösen zu können. 

Doch - wie so häufig bei sexuellen Problemen - ist der Auslöser keineswegs körperlicher Natur. Vielmehr geht es um queere Scham, fehlende Akzeptanz seitens Familie und Gesellschaft sowie Bindungsängste. Denn in Danny Slocums schwulem New York gibt es zwar jede Menge schnellen Sex, Nähe und Intimität finden sich aber eher selten; meist noch in Freundschaften.

George Whitmores schwuler Klassiker besticht durch seine Mischung aus Humor und Ernst. Trotz der Therapiesituation pathologisiert er seinen Protagonisten nicht. Im Gegenteil, Danny bleibt als Erzähler nahbar, witzig und komplex. Das Tempo ist schnell, auch aufgrund der vielen, temporeichen Dialoge, die aus dem Roman zeitweise eine Art sex-comedy of manners machen.

Unterstützt wird dieser Eindruck durch Dannys namenlose Freunde, die alle Stellvertreter*innen für unterschiedliche Gruppen und Positionen zu sein scheinen. Vom linken political-friend, der den Kapitalismus ablehnt, bis zum besser betuchten Fire-Island-friend (Öffnet in neuem Fenster). Selbstredend finden wir früher oder später Ersteren in Gesellschaft von Letzterem wieder.

Was den Sex angeht, ist Whitmore zwar explizit, aber nie pornographisch. Schnell wird klar, dass es sich um ein sex-positives Buch handelt, das im sexuellen Akt sowohl das intime Aufeinandertreffen unterschiedlicher Personen als auch den schnellen Triebabbau sieht. Und aus dem schlussendlich die Erkenntnis reift, dass Sex immer politisch ist. Vor allem wenn er unter marginalisierten Minderheiten praktiziert wird.

Whitmores Roman erschien erstmals 1980, kurz vor dem Ausbruch der AIDS-Epidemie in New York. Das so präzise geschilderte schwule New York, durch das sich Danny Slocum bewegt, sollte sich in den Achtzigern radikal verändern. Whitmore selbst nahm 1985 in seinem Nachwort für eine Neuauflage darauf bezug: 

"Danny might be wrestling with some weighty ironies, but he will never have to face the conundrum of sex and death that confronts us at present."

George Whitmore war Teil des losen schwulen Autorenkollektivs The Violet Quill zu dem unter anderem auch Edmund White, Felice Picano und Andrew Holleran gehörten. Whitmores Debütroman ist in gewisser Hinsicht ein Bruder im Geiste von Hollerans ungleich bekannterem Klassiker Dancer from the Dance. Beide schildern dasselbe New York. Doch während sich Hollerans Roman schon wie ein Schwanengesang liest, ist Whitmores Danny Slocum optimistischer und viel stärker im Moment verhaftet.

George Whitmore lies seinem Debüt zwei weitere Romane sowie einige Gedichtbände und Theaterstücke folgen. Im Jahr 1989 starb er im Alter von 43 Jahren an AIDS.

The Confessions of Danny Slocum ist derzeit nur antiquarisch oder in verschiedenen Bibliotheken erhältlich und wurde nicht ins Deutsche übersetzt. (Tobi)

Out & Proud: Aktuelles und Neuerscheinungen

Eva Baltasar: Boulder (aus dem Katalanischen ins Englisch übertragen von Julia Sanches, erschienen bei And Other Stories (Öffnet in neuem Fenster))

Eva Baltasars namenloses Roman-Triptychon, dessen zweiter Teil Boulder nun in der Englischen Übersetzung aus von Julia Sanches erschienen ist, gehört vermutlich zum spannendsten, was die europäische queere Literatur in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Alle drei Bände eint, dass sie jeweils von einer lesbischen Protagonistin erzählt werden. In Spanien ist mit "Mamut" unlängst der Abschluss des Triptychons der katalanischen Lyrikerin erschienen. 

Während wir in Permafrost (Öffnet in neuem Fenster) eine namenlose Erzählerin von der Pubertät bis in ihre frühen Vierziger begleiten, scheint die Protagonistin von Boulder zu Beginn in ihren Dreißigern zu sein. Nach einigen Jobs, in denen sie es immer nur kurz aushielt, arbeitet sie in der Küche eines Frachtschiffs, das die chilenische Küste abfährt. Was anderen trist erscheinen mag, ist ihr Ideal: ein Leben nahe dem Nullpunkt. Ständig in Bewegung, jedoch ohne festes Ziel, die Arbeit so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie wie eine Verlängerung des Körpers wirkt.

Bei einem Landgang trifft sie auf die ehrgeizige isländische Geologin Samsa, die für einen Ölkonzern in Chile arbeitet. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich sofort eine starke körperliche Anziehungskraft. Wann immer die Erzählerin an Land ist, treffen sie sich im selben Hotel und erkunden einander. Während Erstere sich gut mit der Fernbeziehung arrangieren kann, zieht es Samsa zurück in ihr Heimatland, der Karriere wegen. Die Erzälerin folg ihr. Doch das Leben in Island fällt ihr zunächst schwer. Zwar liegt das Meer vor der Haustür, sie scheint jedoch gestrandet.

Ihr Alltag wirkt immer festgefahrener, als wäre das Ziel einer Reise erreicht, die sie nie geplant hatte, anzutreten. Als Samsa sich schließlich entscheidet, ein Kind zu bekommen und ein Haus kauft, beginnt ein Entfremdungsprozess. Samsa scheint in ihrer Mutterschaft auf eine Art aufzugehen, welche die Erzählerin irritiert, wenn nicht gar ausschließt. Sie muss sich zwangsläufig die Frage stellen, welche Rolle sie selbst übernehmen will.

Boulder erzählt auf faszinierende Weise vom Spannungsfeld zwischen partnerschaftlichen Kompromissen und Selbstverwirklichung, vermeintlich normativen Strukturen und eigener Handlungsmacht. Der idealisierte Nullpunkt der Erzählerin lässt sich auf Dauer nicht mit der relativ konservativen Beziehungsvorstellung ihrer Partnerin vereinbaren. Dabei scheint es keinerlei spürbaren Druck von außen zu geben. Keine Eltern oder Freund*innen, die mit ihren Erwartungshaltungen an die beiden herantreten; keinerlei Diskriminierungen oder Ausgrenzungen.

Baltasar benennt die Queerness ihrer Protagonistin folglich nicht und wertet auch die Entscheidungen Samsas nicht. Man kann sich die Frage stellen, ob die Erzählerin in dem Sinne queer ist, als dass sie sich festen Zielen entzieht. Denn Ziele, so merkt sie anfangs an, vernichten jede Reise, bevor sie überhaupt angetreten wurde. Sie hat kein Interesse an singulären Erzählungen, was der Grund dafür sein könnte, warum sie so irritiert von Samsas Baby-Spielgruppen und Routinen ist. Doch auch Samsa verfügt über Handlungsmacht, ihre Entscheiung für Mutterschaft und Karriere erscheint bewusst.

Es ist das große Verdienst der Lyrikerin Baltasar, dass sie all diese Fragen triggert, ohne sie selbst verhandeln zu müssen. Ihre Prosa ist ungemein dicht, erotisch, durchsetzt von präzisen, manchmal fast schmerzhaften Bildern und dem Begehren der Erzählerin, das sie manchmal wie eine Welle  zu erfassen scheint. Auf gerade einmal 105 Seiten erschafft die Autorin so - auch dank der großartigen Übersetzung von Julia Sanches - einen hypnotischen Sog, dem man sich ganz und gar hingeben möchte.

Im kommenden Jahr erscheint der Abschluss von Baltasars Triptychon, Mamut, erneut in der Übersetzung von Julia Sanchez auf Englisch. Darüber hinaus soll mit "Permafrost" der erste Band in deutscher Übersetzung beim Trabanten Verlag veröffentlicht werden. (Tobi)

Hervé Guibert: The Mausoleum of Lovers, Journals 1976-1991 (aus dem Französischen ins Englische übersetzt von Nathanaël, erschienen bei Nightboat Books (Öffnet in neuem Fenster))

Wer in den Tagebüchern Hervé Guiberts so etwas wie objektive und verifizierbare Fakten erwartet, wird sich unweigerlich in den Träumen, alltäglichen Beobachtungen und Textfragmenten zu Romanideen verlieren. Die Tagebucheinträge sind unmarkiert, die Übergänge also fließend. Und so beginnt – wie auch in den autofiktionalen Texten Guiberts – das Spiel mit den Leser*innen. Ein Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion.

Guibert hat seine Tagebücher zwischen 1976 und 1991 geschrieben. Sie beginnen als Liebesbriefe an den bisexuellen Thierry Jouno (im Tagebuch lediglich ‚T.‘), dessen Partnerin Christine Guibert später auch heiratet. Sie ist es, die Ruhe in die komplizierte Beziehung der beiden Männer bringt. Gemeinsam mit den beiden Kindern von Thierry und Christine bilden sie eine queere Wahlfamilie.

The Mausoleum of Lovers wird seinem Namen gerecht: Denn genau wie eine Grabstätte ermöglichen die Einträge es Guibert, seine Toten zu vergessen, sie zu vergraben und einzusperren – und bei Bedarf ihre Knochen hervorzuholen und ihrer zu gedenken. Viele der Einträge finden sich palimpsesthaft auch in den Romanen Guiberts wieder – beispielsweise seine Eltern und seine Tanten Suzanne und Louise, seine Beziehung zu Thierry Jouno und dem Stricher Vincent, AIDS, Schreiben als Verrat – sie erstrecken sich auch über seine gesamte schriftstellerische Karriere.

Für Nichteingeweihte wird es schwierig, sich in den Tagebüchern zurechtzufinden, weil sie kaum Kontext bieten. Für Fans und Kenner von Guiberts Werk ist The Mausoleum of Lovers allerdings Pflichtlektüre. (Marlon)

Anna Hetzer: Pandoras Playbox (erschienen im Verlagshaus Berlin) (Öffnet in neuem Fenster)

Nach Zwischen den prasselnden Punkten (2016) und Kippbilder (2019) ist Pandoras Playbox der nunmehr dritte Gedichtband von Anna Hetzer, erschienen im Verlagshaus Berlinund illustriert von Katja Hoffmann.

Pandoras Playbox ist Wissensproduktion, ist Archivarbeit, ist Kanonisierungsprozess. In drei Teilen – Ars, Anatomie und Eros – widmet sich Anna Hetzer den vergessen Frauen der Geschichte und der Mythen und bricht mit altbekannten Narrativen und weitet damit unseren Blick auf die Welt.

Die Gedichte loten lesbisches Begehren aus, treten in den Dialog mit Virginia Woolfs Orlando oder fragen, wie Maria und Kind ohne Hebamme die Nacht überleben konnten. Aber egal, welchem Sujet Hetzer sich widmet, ihre Gedichte sind stets wütend, seltsam zärtlich, erotisch und wunderbar humorvoll. (Marlon)

Queere Freuden

Hier möchten wir auf Texte, Posts und andere Formate aus dem queeren Themenkosmos verweisen, die uns in den letzten Wochen beschäftigt haben.

Der Queere Kanon?  entstand vor einem Jahr im Rahmen eines Instagram Lives zum Thema HIV- und AIDS-Literatur (hier (Öffnet in neuem Fenster) könnt ihr es euch ansehen). Darin erläuterten wir dieses spezifische queere Genre, ausgehend von der Neuauflage von Hervé Guiberts Klassiker Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat (Öffnet in neuem Fenster) (1991/2021, aus dem Französischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel). In der aktuellen Episode des Fabulari-Podcasts, spricht Margot Lachkar mit dem Literaturwissenschaftler Dr. Daniel Fliege am Beispiel Guiberts über HIV und AIDS in der französischen Literatur. 

https://fabulari.podigee.io/11-neue-episode (Öffnet in neuem Fenster)

Between Bridges (Öffnet in neuem Fenster), eine von Wolfgang Tillmans gegründete Berliner Non-profit Kunstgalerie, zeigt die erste Solo Show des New Yorker Künstler*innen-Kollektivs fierce pussy. Das Kollektiv entstand 1991 aus dem New Yorker ACT UP Chapter und bestand aus queeren Frauen, die unter anderem mit Hilfe von Kollagen und Postern auf die fehlende Sichtbarkeit lesbischer Frauen, Misogynie und Homophobie aufmerksam machen wollten. Ihre Kunst ist unter anderem gekennzeichnet durch ihre Unmittelbarkeit, die Begrenztheit der Mittel und auch die direkte Kritik an homophoben Politiker*innen. Auf der Website des Kollektivs findet sich ein aufschlussreiches Porträt der Gruppe, das im Kunstmagazin ARTFORUM erschien. 

https://fiercepussy.org/ (Öffnet in neuem Fenster)

Im Juli jährte sich David Wojnarowiczs Todestag zum 30. Mal. Der Aktivist, Künstler und Schriftsteller wurde in Deutschland mit Ausnahme weniger Ausstellungen und einer sehr schwer aufzutreibenden Überstzung seiner Essay-Sammlung Close to the Knives bisher kaum rezipiert. Dies scheint sich gerade zu ändern, wie etwa das schöne, ausführliche Portrait, das ihm Isabella Caldart bei 54books widmet, zeigt. 

https://www.54books.de/history-keeps-me-awake-at-night-leben-tod-und-afterlife-von-david-wojnarowicz/ (Öffnet in neuem Fenster)

Kategorie Newsletter

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Queerer Kanon? und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden