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Das Loch, wo mal eine Wunde war

Morgen ist die Bundestagswahl. In einem Gespräch mit Sarah Bosetti vor wenigen Tagen bezeichnte FDP-Chef Christian Lindner den Artikel eins des Grundgesetzes, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, als linksextrem.

Nimm dir bitte ein paar Sekunden und lass das einwirken. Stell dir bitte die Dimension des Rechtsrucks vor, die so groß sein muss, dass das Grundgesetz und die Menschenwürde als linksextrem wahrgenommen werden können. Stell dir vor, wie weit rechts ein Mensch dafür stehen muss.

Das einzige Mittel gegen den Rechtsruck liegt links. Ich werde morgen, den 23. Februar, Die Linke wählen. Warum eine Stimme für Die Linke nicht umsonst ist und nicht an Nazis geht, erklärte ich vor kurzem in einem Reel auf Instagram (Öffnet in neuem Fenster).

Der 19. Februar 2025 war der fünfte Jahrestag des rassistischen Terroranschlags in Hanau, bei dem neun Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden. Ihre Namen: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Bundesweit gab es viele Kundgebungen, Medien berichteten, zivilgesellschaftliche Initiativen erinnerten. In Hanau bei der Gedenkveranstaltung hielt auch die Mutter von Sedat Gürbüz eine Rede und erinnerte an die Versäumnisse und die Verantwortung der Stadt Hanau: Wären die Briefe des Täters (als Ankündigung) ernstgenommen, und wäre der Notausgang am Tatort nicht gesperrt worden, wären die neun Menschen heute am Leben, wies Emis Gürbüz hin. Und jetzt sagt die Koalition aus SPD, CDU und der FDP, die in Hanau regiert, keine Gedenkveranstaltungen mehr zuzulassen. Zudem greifen die Koalitionspolitiker*innen Emis Gürbüz persönlich an, wie die taz-Korrespondentin berichtet (Öffnet in neuem Fenster).

Wie unverschämt, wie ekelhaft diese Angriffe sind, wie persönlich beleidigt die deutschen Politiker*innen. Wie sie auf dieser Weise jegliche Verantwortung von sich weisen, indem sie Hinweise auf politische Versäumnisse als Hass und Spaltung darzustellen versuchen. Und daraus den Strick zu drehen, Gedenkveranstaltungen künftig zu untersagen, die Erinnerung zu verhindern, dafür sorgen zu wollen, dass wir vergessen. Was für ein Affentheater.

Ohnehin fühlt es sich seltsam an, mitten im Wahlkampf an Hanau zu denken und zu erinnern, weil das einzige Wahlkampfthema Abschiebung ist. Oft heißt es „innere Sicherheit“ oder „Migration“, aber eigentlich sind es inzwischen nur noch Dogwhistles, die das Wort Abschiebung verkleiden und ersetzen sollen, sie haben nur noch eine Bedeutung.

In diesem Wettkampf zwischen SPD, Grünen, FDP, CDU und AfD darum, wer besser, effektiver, mehr und schneller abschieben kann, gehen demokratische Werte unter. Reale Probleme und mögliche Lösungen ersticken. Menschen werden im Stich gelassen. Antifaschismus verliert.

Unweigerlich ergibt sich daraus die Frage: Wer gewinnt? Darüber dachte ich auch in meiner aktuellen Campact-Kolumne (Öffnet in neuem Fenster) nach. Die Fragezeichen durch die Häufung der Terroranschläge, die so kurz vor der Bundestagswahl ausgeübt werden, führen zu Spuren nach Russland und in die USA, zu Putin und Elon Musk. Mehr Stimmen für die AfD bedeutet nämlich mehr Macht für den Faschismus überall.

Ich lebe in zwei Ländern, das bedeutet in zwei Welten zu leben. Am 19. Februar, während ich versucht hatte, herauszufinden, wie ich mich überhaupt fühle, kam aus der Türkei eine fürchterliche Nachricht. In der Nacht war die Hütte von Ülker Güleryüz, die ihre Nachbar*innen Necla Teyze nannten, gebrannt. Sie, ihre Hunden und Katzen überlebten nicht.

Worum geht es? Am Tag zuvor hatten die Angestellten der lokalen Tierheime versucht, der 82-jährigen Frau aus Altindag bei Ankara die Hunde zu nehmen. Sie wehrte sich und konnte ihre Hunde vor dem sicheren Tod in staatlichen Tierheimen Ankaras retten, in denen sie teilweise so vernachlässigt werden, dass sie verhungern beziehungsweise aus Verzweiflung anfangen, sich gegenseitig zu essen.

Die Aufnahmen von Necla Teyze, in denen sie sich vor den Tierheimwagen stellt und später ihren liebsten Hund Bambam umarmt und küsst, kursierten am selben Tag im Netz. Das löste eine Hetzkampagne aus. Eine faschistoide Organisation, die sich „Verein für sichere Straßen“ nennt, für die Quälerei und Tötung von Tieren und gegen Menschen, die sich für Tiere einsetzen, Stimmung macht, setzte die Frau auf die Zielscheibe. Daraufhin regneten Gewaltandrohungen und -aufrufe, dass sie geschlagen, erschossen und sogar verbrannt werden solle. Sie überlebte diese Nacht nicht. Die Behörden gehen den Brandursachen nach.

Sie werden nicht fündig. Und selbst wenn sie fündig werden, wird es keine Konsequenzen geben. Kein Mensch kann sich unter diesen Umständen vorstellen, dass dieser Brand natürliche Ursachen hätte. Aber selbst wenn. In einem Land, in dem das Leben absolut keinen Wert hat, kostet die Vernichtung dessen auch nichts.

Es tut weh, es macht wütend und so dermaßen traurig, auch wenn man diese bittere und unerträgliche Realität längst akzeptiert hat. Es lässt nicht kalt. Es vertieft nur das dunkle Loch im Herzen, wo mal eine Wunde war.

Habt ihr die neue Aktion von dem Zentrum für politische Schönheit gesehen? Es zeigt das KI-generierte Bild von Friedrich Merz und Alice Weidel, die sich einen leidenschaftlichen Zungenkuss geben. Eine Überschrift sagt: „Die Grenze ist nicht mehr sicher!“ Mehr dazu könnt ihr im Netz (Öffnet in neuem Fenster) lesen.

Ich finde diese Aktion unerträglich und ehrlich gesagt, sogar körperlich ekelerregend.

Ich will mich hier nicht inhaltlich mit der Botschaft, dass die Grenze zwischen der Union und der AfD erst seit Merz nicht mehr sicher sei, auseinandersetzen. Ich sehe es anders, ich finde die Ideologie der AfD ist der Ideologie der Union entsprungen, aber ich möchte nicht tiefer darauf eingehen, weil das den Rahmen sprengen würde und gar nicht das ist, was mich an dieser Aktion stört.

Die Inszenierung ist nicht so etwas wie der Bruderkuss auf der Berliner Mauer, sondern ist leidenschaftlich erotisch. Das Problem dabei ist nicht die Erotik per se, sondern die fehlende Kreativität, die eine Frau und ein Mann nicht in irgendeinem anderen Kontext abbilden lässt. Es ist heteronormative Kackscheiße und zielt vollständig an der Sache vorbei. Ein leidenschaftlicher Kuss ist eine schöne Sache. Und ihn in so einem Kontext zu zeigen wirkt dem Kuss gegenüber verräterisch und dem Faschismus gegenüber verharmlosend.

Es geht bei der kommenden Bundestagswahl um eine reale Gefahr des Faschismus. Diese Plakataktion reduziert diese reale Gefahr auf einen Wortwitz. Die Überschrift „Die Grenze ist nicht mehr sicher“ ist mehrdeutig. Sie weist auf die fehlende Grenze zwischen der AfD und der Union hin und spielt dabei auf die nationalen Grenzen Deutschlands an, die ja das Wahlkampfthema der Bundestagswahl sind. Im Zusammenhang mit dem Kuss allerdings, spielt die Überschrift auch auf die Orientierung Weidels an, und das ist etwa das sinnloseste, was man thematisieren könnte. Menschen werden nicht faschistisch oder antifaschistisch aufgrund ihrer Identität, aufgrund dessen, wer sie sind. Faschismus ist kein Sein, sondern ein Tun. Daran liegt es, dass man es besiegen und ersetzen kann. Sonst wären jene Gesellschaften, in denen es einmal Faschismus gab, verdammt, für immer weiter mit Faschismus zu leben. Allerdings wissen wir ja, dass das nicht so ist. Und wenn es so gewesen wäre, wäre Antifaschismus ja auch absolut sinnlos und wir könnten den Laden gleich dichtmachen.

Hier teile ich mal ein paar März-Termine:

05.03.2025, VHS Herten
Lesung und Diskussion
19 Uhr, Glashaus Herten

19.03.2025, Wien
Lesung und Gespräch
19 Uhr, Hauptbücherei Wien
Moderation: Kassandra Mona Steiner

20.03.2025, Wien
Lesung und Gespräch
18:30 Uhr, Buchhandlung Librería Utopía

21.03.2025, Graz
Lesung und Gespräch
17:30 Uhr Infocafé palaver im Frauen*service Graz

24.03.2025, Graz
Lesung und Gespräch
18 Uhr, Stadtbibliothek Graz

25.03.2025, Linz
Lesung und Gespräch mit Segal Hussein
18 Uhr, DH5

28.03.2025, Innsbruck
Lesung und Gespräch
19 Uhr, Öffentliche AEP Frauenbibliothek

Ich finde es total interessant, dass ich als deutsche Autorin noch keine Lesereise in Deutschland hatte, aber jetzt eine, auch noch ganze Einundeinhalbjahre nachdem mein Buch erschienen ist, in Österreich haben werde. Ich freue mich dermaßen, weil der Rechtsruck leider in verschiedenen Ländern mehr oder weniger parallel stattfindet und wir darüber reden müssen. Und ich freue mich auf euch und unsere Gespräche!

Das war`s für Februar. Du kannst mich und meine Arbeit unterstützen, indem du diesen Newsletter auf deinen Kanälen postest, eine Mitgliedschaft hier auf Steady (Öffnet in neuem Fenster) abschließt oder mein Buch kaufst (Öffnet in neuem Fenster), liest, zitierst und weiterempfiehlst.

Bis März ganz liebe Grüße

Sibel Schick

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