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Migrantische Pflegepersonen in Österreich

Hallo ihr Lieben,

wie ihr wisst, musste ich vor einigen Monaten die Saure Kolumne leider abschaffen. Das war leider notwendig, weil meine Mitgliedschaften sehr tief gesunken sind und ich mir die aufsuchende Betreuungs- und Redaktionsarbeit der Autor*innen, und das Honorar, das ich ihnen zahlte, nicht länger leisten konnte. Diesmal erscheint aber wieder ausnahmsweise eine Saure Kolumne und ich freue mich sehr!

Im März war ich auf Einladung des Festivals We Won’t Shut Up (Öffnet in neuem Fenster) in München, um über Care-Arbeit zu diskutieren. Da lernte ich auch eine Person von der österreichischen Initiative IG24 kennen, die am Runde saß und sehr wichtige Informationen über den Arbeitsalltag von Wanderarbeiterinnen, die in der häuslichen Pflege tätig sind, lieferte. Das war mir alles so wichtig, dass ich unbedingt möchte, dass ihr hört, was die Person zu erzählen hat. Deshalb bat ich die Initiative, diesen Monat die Saure Kolumne zu schreiben. Im Detail wird darin geschildert, wie in einem Land der Europäischen Union die regelrechte Ausbeutung migrantischer Frauen legalisiert wird, und wie es durch Strukturen verhindert wird, dass sie sich gegen Rechtsverletzungen im Arbeitskontext wehren können. Es ist eine Schande, dass wir das zulassen.

In der Kolumne wird mit Doppelpunkt gegendert. Ich selbst nutze das Sternchen, bin aber der Weise der Person, die den Text geschrieben hat, treugeblieben, aus Rücksicht.

Ganz unten findet ihr wichtige Infos zu IG24. Folgt ihrer Arbeit und wenn ihr könnt, spendet etwas. IG24 leistet sehr wichtige Arbeit ohne jegliche staatliche Unterstützung (wieso soll sie der Staat unterstützen, wenn er die Rechtsverletzungen, gegen die sie sich einsetzen, in erster Linie geschaffen hat, ne?).

Saure Zeiten erscheint weiterhin monatlich. Du kannst heute eine Mitgliedschaft über Steady (Öffnet in neuem Fenster) oder Patreon (Öffnet in neuem Fenster) abschließen, wenn du meine Arbeit auch finanziell unterstützen möchtest. Ich habe eine weitere Option hinzugefügt für 3,50 Euro im Monat, die bei einer Jahresmitgliedschaft auf 3 Euro reduziert wird.

Liebe Grüße
Sibel Schick

Die Saure Kolumne

Die Situation migrantischer Personenbetreuer:innen in Österreich: Eine kleine Einführung
Eine Aktivistin der IG24

Im Kontext der österreichischen Sozialpartnerschaft, gibt es zwei Gruppen von Interessenvertretungen, die sich gegenüberstehen. Auf der Seite der Arbeitgeber:innen die Wirtschaftskammer (WKO) und die Landwirtschaftskammer, auf der Seite der Arbeitnehmer:innen die Kammer für Arbeiter:innen und Angestellte (AK) und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB). Für die Kammern gibt es je nach eigener Position im Ausbeutungsprozess eine Pflichtmitgliedschaft. Unternehmen sind automatisch Teil der WKO, Angestellte und Arbeiter:innen automatisch Teil der AK. In der Praxis bedeutet die Sozialpartnerschaft zum Beispiel die jährlichen Kollektivvertragsverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber:innenvertretung (ähnlich der deutschen Tarifverhandlung). Aber auch bei der Diskussion und Prüfung von Gesetzen funktionieren die Kammern als Vertreter:innen ihrer jeweiligen Mitglieder. Dass das Machtverhältnis in einem kapitalistischen System hier allgemein nicht im Gleichgewicht liegt, dürfte allgemein bekannt sein.

Doch vor 17 Jahren waren die sich sonst oft streitenden Sozialpartner:innen ungewohnt einig: Thema war das Dilemma, dass es so viele alte und kranke Menschen gibt, deren Arbeitskraft nicht länger ausbeutbar ist und die es zu betreuen und zu pflegen gilt. Das soll den kapitalistischen Wettbewerbsstaat so wenig wie möglich kosten, und die Verantwortung für dieses Care-Problem soll so weit wie möglich individualisiert werden und im Privaten bleiben. Da wäre es doch das Beste, wenn die Betreuung zu Hause stattfindet und das 24/7 und zwar so, dass sich die Angehörigen dies irgendwie leisten können. Natürlich wollten AK und Gewerkschaften keinen Präzedenzfall schaffen, der Arbeitszeitgesetze aushebelt. Und natürlich kann sich so gut wie niemand eine 24h-Betreuung zu einem „fairen“ Lohn leisten. Was nach dem Ende einer friedlichen Diskussion und nach dem Beginn des Aufstandes der Care-Arbeitenden und Betreuungsbedürftigen in einer Leistungsgesellschaft, die Reproduktionsarbeit strukturell abwertet, klingen müsste, war jedoch der Beginn von etwas ganz anderem.

Denn 2007 wurde ein schon lange laufendes System der Ausnutzung migrantischer Arbeitskraft offiziell legalisiert. Mit Hilfe eines Gesetzes, welches besagt, dass sehr wohl weit über die gesetzlich verankerte Arbeitszeit und weit unter dem gesetzlich verankerten Mindestlohn gearbeitet werden kann. Und zwar, wenn dies auf selbständiger Basis, also als Ein-Personen-Unternehmen geschieht. Es wurde so eine Berufsgruppe geschaffen, die in keinster Weise arbeitsrechtlich geschützt ist. Die Personenbetreuer:innen, die bereit bzw. gezwungen sind unter diesen Bedingungen zu arbeiten, sind vor allem Frauen aus dem osteuropäischen Raum.

Da auch die Vermittlung von Angebot und Nachfrage nicht in staatlich regulierten Händen liegt, haben sich seither über 900 Vermittlungsunternehmen gegründet, die für die Care-(Schwerst)Arbeiter:innen Arbeitsverträge aufsetzen, ihre Honorare festsetzen und sich selbst dafür einen ordentlichen Gewinn einstreichen.

Kann man es als Selbständigkeit bezeichnen, wenn die Personenbetreuer:innen ihre Rahmenbedingungen nicht selbst bestimmen? Nein. Deswegen muss es „Scheinselbständigkeit“ genannt werden.

Das Ergebnis dieser Konstellation ist, dass um die 60.000 migrantischen Personenbetreuer:innen einen nicht geringen Teil des österreichischen Betreuungssystems schultern. Sie arbeiten im sogenannten Turnus zwei bis vier Wochen am Stück in Österreich und leben dann wieder zwei bis vier Wochen (unbezahlt) zu Hause. Sie arbeiten deswegen für drei bis vier Euro die Stunde brutto und mit einer Aussicht auf circa 100 Euro Rente nach zehn Jahren geleisteter Arbeit in Österreich.

Wenn die Vermittlungsagenturen Unternehmen sind, die Betreuerinnen aber Ein-Personen- Unternehmen: Sind dann nicht beide in der WKO vertreten? Tja. Es ist ein Interessenskonflikt, den sich noch nicht mal die WKO zu leugnen traut.

Haben die Betreuer:innen ein Problem, wäre eigentlich die WKO zuständig. Diese vertritt aber auch die Vermittlungsagenturen als profitorientierte Unternehmen, die in dieser spezifischen Konstellation sehr viel mehr Macht haben. Ihr könnt euch denken, wer in diesem Konflikt verliert.

Deswegen haben wir uns vor etwa vier Jahren gegründet. Wir sind die IG24, eine von Aktivist:innen unterstützte Selbstorganisierung migrantischer Personenbetreuer:innen. Wir beraten, klagen, schreiben, übersetzen, forschen, gehen auf die Straße und zeigen die Probleme der Scheinselbstständigkeit und der rassistischen Mechanismen der Überausbeutung der pendelnden Arbeitsmigrant:innen in Österreich auf. Unsere Gründung war wichtig. Unsere Arbeit ist wichtig. Aber, dass es uns als kleinen, prekär und ehrenamtlich Arbeitenden Verein gibt, ist eigentlich ein Skandal. Denn die Personenbetreuer:innen aus Rumänien, Slowakei, Bulgarien und vielen anderen Herkunftsländern haben eine dermaßen tragende Rolle und ihre Arbeit ist dermaßen systemrelevant, dass sie mehr verdient haben. Faire Löhne, ein abgesichertes Arbeitsverhältnis und eine Interessensvertretung, die eine wirksame Rolle spielt.

Aber aufgeben werden wir trotz aller Schwierigkeiten nicht.

Wir sind dankbar über jede Spende, die unsere Arbeit unterstützt:

IG24
IBAN: AT09 2011 1843 6230 3301

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Wenn ihr euch tiefer mit den angesprochenen Themen auseinandersetzen wollt, hier einige Lese- und Hörtipps:

IG24.at (Öffnet in neuem Fenster): Auf unserer Website findet ihr viele weiteren Informationen über unsere Projekte uns zum Arbeitsalltag der Betreuer:innen.

Folgt uns auf Instagram: @ig_24h (Öffnet in neuem Fenster)

Hört euch die Episode zu 24h-Betreuung des Podcasts „Kein Ding“ (Öffnet in neuem Fenster) an.

Schaut euch die wissenschaftliche Arbeit von Simona Ďurišová , einer unserer Gründerinnen, an:

„Die Organisation der Ausbeutung. Soziale und arbeitsrechtliche Benachteiligung der Pflege- und Betreuungskräfte im Rahmen der 24-Stunden-Pflege, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Vermittlungsagenturen.“ Abzurufen unter dem folgenden Link: https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/2287178 (Öffnet in neuem Fenster).

Bis demnächst, bleibt sauer!

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