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Geburtenrate: schlechte Nachrichten für konservative Männer

Die in dieser Woche veröffentlichte niedrige Geburtenziffer für Deutschland (Öffnet in neuem Fenster) für die vergangenen zwei Jahre ist ein gutes Beispiel, um die Grenzen von schneller Berichterstattung zu Statistiken zu reflektieren und sich selbst in Erinnerung zu rufen, dass es über nahezu jedes Thema viel mehr zu wissen, zu entdecken, zu fragen gibt, als die einfach klingenden Antworten.

Denn: „Die Wege, die zu einem Leben ohne Kinder bzw. zu einem Leben mit mehreren Kindern führen, gelten als untererforscht“ und seien daher „unbedingt zu intensivieren“, heißt es im Working-Paper „Gewollt oder ungewollt? Der Forschungsstand zu Kinderlosigkeit“ (Öffnet in neuem Fenster) des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Wer behaupten will, dass Feminist_innen schuld daran seien, dass Deutschland ausstirbt, sollte folglich die Forschungsärmel hochkrempeln. Stattdessen wagt die Chefökonomin der „WELT“ den Hot-Take: „Rigorose Gleichstellungspolitik vertreibt die Lust auf Kinder“.

Das Geburtenniveau ist zuletzt auf 1,36 Kinder pro Frau (Frau/Mann hier verstanden als statistische Kategorie) gesunken, nachdem es mehrere Jahre sogar bei über 1,5 Kinder lag. Martin Bujard, Forschungsdirektor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, hält den Rückgang für signifikant, da sich Veränderungen bei der Geburtenziffer zuvor langsamer vollzogen hätten. Da er und sein schwedischer Co-Autor Gunnar Andersson die Veränderung jedoch unter anderem als Reaktionen auf Krisen wie die Covid-19-Pandemie und das Warten auf Impfstoff, Inflation, Kriege in Europa, die Klimakrise interpretieren, gehen sie davon aus (Öffnet in neuem Fenster), dass sich das Geburtenverhalten in Deutschland womöglich wieder erholt.

Das IVF-Register (Öffnet in neuem Fenster)verzeichnet für Kinderwunschbehnaldungen 2022 bei den Methoden IVF und ICSI nach einem kontinuierlichen Anstieg in den Vorjahren eine leicht geringere Anzahl von Behandlungszyklen, was damit zu tun haben könnte, dass aufgrund steigender Lebenshaltungskosten Paare bei teuren Kinderwunschbehandlungen sparen mussten. Die Zahlen für 2023 liegen aktuell noch nicht vor. Schon 2003/2004 sank die Zahl der Geburten nach assistierter Reproduktion immens, weil im Zuge einer Gesundheitsreform die Kostenübernahme für Ehepaare halbiert wurde. (Ein weiteres Thema, bei der die Ampel im Koalitionsvertrag Besserungen versprochen, aber noch nicht umgesetzt hat.)

Da die Geburtenziffer eine Momentaufnahme ist, verrät sie nicht, ob Schwangerschaften möglicherweise nur verschoben worden sind, weil der Zeitpunkt ungünstig erschien, oder ob sie Teil einer Entwicklung ist, dass generell weniger Kinder geboren werden. Da der Anteil von Frauen ohne leibliche Kinder seit rund zehn Jahren unverändert bei 20 Prozent (Öffnet in neuem Fenster) liegt, gibt es die Entwicklung, dass Frauen generell seltener Mütter werden wollen, bislang nicht.  

In der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes zur „Kinderlosenquote“ zeigt sich jedoch bereits der erste Bias, der sich sowohl in der Datenerhebung, der Berichterstattung, den gesellschaftlichen Diskursen und privaten Gesprächen über die Entscheidung für Kinder immer wieder finden lässt – und an dessen Enden viel Meinung, aber wenig Erkenntnis steht. Das Statistische Bundesamt definiert die Kinderlosenquote als „Anteil der Frauen ohne leibliche Kinder an allen Frauen, die 2022 im Alter zwischen 45 und 49 Jahren waren“. Den Prozentsatz kinderloser Männer sucht man in der Mitteilung des Statistischen Bundesamtes vergeblich. Mit Kindern zu leben wird nach wie vor als Frage verstanden, die sich maßgeblich mit dem Verhalten von Frauen und gebärfähigen Menschen erklären lässt. Welche Rolle Männer, Partner_innen, weitere Elternteile, das soziale, berufliche und politische Umfeld spielen, wird viel zu wenig mitgedacht.

Zwar sollen all die, die schwanger werden können, letztlich autonom darüber entscheiden können, ob sie ein Kind bekommen wollen – die soziale Entscheidungsfindung hingegen geschieht nicht in der „Blackbox der Frauen“.

Allein schon die Erkenntnisse rund um männliches Fertilitätsverhalten sind Anlass genug, um viel öfter darüber zu berichten. Zwar lässt es sich schwerer messen, wie viele cis Männer letztlich keine Kinder zeugen, jedoch zeigen Forschungsergebnisse für Deutschland, dass die Kinderzahl pro Mann geringer ist (Öffnet in neuem Fenster) als die Geburtenziffer der Frauen und sie zudem durchschnittlich deutlich später zum ersten Mal Vater werden als Frauen Mütter. In der Gruppe der über 50-jährigen Personen finden sich mehr kinderlose Männer (Öffnet in neuem Fenster) als Frauen.

Wo sind die Leitartikel und Kommentare die fragen, warum Männer keinen Bock auf Kinder haben? Warum sie so lange warten, sich Elternschaft zuzutrauen? Und was es möglicherweise auch mit ihnen zu tun hat, wenn die Geburtenziffer der Frauen sinkt?

Eine sinkende Geburtenziffer kann zwar mit Unsicherheiten in der Bevölkerung zu tun haben, sie verrät jedoch nicht, ob Menschen mit ihrer Lebens- und Familiensituation zufrieden sind. Lebensqualität wird zunächst stärker davon bestimmt, ob ich im Einklang mit meinen Wünschen leben kann und weniger davon, ob meine Nachbarin ordnungsgemäß 2,1 Kinder bekommt. Daher sollten wir mehr darüber wissen, ob die Geburtenziffer sinkt, weil mehr Menschen bewusst und frei ohne oder mit wenig Kindern leben, sie ungewollt kinderlos sind, weil medizinische Hürden existieren, Partner_innen fehlen, sie Schwangerschaften abgebrochen haben aufgrund von Geldnot oder häuslicher Gewalt, ob sie gern mehr Kinder hätten als die, die Teil ihrer Familie sind, und was diesem Wunsch im Weg stand.

Frauen in Deutschland wünschen sich im Schnitt mehr eigene Kinder als Männer (Öffnet in neuem Fenster). Für heterosexuelle Beziehungen heißt das, dass sich für sie häufiger Konflikte dahingehend ergeben werden, wie viele Kinder ein Paar miteinander bekommen wird. Wer setzt sich durch? Wer gibt nach? Und warum gibt es eigentlich diese geschlechtsspezifischen Unterschiede?

Als durchschnittliche Anzahl gewünschter Kinder haben die Demografie-Forscherinnen Eva Beaujouan und Caroline Berghammer (Öffnet in neuem Fenster) für deutsche Frauen einen Wert von 1,8 ermittelt, die jedoch später im Schnitt nur 1,5 Kinder bekamen. Die Gründe dafür, warum der realisierte Kinderwunsch hinter den ursprünglichen Wünschen zurückbleibt, sind vielfältig. Neben unterschiedlichen Vorstellungen innerhalb einer Paarbeziehung, können Erfahrungen im beruflichen Umfeld, finanzielle Nöte, Erkrankungen (aktuell ist dabei auch Long-Covid relevant), Wohnraummangel aber auch Trennungen dazu beitragen. Die soziale Situation von Frauen, die alleinerziehend werden, macht nicht unbedingt Mut, sich noch mal ein weiteres Kind zuzutrauen. Schon ein Kind allein zu erziehen kann Armut bedeuten. Und wenn Alleinerziehende doch erneut Mutter werden, treffen sie noch immer Vorurteile und abschätzige Kommentare.

Zwei Kinder von zwei unterschiedlichen Vätern? Ich merke selbst an den Reaktionen auf meine Familienkonstellation regelmäßig, dass es deutlich akzeptierter wäre, ich hätte nach der Trennung vom Vater meines ersten Kindes kein weiteres Kind in einer neuen Beziehung bekommen. Die Geburtenziffer und mein persönliches Glück hätte dieser moralisch-verordnete Verzicht nach unten gezerrt, das konservative Familien- und Frauenbild vieler Menschen jedoch beruhigt. Doch ohne die Frauen, die sich nicht davon abhalten lassen, ihre Kinderwünsche allein, in Regenbogen-Familien oder in neuen Partnerschaften zu erfüllen, wäre diese Republik noch älter und kinderärmer. Dass die Familienform der „Single Moms by choice“ wächst, könnte auch gefasst werden als wunderschöne Paradoxie in einer härter werdenden Welt.

Ich habe mehrere Freundinnen und Bekannte, die ihre Kinder mit unterschiedlichen Elternteilen bekommen haben. Ich halte keine davon für naiv und romantisch verklärt, ich nehme sie wahr als risikobereit, ihren eigenen Werten treu und voller Liebe, die sich nicht von sozialen Normen einhegen lässt. „Mein Traum war immer drei Kinder von drei Männern. Leider hat nur zwei Kinder von zwei Männern geklappt“, diese Sätze einer Freundin, die mittlerweile 80 ist, vergesse ich nie. Denn sie sprach diesen Gedanken so mühelos aus, da sie es für selbstverständlich hält, nach eigenen Vorstellungen leben zu können und nicht darauf angewiesen zu sein, ob andere ihren Lebensstil gutheißen. Ich bewundere sie für ihre innere Freiheit, die ich irgendwann ähnlich spüren möchte. Unkonventionelle Wünsche, die aussprechbar sind, weil man verstanden hat, dass die Verurteilung durch andere vor allem etwas über diejenigen aussagt, die sie treffen.

Leichter wird es, sich nach den eigenen Wünschen zu befragen, sie auszusprechen, ihnen zu folgen, wenn wir Rückhalt durch andere haben. Dieses Glück, bei Überlegungen und Entscheidungen unterstützt zu werden, hat möglicherweise auch etwas mit der Entscheidung für Kinder zu tun. Die Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin Barbara Fulda hat in ihrer Dissertation „Immer weniger Kinder? Soziale Milieus und regionale Geburtenraten in Deutschland“ (Öffnet in neuem Fenster) untersucht, wie regionale Unterschiede in Familienleitbildern die Geburtenraten beeinflussen. Sie widerspricht zum einen der Meinung, in traditionellen Milieus würden mehr Kinder geboren, die auch in Kommentaren zur aktuellen Geburtenrate wieder herangezogen wird. Denn mittlerweile würden im modernisierten Milieu mehr Kinder geboren, sodass eine moderne Lebensweise und steigende Geburtenzahlen „sogar in einem positiven Zusammengang zueinander stehen“ könnten, so Fulda.

In konservativ geprägten Regionen mit einem Familienleitbild, das auf eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung setzt, würden sich „Frauen, die stark familienorientiert sind und aus finanziellen Gründen arbeiten gehen müssen (…) oft unvereinbaren Anforderungen aus beiden Lebenssphären ausgesetzt“ sehen, sodass sie sich schließlich sozial ausgegrenzt fühlten. Die Entscheidung für Kinder fällt Frauen schwerer, wenn sie befürchten, dass ihre Art und Weise, Familie und Beruf  zu kombinieren, stark kritisiert wird und sie beispielsweise Druck wahrnehmen, ein eigenes Kind frühestens ab drei betreuen zu lassen. Dort hingegen, wo heterosexuelle Partnerschaften egalitärer gelebt würden und es akzeptierter sei, Kinder außerfamiliär betreuen zu lassen, würden trotz einer hohen Frauenerwerbstätigkeit und nicht-ehelichen Beziehungen viele Kinder geboren, zeigt Fulda in ihrer Arbeit.

In traditional geprägten Regionen kann zudem hinzukommen, dass auch bei Arbeitgeber_innen für Frauen öfter sichtbar ist, dass Kinder ein immenses Karrierehemmnis sein werden und so zugunsten ihres Berufs den Kinderwunsch aufschieben oder ganz in Frage stellen. Gleichstellung gelingt in kleinen und mittelständisches Unternehmen oder in Behörden mit altbackener Unternehmenskultur nachweislich schlechter als in Organisationen, die ein moderner und familienfreundlicher Arbeitgeber sein wollen.

Immer mehr junge Frauen erwarten zudem eine gleichberechtigte Partnerschaft und wenden sich eher von traditionellen Rollenbildern ab als Männer es tun. Die Konsequenz davon kann sein, dass Frauen in heterosexuellen Beziehungen ggf. bereits vor Familiengründung oder beim ersten Kind so wenig Unterstützung durch ihren Partner bei Care-Aufgaben erleben, dass sie kein oder kein weiteres Kind wollen.

Es heißt oft – wie auch in der jüngsten Vermächtnis-Studie von Jutta Allmendinger belegt – dass junge Frauen weiterhin den Eindruck haben, dass eine Entscheidung für Kinder eine Entscheidung gegen ein erfülltes Berufsleben sei und sie mehr und mehr Letzteres vorziehen würden. Zieht man jedoch die Daten zur ungleich verteilten Sorgearbeit in heterosexuellen Paaren heran, muss man die Arbeitswelt zumindest ein Stück weit davon entlasten, dass sie allein dafür verantwortlich ist, dass Erwerbstätigkeit und Mutterschaft noch immer für viele ein Zuviel ergeben. Dort, wo Partner_innen es hinbekommen, sich die Aufgaben rund ums Kind und Haushalt fair zu teilen, indem beispielsweise beide mit reduzierten Stunden arbeiten und wo verlässliche Betreuungs- und Bildungsangebote für Kinder vorhanden sind, wird die Kombination von Beruf und Elternschaft machbarer.

Da die Covid-19-Pandemie in vielen Familien die Arbeitsteilung wieder stärker traditionalisiert und insbesondere Mütter überlastet hat, könnte auch dieser Effekt – nicht nur eine generelle Verunsicherung – weitere Kinderwünsche gefressen haben. Vielleicht braucht die Geburtenrate mehr Männer, die feststellen, dass sie mit ihren großen Händen wunderbar Wäsche falten können.

Die Wiederbelebung des Ernährermodells, dass Konservativen und Rechtsxtremen vorschwebt, mag als Idee den Männern gefallen, die mit einem Putzroboter besser bedient wären als mit einer Partnerin. Eine Gesellschaft und Berufswelt jedoch, die im Zuge dieses konservativen Rollbacks noch härter werden für FLINTA*, ein Abbau des Sozialstaats, der Familien und Kinder weiter in Armut drängt, dürfte eher dazu führen, dass die Geburtenziffer noch magerer ausfällt. Kinder bekommt man schließlich, damit sie frei sein können. Und das wiederum setzt freie Erwachsene voraus, die in vielfältigen Modellen leben, lieben und sorgen können.

Bis bald
Teresa

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