Zum Hauptinhalt springen

Nullrunde in der Gleichstellungspolitik oder: die progressive Wählerin als gehorsame Frau

Ist es zu früh, eine gleichstellungspolitische Bilanz der Ampel zu ziehen rund ein Jahr, bevor der Bundestag neu gewählt wird? Nein, es ist sogar dringend nötig, den Koalitionsvertrag (Öffnet in neuem Fenster) von SPD, Grünen und FDP hinsichtlich der Vorhaben und dem Stand ihrer Umsetzung durchzugehen, denn um ein Gesetz zu planen, zu beraten und zu beschließen brauchen Kabinett, Bundestag und Bundesrat mehrere Monate lang Zeit, sodass neue Gesetze, die noch in dieser Legislatur beschlossen werden können, etwa zu Beginn des neuen Jahres vorliegen müssten. Für alles, was noch offen ist, drängt die Zeit.

Im Bereich der Gesetzesvorhaben mit Gleichstellungsrelevanz sieht es besonders mau aus. Dabei versprach die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag ein gleichstellungspolitisches Jahrzehnt, an dessen Ende Frauen und Männer nicht mehr unterschiedlich frei, selbstbestimmt und ökonomisch abgesichert sein sollten, sondern die sozialen und gesetzlichen Hürden, die einer tatsächlichen Gleichstellung von Geschlechtern und Familienmodellen im Weg stehen, der Vergangenheit angehören sollten.

„Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden“,

unter diesen Satz setzen alle drei Regierungsfraktionen ihre Unterschrift.

Im letzten Jahr der Ampel-Regierung sieht es jedoch eher nach einer Trendwende aus: Die Menschenrechte von Frauen, queeren Menschen, Behinderten, Migrant_innen, Geflüchteten und armen Menschen werden nicht nur von offiziellen Stellen nicht ausreichend gestärkt sowie rhetorisch nicht klar verteidigt, die wachsende Unterstützung der AfD durch Wählerstimmen und der Rechtsruck der demokratischen Parteien führen aktuell dazu, dass die Sicherheit dieser Gruppen sogar fragiler wird und die Wahrscheinlichkeit schrumpft, dass Gesetzes- oder Finanzierungsvorhaben zugunsten ihrer Gleichstellung und Freiheit realisiert werden.

Das neue Staatsangehörigkeitsrecht etwa macht beispielsweise die Einbürgerung von Menschen mit Care-Verantwortung oder Behinderung (Öffnet in neuem Fenster), die nicht voll-erwerbstätig sein können, schwieriger und zum Fall einer „Ermessenseinbürgerung“. Aus feministischer Perspektive ist das untragbar und zeigt einmal mehr, dass »Feministische Innenpolitik« für die Ampel unbekanntes Terrain ist sowie Politik zunehemend unwillens ist, Menschen jenseits ihrer Erwerbsfähigkeit als gleichwertige Bürger_innen zu begreifen. Vorbildcharakter im Sinne eines Landes, das die Freiheit und Gleichheit aller Menschen als demokratischen Wert begreift, hat die politische Signatur dieser Tage nicht.

Die Bedrohung durch rechtsextreme Akteur_innen müsste für regierende Politiker_innen eigentlich ein Anlass mehr sein, vorausschauend zu handeln und diskriminierte oder vulnerable Gruppen präventiv stärker zu schützen. Eine solche Politik würde zeigen, dass man die Gefahr, die von den Erfolgen der AfD ausgeht, ernst nimmt. Doch genau das passiert nicht.

Hinzu kommt insbesondere für den Gleichstellungsbereich, dass all die Vorhaben aus dem derzeitigen Koalitionsvertrag, die nicht mehr umgesetzt werden, mit einer möglichen Beteiligung der Union an der nächsten Bundesregierung noch einmal unwahrscheinlicher werden. CDU-Spitzenkandidat Friedrich Merz lässt nahezu keine Gelegenheit aus (Öffnet in neuem Fenster), um Gleichstellungsanliegen ins Lächerliche zu ziehen.

Die von der Ampel versprochenen Vorhaben für mehr Geschlechtergerechtigkeit lassen sich nicht auf die kommende Legislatur verschieben, da sich die Union insgesamt in diesem Politikfeld traditionell wenig beweglich zeigt. Das gilt insbesondere für eine Stärkung der reproduktiven Rechte, bei denen die Ampel in mehrfacher Hinsicht eine Modernisierung der Rechtslage zugesichert hatte, um endlich den gesellschaftlichen Realitäten zu entsprechen, die aber in der Großen Koalition aus SPD und Union nie möglich war. Eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist dabei das prominenteste Vorhaben, die – wenn sie in dieser Legislatur nicht mehr kommt – erneut auf mehrere Jahre nicht erreichbar sein wird, auch wenn der Abschlussbericht der Kommission jede Regierung unabhängig von ihrer Zusammensetzung zum Handeln auffordert.

Eine Newsletter-Augabe zur Reform von §218 StGB lest ihr hier:

https://steadyhq.com/de/teresabuecker/posts/450ce249-7ab1-4edb-b0e1-2902ebd00df6 (Öffnet in neuem Fenster)

Erst im September stellte der Deutsche Juristinnenbund (Öffnet in neuem Fenster) klar: „Die Ergebnisse der Kommission zeigen, dass eine Streichung des Abbruchsverbots in den ersten 12. Wochen verfassungsrechtlich nicht nur möglich, sondern sogar geboten ist.“

Feministische Gesundheitspolitik

Im Koalitionsvertrag finden sich außerdem zahlreiche weitere Vorhaben, die dem Gesundheitsbereich zuzurechnen sind und gleichzeitig gleichstellungsrelevant sind. Leider werden die gesundheitspolitischen Themen in der medialen Diskussion nur unzureichend abgebildet, da die fehlende feministische Bildung vieler Politik-Journalist_innen als Gleichstellungsthemen vor allem solche benennt, die im Bundesfamilienministerium angesiedelt sind. In den zusammenfassenden Artikeln großer Medien zu dem, was die Ampel noch abarbeiten muss, kommen Gleichstellungs- und Kinderthemen überwiegend nicht einmal vor. Gedöns, noch immer.

Auch der Journalismus zeigt sich an dieser Stelle wirtschaftszentriert und fragt unzureichend danach, was über das herkömmliche Ökonomie-Verständnis hinaus eine Gesellschaft intakt hält und was die zahlreichen Aufgaben guter Politik sind.

Ein Überblick über die Regierungsarbeit: fragdenstaat.de/koalitionstracker (Öffnet in neuem Fenster)

Ein immens wichtiges Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag ist unter anderem, Verhütungsmittel als Satzungsleistung (Öffnet in neuem Fenster) durch Krankenkassen erstattbar zu machen. Denn bislang zählen Verhütungsmittel nicht zu den Leistungen, die Krankenkassen über das 22. Lebensjahr hinaus ihren Versicherten zur Erstattung anbieten können. Schutz vor Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten gelten als persönliche Angelegenheit, ihrer politischen Dimension bislang beraubt.

Ohnehin erstatten die Kassen für junge Menschen aktuell nur verschreibungspflichtige empfängnisverhütende Medikamente, was eine Kostenübernahme für Barriere-Methoden wie Kondom oder Lecktücher ausschließen und über den Zusatz der empfängnisverhütenden Wirkung lediglich Sex, bei dem eine Person schwanger werden kann, mitgedacht wurde.

Das Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag der Ampel verzichtet auf diese Einschränkung und wird damit auch der menschenrechtlichen Konzeption von Verhütung gerecht, auf die sich auf der Weltbevölkerungskonferenz der UN in Kairo im Jahr 1994 insgesamt 179 Staaten verständigten. Denn das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit umfasst auch, sich und Sexualpartner_innen vor übertragbaren Krankheiten zu schützen und muss daher unabhängig von Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung und Alter gedacht werden. Dementsprechend unterläuft die geltende gesetzliche Regelung für die Kostenübernahme für Verhütungsmitteln, die eine Kostenübernahme für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel wie die Pille nur für junge gebärfähige Menschen übernimmt, die vor 30 Jahren ausgearbeitete menschenrechtliche Verständigung über sexuelle Gesundheit.

Bereits damals ging es nicht nur um die Verhütung von Schwangerschaften und im Aktionsprogramm der Konferenz werden explizit Männer als Adressaten von Aufklärung und Verantwortung für Verhütung benannt. Dort heißt es (Öffnet in neuem Fenster)unter anderem:

„Innovative programmes must be developed to make information, counselling and services for reproductive health accessible to adolescents and adult men Such programmes must both educate and enable men to share more equally in family planning and in domestic and child-rearing responsibilities and to accept the major responsibility for the prevention of sexually transmitted diseases.

Programmes must reach men in their workplaces, at home and where they gather for recreation.

Boys and adolescents, with the support and guidance of their parents, and in line with the Convention on the Rights of the Child, should also be reached through schools, youth organizations and wherever they congregate.

Voluntary and appropriate male methods for contraception, as well as for the prevention of sexually transmitted diseases, including AIDS, should be promoted and made accessible with adequate information and counselling.“

30 Jahre später ist es dementsprechend mehr als überfällig, Verhütung als Teil der regulären Gesundheitsversorgung für alle Menschen anzubieten und durch die Krankenkassen erstattbar zu machen. Konsequent als Menschenrecht ausgelegt muss zudem politisch garantiert werden, dass Verhütung niemals am Geld scheitert oder arme Menschen sich entscheiden müssen, ob und wie sie verhüten oder das Geld dringender für andere alltägliche Bedarfe oder die Miete brauchen. Denn die rund 21 Euro, die aktuell im Bürgergeld für „Gesundheitspflege“ inklusive Verhütung vorgesehen sind, reichen nicht aus, um die persönlichen Gesundheitskosten zu decken und sich frei für eine Verhütungsmethode zu entscheiden. (Mehr dazu in der Veröffentlichung „Verhütung ist Menschenrecht!“ (Öffnet in neuem Fenster) des Paritätischen Wohlfahrtverbands)

Da Frauen durchschnittlich geringere Einkommen haben, das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft gebärfähigen Menschen stärker betrifft als cis Männer und soziale Normen bislang die Verantwortung für Empfängnisverhütung stärker bei den potenziell Schwangeren verorten, sind Frauen hinsichtlich ihrer sexuellen Gesundheit und Selbstbestimmung benachteiligt, was im ersten und wirksamsten Schritt mit einer Kostenübernahme insbesondere für geringverdienende Menschen ausgeglichen werden kann.

Daher ist das Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag ein wichtiger Baustein für Gleichberechtigung insgesamt, da Sexualität, Gesundheit sowie Familienplanung zentrale Lebensthemen sind, die alle Menschen betreffen und die keineswegs weniger wichtig sind als etwa Fragen der Arbeitspolitik. Die Priorisierung von politischen Themen funktioniert nicht auf diese Weise, da unser Zusammenleben und was Menschen brauchen für ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben komplexer ist als: ,Erst eins, dann zwei, dann drei.‘

Was aktuell politisch als wichtiger eingestuft wird als andere Dinge – sei es in der Regierung, im medialen Diskurs oder in privaten Gesprächen – findet innerhalb existierender Machtverhältnisse statt, nicht jenseits von ihnen.       

Leider ist jedoch auch Karl Lauterbach, Bundesgesundheitsminister der SPD, eine feministische Enttäuschung. Zum Stand des Gesetzesvorhabens zu Verhütungsmitteln ist aktuell nichts bekannt, was seine Umsetzung immer unwahrscheinlicher macht. Ebenso wenig hat Lauterbach sich das Thema Paragraf 218 StGB zu eigen gemacht. Auch die gerechte Ausgestaltung reproduktionsmedizinischer Assistenz steht zwar im Koalitionsvertrag, fehlt aber bislang in der Vorhabenplanung.

Laut Koalitionsvertrag sollten Methoden der künstlichen Befruchtung endlich „diskriminierungsfrei auch bei heterologer Insemination, unabhängig von medizinischer Indikation, Familienstand und sexueller Identität förderfähig sein“, sowie die „Beschränkungen für Alter und Behandlungszyklen“ überprüft werden. Lässt das Gesundheitsministerium auch dieses Vorhaben auf dem Papier zurück, werden weiterhin nur verheiratete Mann-Frau-Paare im vermeintlich richtigen Alter finanziell bei ihrem Kinderwunsch unterstützt, der selbst mit Förderung immens teuer bleibt, sodass medizinische Unterstützung bei eingeschränkter Fruchtbarkeit heterosexistische Klassenpolitik bleibt. Nur wer mehrere Tausend Euro aufbringen kann, kann sich medizinische Hilfe beim Schwangerwerden leisten. Aus dieser Klassenpolitik spricht, dass Kinder von Menschen mit wenig Geld, von unverheirateten und queeren Familien politisch wenig erwünscht sind. Die Regelungen zur reproduktionsmedizinischen Assistenz imaginieren eine ideale Familie und erwecken mittlerweile den Eindruck, dass eine völkische Partei bereits regiert. Warum setzt die Ampel diesem Eindruck nichts entgegen? Warum erschwert der Staat Menschen die Familiengründung, wenn er doch auf der anderen Seite über die Überalterung der Bevölkerung klagt?

Für diejenigen, die die Kitakrise nicht abschreckt, bei denen das Kondom gerissen ist oder die selbstfinanzierte Kinderwunschbehandlung endlich geklappt hat, hält der Koalitionsvertrag auch noch etwas bereit: Die 1:1-Betreuung durch Hebammen unter der Geburt.

Ihr könnt es euch denken: Auch dieses Vorhaben, außerdem der gestaffelte Mutterschutz (Öffnet in neuem Fenster), die beide zur sexuellen Gesundheit sowie der allgemeinen Freundlichkeit einer Gesellschaft gegenüber den Menschen zählen, die neues Humankapital austragen, steckt irgendwo in der Maschinerie der Ampel-Koalition fest, die sich Fortschritt vorgenommen hatte, und die Legislatur, so wie es sich derzeit abzeichnet, mit einer Nullrunde in der Frauen- und Gleichstellungspolitik abschließen wird.

Ja, das Verbot der Gehsteigbelästigung (Öffnet in neuem Fenster) ist nett, ein halbgares Selbstbestimmungsgesetz gibt es auch, aber gemessen an der Summe der Vorhaben des Koalitionsvertrages, der ohnehin in Sachen Equal-Care und Arbeitspolitik für Menschen mit Care-Verantwortung von vornherein enttäuschend war, fällt diese Regierung als Bündnis für Fortschritt –interpretiert als Geschlechtergerechtigkeit – durch. Statt Gleichberechtigung in zehn Jahren zu erreichen, sind wir mindestens vier zusätzliche Jahre davon entfernt.

Nicht einmal die »Familienstartzeit« (Öffnet in neuem Fenster), die mageren zehn Tage, die jedes zweite Elternteil nach der Geburt eines Babys bezahlt von der Erwerbsarbeit freistelleen soll und der EU-Richtlinie entsprechend spätestens 2020 (!) hätte eingeführt sein müssen, hat die Ampel bislang zu Wege gebracht. Stattdessen eine Verschlimmbesserung des Elterngeldes (Öffnet in neuem Fenster), der eine gemeinsame Elternzeit im Wochenbett nicht mehr erlaubt und nicht mal die Ausweitung der Partner_innenmonate und Verbesserung für Selbstständige mit aufgenommen hat, die im Koalitionsvertrag standen, was beides sinnvoll gewesen wäre. Mir wird schon vom Aufschreiben schwindelig, so aberwitzig war es, wie schnell plötzlich eine Änderung beim Elterngeld umgesetzt werden konnte, die gleichzeitig jeglicher Expertise zu notwendigen Reformen widersprochen hat.

Auch die Pflegezeit mit einem Lohnersatz wie beim Elterngeld zu versehen, damit das Armutsrisiko der Angehörigenpflege reduziert wird, steht noch aus – obwohl der demografische Wandel immer lauter an der Tür klopft.

Die gleichstellungspolitische Arbeitsverweigerung dieser Bundesregierung ist nicht nur ein Problem für diejenigen, die an strukturellen Diskriminierungen leiden, durch sie arm sind und arm bleiben. Die aufgrund von Care-Verantwortung oder gesundheitlichen Einschränkungen dringend darauf angewiesen sind, dass auch eine 30-Stunden-Woche im Job zum Leben reicht. Die nicht als Familie anerkannt werden, da auch die Reform des Abstammungsrechts hinausgezögert wird. Die Hilfe zu spät erreicht, wenn auch das Gewalthilfegesetz nicht finanziert wird. Verprügelte Frauen und Femizide sind offenbar verschmerzbar für die schwarze Null. Effektiver Gewaltschutz braucht zudem ganz zentral: bezahlbare Mieten. Auch wenn die SPD sich gern für den Mindestlohn und seine Erhöhung auf die Schultern klopft, da von ihm weibliche Erwerbstätige stärker profitieren, reicht diese eine politische Maßnahme nur selten für deutlich mehr Selbstbestimmung aus ­– wie die Freiheit, sich ohne finanzielle Sorgen zu trennen und so vor weiterer Gewalt zu schützen.

Ist Gleichstellungspolitik wahlentscheidend?

Die enttäuschende Bilanz bei der Gleichstellungs- und Familienpolitik könnte sich als Problem herausstellen für die Regierungsparteien, die bislang überproportional von Frauen gewählt wurden und für Wahlerfolge versuchen sollten, dieses Muster zu wiederholen: die SPD und die Grünen. Denn wie baut man nach so vielen nicht eingelösten Versprechen einen glaubhaften Wahlkampf auf, der zusichert, dass bei der nächsten Runde nachgeholt wird, was in dieser Regierungszeit zu unwichtig war, um härter darüber zu verhandeln? Wie soll ein Wahlprogramm überzeugen, das im Gleichstellungsbereich noch einmal aufwärmt, was längst hätte Gesetz sein sollen? Das vielleicht sogar vorsichtiger wird, um die konservativere Wählerschaft, um die auch SPD und Grüne buhlen, nicht zu verschrecken?

SPD und Grüne machen es sich an dieser Stelle zu einfach. Denn gleichzeitig Frauen und Queers als Wähler_innen mehr als andere Parteien zu brauchen, feministische Politik jedoch nicht umzusetzen und auszubremsen aus Furcht vor der eigenen Courage, bedient ein altes, geringschätzendes Frauenbild: „Die gehen schon wählen, auch wenn sie frustriert sind. Wer progressiv wählen will, landet ohnehin bei uns, denn so viel Auswahl gibt es nicht.“

So wie mehrheitlich Frauen die Care-Krise mit erschöpfend viel unbezahlter Arbeit halbwegs in Schach halten, wird von ihnen erwartet, ohne Mucken und ohne Ansprüche die Demokratie zu retten und in jedem Fall wählen zu gehen, um die AfD klein zu halten. Die gehorsame Frau, die eigene Bedürfnisse und Enttäuschung herunterschluckt, um der gesellschaftlichen Erwartung zu entsprechen, dass sie nicht wütend wird, nicht hinschmeißt und geht. Dass sie lächelnd die Wahlkabine betritt als Dank für welke Blumen.

Die Wähler_innenforschung hat wiederholt gezeigt, dass Menschen in finanziellen Notlagen und prekären Lebenssituationen – der Anteil von Frauen mit Armutsrisiko liegt in Deutschland über dem von Männern – seltener von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Darüber hinaus mindern sehr lange Arbeitszeiten und Schichtarbeit (Öffnet in neuem Fenster), die soziale Kontakte jenseits der Arbeit erschweren, die Wahlbeteiligung von Frauen, während dieser berufsbezogene Effekt bei Männern so nicht zu finden ist. Das Wähler_innen-Potential von Frauen wird somit schlechter ausgeschöpft als das der Männer. Zeitpolitik, anyone?

Hinzu kommt, dass im Pandemie-Verlauf bis Anfang des Jahres 2022 sich in keiner Gruppe so große Vertrauensverluste in Politik messen ließen wie in der Gruppe der Mütter, bei denen sich Untergruppen identifizieren lassen, die überdurchschnittlich oft angeben, nicht, ungültig oder die AfD wählen zu wollen. (WSI Report: Der Vertrauensverlust der Mütter in der Pandemie (Öffnet in neuem Fenster))

Umso bemerkenswerter ist es, dass insbesondere die Parteien, die es bei zurückliegenden Wahlen besser als andere schafften, Frauen zu mobilisieren, diesen Umstand nicht als Strategie ausbauen, sondern ihn bei den Wählerinnen, für die Gleichstellungs-, Familien- oder Gesundheitsthemen bei ihrer Wahlentscheidung relevant sein könnten, aktuell verspielen. Denn obgleich klar ist, dass in einer Koalition Kompromisse errungen werden müssen, könnten Politiker_innen von SPD und Grünen zumindest rhetorisch klarstellen, was ihnen wichtig ist, welche Problemlagen sie wahrnehmen und welche Lösungen sie langfristig anstreben.

Schließlich geht es nicht nur darum, wie sich die Menschen, die von ihrer Stimme im kommenden September bei der Bundestagswahl Gebrauch machen werden (obwohl sie lange darüber gehadert haben, welche Partei und ob sie überhaupt wählen werden) kurzfristig entscheiden. Denn wählen zu gehen ist innerhalb einer Demokratie nur ein kleiner, kurzweiliger Beitrag, oder wie es die Autor_innen der Studie „Unequal electoral participation: the negative effects of long work hours and unsociable work schedules in Europe“ es formulieren:

„Our finding suggests that long working hours and unsociable work schedules are a plausible barrier for women to participate in democracy even at the basic level, namely, voting in a national election.“

Wählen ist der »basic level« der Demokratie. Parteien muss es insbesondere vor Wahlen darum gehen – aber zusätzlich dauerhaft im Sinne einer lebendigen Demokratie – dass Menschen sich mit anderen über Gesetzesvorhaben, Regierungsergebnisse und Wahlprogramme austauschen, diskutieren, Empfehlungen geben und Lust bekommen, sich entweder parteipolitisch oder zivilgesellschaftlich für bestimmte Themen längerfristig zu engagieren.

Die Philosophin Cristina Lafont hat dazu geschrieben:

»Nur wenn sich Bürgerinnen und Bürger wirklich verpflichtet fühlen, einander zu überzeugen, können sie sich mit den Institutionen, Gesetzen und Regelungen, denen sie unterworfen sind, auch weiterhin identifizieren und sie ohne Entfremdung als ihre eigenen begreifen

In der feministischen Zivilgesellschaft jedoch wächst der Eindruck, dass die oft ehrenamtlich erbrachte, unbezahlte Expertise, für die Menschen ihre freie Zeit geben, ungelesen bleibt, oder zwar formell angehört, aber nicht beachtet wird, in Schubladen wandert, auf denen steht: „Gedöns für irgendwann, aber nicht jetzt“.

Beispielhaft steht dafür der Umgang mit der Expertinnen-Kommission zu reproduktiven Rechten, die von der Bundesregierung einen Arbeitsauftrag bekam, auf dessen Ergebnisse die zuständigen Minister_innen sowie der Kanzler jetzt aber am liebsten nicht angesprochen werden wollen. Ganz ähnlich geht es unzähligen Engagierten, die mit kurzen Fristen Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen schreiben, sich in Anhörungen äußern oder große Demos organisieren. Wie wirkt dieser Umgang mit dem Engagement von Expert_innen und Aktive auf andere, die ihre Zeit für Politik zur Verfügung stellen_wollen? Um einen Bogen zum SPD-Wahlkampf 2021 zu schlagen: Wie war das noch gleich mit Respekt?

Was ich jetzt von dir, Leser_in dieses Newsletters gern wissen würde:

  • Hat sich – und wenn ja, wie – dein Bezug zu Politik in den vergangenen drei Jahren verändert?

  • Glaubst du an die Kraft des Engagements?

  • Welche Themen sind für dich wahlentscheidend?

  • Wer repräsentiert für dich gute Lösungen in der Care-Politik?

  • Wie blickst du auf die Bundestagswahlen 2025?

  • Wer oder was stimmt dich hoffnungsvoll?

Ich freue mich auf kurze, lange und auch unfertige, nachdenklich
Danke und bis bald
Teresa 

Wenn ihr meinen Newsletter »Zwischenzeit_en« mögt und unterstützen wollt, freu ich mich sehr, wenn ihr ein Steady-Abo (Öffnet in neuem Fenster) abschließt und damit möglich macht, dass ich ihn regelmäßig schreiben kann. Danke <3

Etwas Geborgtes:

„To be truly radical is to make hope possible rather than despair convincing.“ – Raymond Williams (Öffnet in neuem Fenster)

Ein Blick in die USA und die Wahlbeteiligung von Care-Verantwortlichen:

„A study of 12,000 non-voters in 2020 found that more than 60 percent (Öffnet in neuem Fenster) of the most disconnected non-voters — people who are uninterested and disengaged from politics — are women, and especially single women with children. The newest 19th News/SurveyMonkey poll (Öffnet in neuem Fenster) also found that while 10 percent of women and nonbinary people report not planning to vote in 2024 (compared with 8 percent of men), the figure climbs to 13 percent for women who are caregivers or people with children ages 3 to 11.“

https://19thnews.org/2024/10/caregivers-single-moms-non-voters-2024/ (Öffnet in neuem Fenster)

Lesungen und Gespräche mit mir 2024

teresabuecker.de/termine (Öffnet in neuem Fenster)

28. Oktober 2024 – Köln
12. GenderForum der Universität zu Köln

13 – 16 Uhr
Keynote-Rede zu Zeitgerechtigkeit
Anmeldung (Öffnet in neuem Fenster)

30. Oktober 2024 – Merseburg
Vortrag an der Hochschule Merseburg
15 Uhr
Infos & Anmeldung (Öffnet in neuem Fenster)

08. November – Berlin
Lesung
Bundesfachseminar Deutscher Frauenring e.V.
Infos und Anmeldung (Öffnet in neuem Fenster)

11. November 2024 – Bamberg
17 – 20 Uhr
Dies Academicus der Universität Bamberg
Festvortrag
Infos (Öffnet in neuem Fenster)

 28. November – Essen
Lesung
18.30 Uhr
Infos und Anmeldung (Öffnet in neuem Fenster)

04. Dezember – Würzburg
Lesung an der Universität Würzburg
17 Uhr
Mehr Infos bald hier (Öffnet in neuem Fenster)

05. Dezember – Dachau
Lesung
20 Uhr
organisiert von der Buchhandlung Subtext (Öffnet in neuem Fenster)
Mehr Infos folgen

Anfragen für Vorträge und Lesungen erreichen mich über office@teresabuecker.de

2 Kommentare

Möchtest du die Kommentare sehen?
Werde Mitglied von Zwischenzeit_en und diskutiere mit.
Mitglied werden