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Jenseits von Ethik und Rationalität: willkommen im Arschlochozän

26.10.2023

Liebe Leute,

wie soll man eine Gesellschaft nennen, in der Jens Spahn, immerhin prominenter Unionspolitiker anstatt FckAfD-Schrat oder Fernsehphilosoph, “Gewalt” gegen “irreguläre Migration” (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) fordert, also de facto einen “Schießbefehl” an den Grenzen; in der bis zu 30% der Meinung sind, dass es völlig ok ist, eine Partei zu wählen, die “in Teilen gesichert rechtsextrem” ist, sprich, faschistisch; in der “Klimaschutz” Schutz vor Klimaaktivist*innen bedeutet, und “Klimaanpassung” nicht den Bau höherer Deiche, sondern den Bau höherer Mauern gegen Migrant*innen; in der Migrant*innen, die aus völlig unverständlichen Gründen in die Teile der Welt migrieren zu wollen, die noch bewohnbar sind (wobei natürlich die aller-, allermeisten in ihren Heimat- oder in Nachbarländer migrieren), als “kriminelle Schlepperbanden” diffamiert und so ein “war on migration/migrants” legitimiert wird? Eine Gesellschaft, die Anna Becker (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) auf Bluesky brutal und völlig passend so zusammenfasst: “Erst beuten wir Länder aus, dann vernichten wir einen Großteil globaler Lebensgrundlagen und anstatt Menschen vor den Konsequenzen unseres Handelns zu retten, schotten wir uns mit Gewalt ab und lassen sie im Mittelmeer verrecken. Und die Wählenden finden‘s geil.”

Richtig: eine Arschlochgesellschaft (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).

Nochmal kurz zum gemeinsamen Verständnis ein paar Definitionen: Arschlöcher (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) sind Menschen, die davon ausgehen, dass andere Gruppen von Menschen ihnen unterlegen sind, und ihnen deswegen weniger zusteht. Think of it as gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Wer gruppenbezogen menschenfeindlich handelt, ist ein Arschloch. Der Unterschied (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) zwischen einer Verdrängungs- und einer Arschlochgesellschaft liegt dann darin, dass die VG ihre Widerlichkeiten (also ihr strukturell gruppenbezogen menschenfeindliches Verhalten, Stichwort “Externalisierungsgesellschaft (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)”) erstens verdrängen, und zweitens in intellektuell äußerst schmerzhaften Verrenkungen in der Sprache des universalistischen Humanismus legitimieren muss, während die AG es zum Prinzip erkoren hat, sich gerade nicht erklären zu müssen, sich sogar in ihrer Arschlochigkeit wohlzufühlen, darauf stolz zu sein, anstatt schamerfüllt. Scholzens Spiegel-Cover sollte als Beleg dafür ausreichen, dass die “Arschlochisierung” der Gesellschaft schon lange die “Mitte” erreicht hat, jetzt ein Arschlochwettbewerb in der Politik ausbricht (vgl. den Wahlkampf in Bayern), und das nicht nur in Deutschland, sondern überall dort, wo es Privilegien zu verteidigen gibt.

Die Epoche der Menschheitsgeschichte, in der die Arschlochisierung, also die Normalisierung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, eine der stärksten politischen Dynamiken ist, und das nationalegoistische, patriarchale Arschloch den neoliberalen Soziopathen als dominantes Subjekt ablöst: die nenne ich das Arschlochozän – the age of assholes.

Anthropozän und Anthropos

Und was unterscheidet dieses “Arschlochozän” vom deutlich bekannteren Anthropozän (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), der geologischen Epoche, die, je nach Rechnung, ung. Mitte des 20. Jahrhunderts das Holozän ablöste, jene Periode unüblicher klimatischer Stabilität, in der erst das möglich wurde, was wir heute völlig unironisch als menschliche Zivilisation bezeichnen? Anthropozän, nur als kurzer Reminder, bezeichnet ein Zeitalter, in dem “der Mensch” (“man”, “il uomo”, “l'homme” - oder halt anthropos) nicht nur zum stärksten geologischen Veränderungsfaktor, sondern auch Maßstab, Eigentümer und Richter aller Dinge wurde.

To be sure, dieses Konzept wurde unter anderem von links durchaus überzeugend kritisiert – erstens ist natürlich nicht “der Mensch” in charge, sondern ganz bestimmte Menschen, meist reich, meist weiß, meist männlich; und zweitens ist es ja nicht der Mensch “an sich”, sondern der kapitalistisch hochgetunte Mensch, der die Erde ausbeutet – aber es hat sich gegen sehr viel schwächere Konkurrenz wie z.B. “Kapitalozän” durchgesetzt (meinem Begriff wird es natürlich genau so ergehen, but there's no harm in trying ;)), weil es, I believe, ein Gefühl artikuliert, ein, mit Freud, “Unbehagen in der Kultur”, eine Art verdrängter kollektiver Einsicht, so ung.: “Wow, ok, ja, wir sind am Ruder, und holy crap, verkacken wir das gerade mit der Weltherrschaft.” Das Anthropozän ist also nicht nur das Zeitalter “menschlicher” kausaler und ökologischer Dominanz, es ist auch das Zeitalter *verdrängten Scheiterns” derjenigen, die irgendwas relevantes zu bestimmen hatten. We're in charge, wir wissen, dass unsere fossilkapitalistische Produktions- und unsere imperiale Lebensweise ein ethisches Desaster ist, wir wissen, was die rationale und ethische Entscheidung wäre (I dunno, let's call it global degrowth communism) – und doch sind wir völlig unfähig, diese Entscheidung zu treffen, diesen Weg einzuschlagen, unser normalwahnsinniges, zutiefst abgefucktes kollektives Verhalten zu ändern.

Jetzt ist es aber so, dass unser Menschenbild eines ist, das – ein Bisschen wie unsere Vorstellung einer Zukunft ewigen Wachstums, in der wir uns aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit hineinproduzieren (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) – zutiefst in der Aufklärung verwurzelt ist: Unsere Vorstellung davon, was es bedeutet, Mensch zu sein, basiert spätestens seit Locke und Kant, seit der Entstehung der klassischen Ökonomie und modernen Philosophie, auf der Annahme, dass sich der Mensch vom Tier durch seine Fähigkeit unterscheidet, ethische und rationale Entscheidungen zu treffen, anstatt bloß instinktgesteuert durch die Welt zu leben, im Gegensatz zu – wie wir früher glaubten – bloßen Tieren. Wenn “Mensch”, anthropos zu sein bedeutet, rational und ethisch entscheiden zu können, dann zeigt ein kurzer Blick in die Welt, dass wir eben gerade nicht im Anthropozän leben, sondern in einer Hölle der Irrationalität und ethisch abscheulicher Strukturen und Entscheidungen.

Ethik und Rationalität im Arschlochozän

So that's my point. Klar, ich nutze Begriffe, gerne mit Kraftausdrücken aufgehübscht, als Aufreger, um Engagement mit meinen Posts und Texten zu generieren, so Reichweite, yadayadayada. Aber ich habe tatsächlich einen politischen Grund, auf der Unterscheidung zwischen Anthropozän und Arschlochozän zu bestehen: im Anthropozän war es vernünftig, politische und Bewegungsstrategien so zu designen, dass sie die Wahrscheinlichkeit kollektiv rationaler und ethischer (im Sinne einer universalistisch-humanistischen Ethik) Entscheidungen und Transformationen erhöhen würde – wir sehen Echos davon noch in der Strategie der Letzten Generation, durch maximalen Druck auf die Gesellschaft diese quasi zur Rationalität zu zwingen. Aber wie schon oft argumentiert, und wie durch immer mehr anekdotische Evidenz belegt: mehr Druck produziert mehr Irrationalität und Arschlochigkeit, weniger Druck führt zu nix, und einfach weitermachen geht auch nicht. Nichts, was wir tun können, wird dazu führen, dass die Gesellschaft sich rational und ethisch entscheidet.

Warum? Weil Arschlochisierung und Arschlochozän, anstatt Anthopozän und “grüner Transformation”. Weil neuer doitscher Klimakonsens. Weil Verdrängung, Neokolonialismus und Faschisierung. Weil die Arschlöcher sich nicht mehr schämen, zu sein, wer und was sie sind.

Das heißt natürlich nicht, wie mir manche unterstellen, dass wir mit dem Kampf für ein besseres Leben aufhören sollten, ich habe in den vergangenen Wochen immer wieder versucht, Wege nach vorne aufzuspüren und aufzuzeigen (z.B. hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)). Es heißt aber, dass es zunehmend ineffektiv, frustrierend und entmächtigend sein wird, von der Gesellschaft etwas zu erwarten, einzufordern, versuchen, zu erzwingen, das sie weder leisten kann, noch will: sich nicht wie ein irrationales Arschloch zu verhalten. Und ja, damit meine ich auch die “immer wieder freundlich fragen”-”Strategie des moderaten Flügels der Klimabewegung.

Das Gute im Leben ist Handarbeit. Immer, immer mehr.



Euer Tadzio

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