Sintflut? Welche Sintflut?!" Die Verdrängungsgesellschaft und ihr Preis.
Guten Tag!
Mittwoch morgen (6.4.), Deutschlandradio, das Frühstücksinterview, diesmal mit dem allseits beliebten Friedrich Merz, national-loyaler Anführer der bundestäglichen Opposition. Es geht um die alles bestimmende Frage, wie die Regierung am besten, d. h.: am billigsten und gleichzeitig moralisch und politisch befriedigendsten, auf die Situation in der Ukraine reagieren wird.
Frage Moderator Heinemann: “Können wir nach Butscha in Russland noch Energie kaufen?”
Antwort Merz: “Wir müssen raus, so schnell wie möglich. Wir müssen aber abwägen, damit die wirtschaftlichen Schäden, die bei uns entstehen, nicht zu groß werden.”
Nochmal, zur Verdeutlichung: Die Frage ist im Grunde “Lässt sich der moralische Druck, der auf ihnen, der auf allen von uns lastet, durch unsere wirtschaftlichen Aktivitäten nicht mehr zur Stabilität eines mörderischen, proto-faschistischen Regimes beizutragen, noch irgendwie abfedern?” Merzens Antwort lautet “Ja, denn wir wissen alle: wir werden nur dann aufhören, durch unsere wirtschaftlichen Aktivitäten Gewalt zu unterstützen und hervorzurufen, wenn dies zu tun uns keine relevanten wirtschaftlichen Nachteile bringt. Damit müssen wir nun einmal umgehen.”
Diese Position, so radikal sie auch klingen mag, wenn sie mal ihrer ideologischen Blenden bereinigt ist, ist die extrem weitverbreitete Meinung des bundesdeutschen Mainstreams, wie man z. B. in der Debatte um den Braunkohleausstieg im Rahmen der umgangssprachlich “Kohlekommission (Öffnet in neuem Fenster)” genannten Kommission für Wachstum, Beschäftigung und Strukturwandel sehen konnte. Vom Chef der damals (2018) noch halb relevanten Partei die LINKE über den DGB-Chef, vom Arbeitnehmerpräsidenten zur Bundeskanzlerin, mit Ausnahme der anti-Kohle- und Klimagerechtigkeitsbewegung waren so ziemlich alle der Meinung, dass ein paar (maximal 20.000) gut bezahlte Industriearbeitsplätze in Deutschland gegen “Klimaschutz” aufgewogen werden könnten.
Unterbewusst bewusst
Das wäre schon kritikwürdig, wenn es “nur” darum ginge, sozusagen “Rechtsgüter” gegeneinander aufzuwiegen: Arbeitsplatzstabilität ist natürlich kein so wichtiges Rechtsgut, wie körperliche Unversehrtheit, um die es beim Klimaschutz geht. Aber wir müssen noch einen Schritt weiter denken: Die Arbeitsplätze in der Braunkohle sind ja mit dafür verantwortlich, dass die Klimakrise ungebremst eskaliert; die Einkäufe russischer fossiler Brennstoffe sind mit dafür verantwortlich, dass die russische Kriegsmaschine derzeit in ukrainischen Dörfern, Vororten und Städten Kriegsverbrechen begehen kann.
Dem ist so, weil wir in einer ökonomischen “Externalisierungsgesellschaft” leben. Die ökonomisch positiven, Wohlstand-schaffenden Effekte der fossil-kapitalistischen Produktions- und unserer “imperialen Lebensweise” (Brand/Wissen (Öffnet in neuem Fenster)) hierzulande, haben ihr Gegenstück in ökonomisch negativen, Wohlstands- und Wohlfahrtszerstörenden Effekten in anderen, meist ärmeren, meist “südlicheren” Teilen der Welt. Der Münchner Soziologe Stefan Lessenich hat dazu ein wundervolles Buch geschrieben, dessen Titel die These schon perfekt zusammenfasst und auf den Punkt bringt: “Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis”. Für Lessenich leben wir nicht über unsere Verhältnisse, wir leben über die Verhältnisse anderer. D.h., dass ein kausaler Zusammenhang besteht zwischen dem im globalen Maßstab hohen Lebensstandard der meisten Menschen, die in Deutschland leben, und schlechteren Lebensstandards in ärmeren Ländern. Mit Brecht: Wären wir nicht reich, wären die nicht arm.
Dieser Tatsache sind wir uns im Grunde jeden Tag “unterbewusst bewusst”, denn – und diese These würde ich für jedes Bildungsniveau, für jeden Level von Nachrichtenkonsum hierzulande durchgehend aufstellen – jede*r von uns weiß jedes Mal, wenn wir unser Smartphone in die Hand nehmen, in ein Auto einsteigen, oder unsere Fast Fashion-Klamotten von Primark, Zara oder einer posheren Marke anziehen – es weiß ein Teil von uns, dass diese Produkte in unseren Händen, unter unseren Ärschen oder über unseren Körpern sind, weil wir wiederum relativ weit oben in einer globalen Pyramide von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung stehen. Das Wissen über diese Tatsache ist mittlerweile so weit in der Gesellschaft verbreitet, dass es als “Allgemeinwissen” betrachtet werden kann. Es ist das Wissen über die Gewalt des globalen Kapitalismus, ob fossil oder grün; des Patriarchats und der cis-Heteronormativität; des Rassismus und der “white supremacy”.
Ein Quantum an Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung.
Damit wir uns ob dieser Externalisierung von Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung aber nicht ständig schuldig fühlen – gar schämen, um die kognitive Dissonanz zu vermeiden,die die ständige Gewisstheit, sehr weit oben auf einer globalen Ausbeutungs- und Gewaltpyramide zu sitzen, mit sich bringen müsste – müssen wir verdrängen. Ich stelle mir das derzeit (sicherlich noch zu mechanistisch gedacht) ganz einfach vor: Jedes Bisschen kapitalistischer Produktion, jedes Bisschen Konsum-im-Kapitalismus, vor allem im globalen Norden, geht einher mit einer gewissen Menge, einem Quantum an Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung. Dieses Quantum wird zu erheblichen Teilen externalisiert, d.h., in andere Bereiche der Welt exportiert. Diese Externalisierung wiederum produziert ein ihr genau entsprechendes Quantum Schuld, die dann wiederum verdrängt werden muss.
Gelegentlich nimmt diese Schuld sogar konkrete Form an, in der Form der “ökonomischen Migrantin”, die also nicht aus “legitimen”, “politischen” Fluchtgründen in den liberalreichen Norden flüchtet, sondern aus niederen, ökonomischen Beweggründen, wie dem Wunsch, überleben zu wollen, vielleicht nicht bettelarm zu sein und sogar ein paar angenehme Zukunftsperspektiven zu haben. Was geschieht mit dieser Migrantin? Sie wird, erstens, moralisch “verdrängt”, genau durch die eben durchgeführte intellektuelle Operation: Sie ist eine “ökonomische Migrantin”, d.h., sie kann ignoriert werden; sie wird, zweitens, physisch “abgedrängt”: das sind die berüchtigten “Pushbacks” im Mittelmeer, sie sind die brutale Reaktion eines rassistischen und amoralischen globalen Nordens, einer Festung Europa, die die Chuzpe hat, sich die eigene Zerstörung des Rests der Welt, die Sintflut neben sich, auch noch schönzureden: “Sintflut? Welche Sintflut? Uns geht's doch gut.”
Grenzen, Mauern, Zäune... die werden in der Zukunft der reichen Welt keine “antifaschistischen Schutzwälle” (so nannte die DDR-Führung das, was der Rest der Welt als “die Mauer” kannte), sie werden anti-migrantische Schutzwälle sein, welche immer höher werden müssen, um die “Rückkehr des Verdrängten” (oder auch: die Rückkehr der Abgedrängten) zu verhindern. Denn Verdrängtes (Öffnet in neuem Fenster) verschwindet nicht, sondern bricht sich immer wieder eine Bahn zurück in unsere Köpfe, in "der Wiederkehr des Verdrängten", "als Ausdruck der Tendenz des Verdrängten, sich in Form von Symptomen, Träumen oder Fehlleistungen wieder geltend zu machen."
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Die Klimabewegung als Re-Internalisierung der externalisierten Gewalt
Wenn wir “Fehlleistungen” hier auch moralisch verstehen, dann kommen wir einem Verständnis der dauernden Ignoranz und immer häufigeren Brutalität näher, welcher sich die Klimabewegung ausgesetzt sieht. Denn “wir” sind die Re-Internalisierung der externalisierten Gewalt etc., sagen wir einfach “Kosten” unserer Produktions- und Lebensweise. Wir stellen das eingangs kritisierte “Kostenkalkül” infrage, das die Stabilität unserer Profite und Alltage über die Stabilität des Klimas, mithin Menschenleben überall auf der Welt stellt. Unsere Aktionen sind in einem gewissen Sinne auch nur Information über die eskalierende Klimakrise; Information, von der wir hoffen, dass sie nicht ignoriert werden kann, aber in der Hinsicht gilt: we ain't seen nothing yet.
Meine momentane Perspektive ist, wie Ihr wisst, wenn Ihr mir auf Twitter folgt, ziemlich dunkel: wenn die Reaktion auf die “Rückkehr des Verdrängten” (im weiteren Sinne für uns: Information und Aktion re: Klimakrise) Ignoranz und Brutalität ist (vgl. https://steadyhq.com/de/friedlichesabotage/posts/46875490-2964-4b6a-9929-526a81dfe2b9 (Öffnet in neuem Fenster)); dann werden die Reaktionen auf unsere Aktionen immer brutaler werden, egal, ob wir eskalieren, oder nicht, denn die Klimakrise wird ja eskalieren, und je mehr sie das tut, desto höher steigen die Kosten sich daran anzupassen, desto mehr landen wir im Terrain der Irrationalität.
Der Preis, kurz gesagt, der Verdrängungsgesellschaft, die wiederum eine Funktion, oder vielmehr, der notwendige psychologische Überbau der Externalisierungsgesellschaft ist, ist mehr Irrationalität, mehr Ignoranz, mehr Brutalität.
Welcome to the Future. Welcome to the Thunderdome.
Auf bald. Euer
Tadzio