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2018 habe ich auf dem DOK.fest in München einen Film über Assisted Evolution gesehen. Seitdem lässt mich die Frage nicht mehr los, wie weit wir Menschen gehen dürfen, um Arten vor dem Aussterben zu bewahren.
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#84 #Natur #Biodiversität #Hintergrund
Im Regiestuhl der Evolution
Was im Naturschutz bislang tabu war, scheint heute wie der letzte Ausweg: in die Evolution eingreifen. Sollten wir Pflanzen und Tiere genetisch manipulieren, um sie zu retten? ~ 10 Minuten Lesezeit
Schon mal was vom Zwergbeutelmarder gehört? Falls Du noch nach einem neuen Kosenamen suchst – bitte schön. Eigentlich sind Zwergbeutelmarder aber kleine, bräunliche Beuteltiere mit weißen Flecken auf dem Fell. Sie leben im Buschland und in den Wäldern Australiens.
Tagsüber schlafen sie in Höhlen, Erdlöchern oder hohlen Baumstämmen. Nachts gehen sie auf die Jagd nach Mäusen, Vögeln oder Eidechsen. Auch Kröten fressen sie gerne. Und genau das sollte für sie zum Verhängnis werden.
Vor rund hundert Jahren brachten Menschen einige Aga-Kröten aus Hawaii nach Queensland in den Osten Australiens. Die Amphibien sollten eine Käfer-Plage auf den Zuckerrohrplantagen eindämmen. Darauf hatten sie nur leider keine Lust. Stattdessen vermehrten sie sich unkontrolliert und wurden zu einer der größten ökologischen Katastrophen Australiens. Zwergbeutelmarder zum Beispiel verschlingen die Kröten – und sterben an ihrem Gift, und zwar massenhaft. Ganze Populationen der Beuteltiere (und auch anderer Räuber) haben die Amphibien bereits ausgelöscht.
Um die Zwergbeutelmarder zu retten, entschieden sich Forscher*innen aus Perth für eine riskante Strategie. Sie griffen in den Lauf der Natur ein, um der Evolution der Tiere auf die Sprünge zu helfen.
Von Bewahren zu Designen
In Fachkreisen nennt man diese Strategie „Assisted Evolution“ und sie kommt langsam, aber sicher immer öfter zum Einsatz. Sie ist ein fundamentaler Bruch mit der Philosophie, die den Umweltschutz bislang leitet. Laut dieser hat die Natur an sich einen Wert: Es gilt, sie zu schützen, wie sie ist – oder einen natürlichen Zustand wiederherzustellen, wo sie bereits zerstört wurde.
Assisted Evolution dagegen schaut nicht nach hinten, sondern nach vorne. Die entscheidende Frage lautet nicht: Wie erhalten wir einen natürlichen Zustand? Sondern: Wie wird die Welt künftig aussehen? Und: Was brauchen Pflanzen und Tiere, um in dieser Welt zu überleben?
Arten und Ökosysteme passen sich eigentlich auf natürliche Weise an, wenn sich die Bedingungen verändern. In Zeiten planetarer Umbrüche bleibt ihnen dafür aber oft keine Zeit. Viele ökologische Verheerungen sind zudem nicht mehr rückgängig zu machen – von der Vergiftung mit Plastik bis hin zur Versauerung der Meere.
Auch die Klimakatastrophe samt ersten Kipppunkten ist eingeloggt. Wir haben zwar noch in der Hand, wie schlimm es wird, aber die Tür zurück ins Holozän ist für immer zu. Die Hoffnung, dass wir die Ökosysteme dieses Planeten in einen „natürlichen“ oder „unberührten“ Zustand zurückversetzen können, ist geplatzt.
Wenn es kein Zurück mehr gibt, ist es dann nicht nur folgerichtig, den Pflanzen und Tieren bei der Anpassung an das „neue Normal“ zu helfen und sie so vor dem Aussterben zu bewahren? Mit Assisted Evolution tun wir Menschen genau das: Wir verändern Organismen so, dass sie für die von uns verursachten planetaren Krisen gewappnet sind.
Das macht uns zu Regisseur*innen des Lebens: Wir entscheiden, wer künftig überhaupt noch eine Rolle spielen darf, wer überlebt und wer nicht. Wir wählen die Gewinner des Anthropozäns.
Den Genen unter die Arme greifen
Menschen kreieren schon seit Ewigkeiten künstliche Ökosysteme und Arten, insbesondere in der Landwirtschaft. Solche Eingriffe sind aber immer auf den Nutzen für uns Menschen ausgerichtet. Es wäre ein großer Unterschied, diese Strategien im Namen des Naturschutzes einzusetzen. Derart in die Natur eingreifen – zum Wohle der Natur. Sollten wir das tun?
Im Falle des Zwergbeutelmarders entschieden sich die Biolog*innen aus Perth für: Ja. Sie stellten fest, dass einige von den Tieren im Osten Australiens die Kröten-Invasion überlebten und sogar eine Abneigung gegen die Amphibien entwickelten. Daraufhin kreuzten sie diese Tiere mit anderen Zwergbeutelmardern, bei denen die giftigen Kröten noch auf dem Speiseplan standen. Die Nachkommen verschmähten die Kröten ebenfalls und sollten in den Westen Australiens umgesiedelt werden, damit sich ihre Gene verbreiten können, bevor die giftigen Amphibien dort ankommen.
„Assisted Gene Flow“ nennt man diese Methode, mit der bestimmte Gene schneller verbreitet werden sollen als durch natürliche Evolution.
Vor kurzem habe ich den sogenannten „Klimawald“ in der Nähe von Berlin besucht. Ein Biologe hat dort Rotbuchen aus ganz Europa angepflanzt, um sie „gegeneinander antreten“ zu lassen. Rotbuchen leiden nämlich besonders stark unter der Klimakrise, in Deutschland haben nur noch 15 Prozent (Öffnet in neuem Fenster) des Bestandes eine gesunde Krone. Sind Buchen aus Italien oder Spanien vielleicht besser gegen die Trockenheit gewappnet als deutsche?
Tatsächlich schlagen sich Rotbuchen aus Sizilien besonders gut. Ihre Gene würden es allerdings von alleine nie nach Deutschland schaffen, weil die Alpen im Weg sind. Müsste man hier dann nicht auch, genau wie bei den Zwergbeutelmardern, ein wenig nachhelfen und Buchen von südlich der Alpen nach Norden holen?
Den Code des Lebens hacken
Auch beim Genfluss von Korallen führen wir bereits Regie. Aus gutem Grund: Bei zwei Grad Erderhitzung würde es sonst wohl keine Korallen mehr geben. Erst kürzlich startete ein Programm (Öffnet in neuem Fenster) zur Rettung eines 193 Kilometer langen Riffs an der Westküste Hawaiis. Forscher*innen machten sich auf die Suche nach Individuen, die Hitze besser aushalten als andere.
Mit diesen werden nun hitzeresistente Larven gezüchtet (ja, die Nesseltiere vermehren sich über freischwimmende Larven), die dann wieder in die Riffe ausgesetzt werden sollen. So werden schließlich Korallen anwachsen, die in der Klimakrise bessere Karten haben, hoffentlich.
Statt dem Genfluss innerhalb einer Art zu helfen, wie beim Assisted Gene Flow, könnte man auch unterschiedliche, aber verwandte Arten miteinander kreuzen. Dieser Ansatz wird Hybridisierung genannt und kann die genetische Vielfalt schnell erhöhen. Das kann gerade dann hilfreich sein, wenn es von einer bedrohten Art nur noch wenige Individuen und damit einen gefährlich kleinen Genpool gibt. Man nimmt aber auch in Kauf, dass man Hybride und damit quasi neue, künstliche Arten kreiert. Die Identität der Arten, die man eigentlich retten wollte, geht verloren.
Auch sonst hat der Platz im Regiestuhl der Evolution seinen Preis. Wenn wir in den Plot der Natur eingreifen und die Kontrolle verlieren, könnte schnell ein Horrorfilm daraus werden. Etwa dann, wenn wir Arten aus Versehen mit genetischen „Superkräften“ ausstatten. Dann könnten sie invasiv werden und Konkurrenten verdrängen. Die Artenvielfalt würde sinken und es wäre mehr verloren, als man gewinnen konnte.
Die Züchtung von erwünschten Eigenschaften könnte Pflanzen und Tiere aber auch schwächen. Die Evolution hat verschiedene Arten schließlich so ausgestattet, dass sie in ihrer ganz bestimmten Nische gut zurechtkommen. Kreuzt man Individuen, die sich genetisch extrem unterscheiden, könnten vorteilhafte Merkmale verlorengehen (was man übrigens Auszucht-Effekt nennt – das Gegenteil von Inzucht). Dann wären Korallen vielleicht resistenter gegen Hitze, aber zum Beispiel anfälliger für bestimmte Krankheiten.
Darling, darf’s ein bisschen Weizen sein?
Was, wenn wir die Evolution noch drastischer manipulieren könnten? Mithilfe von Gentechnik können wir das tatsächlich. Damit greifen wir einfach direkt in das Erbgut von Organismen ein. Ein relativ neues Tool in diesem Werkzeugkasten ist die Genschere CRISPR-Cas9. Damit lassen sich Genabschnitte gezielt ansteuern und entweder herausschneiden oder mit anderen erwünschten Genen ersetzen.
Korallen zum Beispiel haben bestimmte Gene, die beeinflussen, wie tolerant die Tiere gegen Hitze sind. Mit Crispr könnte man diese Gene gezielt manipulieren, um Korallen klimafest zu machen. Auch im „Klimawald“ in Berlin wird untersucht, ob Rotbuchen so etwas wie Hitze-Gene besitzen. Kann man sie identifizieren, wäre es hier theoretisch auch möglich, die Genschere anzusetzen.
In den USA wurde auf ähnliche Weise bereits in das Erbgut des Amerikanischen Kastanienbaums eingegriffen (zwar noch nicht mit Crispr, aber mit anderen gentechnischen Methoden (Öffnet in neuem Fenster)). Die Kastanie war bis Anfang des 20. Jahrhunderts im Nordosten Amerikas eine der Hauptbaumarten. Doch dann wurde ein Pilz eingeschleppt, der sogenanntes „Kastanienrindenkrebs“ verursacht. Der klingt schon so, als wolle man ihn als Kastanie auf keinen Fall bekommen. Und tatsächlich raffte der Pilz innerhalb von 50 Jahren mehr als drei Milliarden Bäume (Öffnet in neuem Fenster) dahin.
Forscher*innen versuchen bereits seit Jahrzehnten, Kastanien zu kreieren, die gegen den Pilz resistent sind. Einige machten sich schließlich zunutze, dass andere Pflanzen schon eine Resistenz gegen denselben Erreger entwickelt hatten – zum Beispiel Weizen. Sie entschieden sich dazu, ein Weizen-Gen in die Kastanie einzuschleusen (Öffnet in neuem Fenster). Ihre Versuche führten sie an einer bestimmten Abstammungslinie der Kastanie durch, genannt „Darling 58“. Am Ende sollte diese Linie, so das Ziel, resistent gegen den Pilz sein.
Zunächst sah das Vorhaben vielversprechend aus. Man pflanzte die Weizen-Kastanien in Feldversuchen an und leitete sogar ein (bis heute laufendes) staatliches Genehmigungsverfahren ein, damit die Bäume großflächig angepflanzt werden können. Sie wären die erste gentechnisch erzeugte Pflanze, die zur Erhaltung einer bedrohten Art angesiedelt wird. Doch nach und nach wurde klar, dass irgendetwas nicht stimmte.
Herumpulende Affen
Zahlreiche Kastanien wuchsen nicht richtig in die Höhe, andere waren nicht resistent gegen den Pilz und wieder andere entwickelten gekräuselte, braune Blätter. Woran konnte das nur liegen?
Die Forscher*innen untersuchten das Genom (Öffnet in neuem Fenster) der Bäume und machten eine böse Entdeckung: Das waren gar keine „Darling 58“-Kastanien. Sie hatten mit einer falschen Linie gearbeitet, mit „Darling 54“. Offenbar hatte es einen Fehler beim Labeln der Varianten gegeben. Man hatte das Weizen-Gen auch noch an der falschen Stelle eingebaut und dabei ein Gen gestört, das die Salz- und Trockentoleranz des Baums regelt.
Sollten wir einer Spezies, die versehentlich Aufkleber vertauscht, wirklich erlauben, mit den genetischen Codes von Lebewesen zu experimentieren?
Fahrlässigkeit ist eine Sache. Es gibt aber noch ein anderes, fundamentales Problem mit solchen Methoden: Oft basieren sie auf bestimmten Vorhersagen.
Was, wenn wir zum Beispiel mit einem gewissen Grad an Erderhitzung rechnen und deshalb großflächig Bäume in Mitteleuropa anpflanzen, die gut mit Trockenheit zurechtkommen? Und was, wenn dann die atlantische Umwälzzirkulation (AMOC) kippt? Dass das in gar nicht so ferner Zukunft passieren könnte, haben wir schon in Ausgabe #75 (Öffnet in neuem Fenster) geschrieben. Große Teile Europas würden sich in wenigen Jahrzehnten drastisch abkühlen – und unsere neuen Super-Baumarten wären völlig fehl am Platz.
Egal, wie fortgeschritten unsere Modelle auch sind, wir können uns nie sicher sein, wie sich Ökosysteme verhalten und entwickeln werden. Dafür sind sie einfach zu komplex. Das heißt auch, dass es immer ungeahnte Folgen haben wird, wenn wir in die Evolution eingreifen. Ein Blick auf vergangene Versuche, die Natur zu manipulieren – Darling 54 und die Aga-Kröten lassen grüßen – macht das mehr als deutlich.
Sollten wir diese Grenze wirklich überschreiten?
Mit Assisted Evolution ist es ein bisschen so wie mit CCS-Technologien. Es ist eine Lösung, die vom eigentlichen Problem ablenken kann. Wenn wir anfangen, die Natur zu designen, könnte das ein fatales Signal senden. Nämlich, dass wir alles im Griff hätten und die Folgen der planetaren Krisen schon irgendwie auffangen könnten. Warum also nicht weitermachen wie bisher? Dann würde Assisted Evolution genau das aufrechterhalten, was die planetaren Krisen überhaupt erst verursacht: die Beherrschung und Ausbeutung der Natur.
Und da ist noch eine Sache: Wir fragen uns, ob Assisted Evolution vertretbar ist, sprechen über Risiken, überlegen hin und her … aber hat irgendwer eigentlich mal nachgefragt, bei den Pflanzen und Tieren, an denen wir herumdoktern? Sind die wirklich cool damit? Ich finde, wir sollten versuchen, auch ihre Bedürfnisse zu sehen. Schließlich sind sie eigenständige Wesen, die vielleicht gar keinen Bock darauf haben, dass ein paar größenwahnsinnige Affen an ihren Genen herumpulen.
Manche indigene Völker sehen das Problem genau darin, dass wir nicht-menschliche Wesen übergehen, wie eine Sprecherin des Indigenous Environmental Network einem US-amerikanischen Radiosender (Öffnet in neuem Fenster) sagte: Assisted Evolution sei einfach nur ein weiteres Beispiel dafür, wie (westliche) Menschen versuchen, die Natur zu dominieren.
Der moralisch richtige Weg wäre dagegen vielleicht, von unseren Regiestühlen aufzustehen und ansonsten gar nichts zu tun. Und uns einzugestehen, dass wir überhaupt nicht in der Lage sind, den Schaden, den wir schon angerichtet haben, zu reparieren.
Vieles würden wir dann verlieren und das wäre unendlich schmerzhaft. Aber vielleicht sind verrottende Kastanien-Bäume, in denen sich noch ein paar Beuteltiere verkriechen können, immer noch besser als Plantagen voller falscher Darlings.
Vielen Dank fürs Lesen! Auch für diese Ausgabe haben wir viel Zeit ins Recherchieren, Schreiben, Redigieren und Layouten gesteckt. Wenn Du unsere Arbeit wichtig findest und Du sie unterstützen möchtest, werde Treibhauspost-Mitglied auf Steady. Wir freuen uns riesig!
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Der Titel unseres Klimasongs für diese Ausgabe liest sich so, als wäre er den amerikanischen Kastanien gewidmet: Fake Plastic Trees von Radiohead (Öffnet in neuem Fenster).
Her green plastic watering can
For her fake Chinese rubber plant
In the fake plastic earth
That she bought from a rubber man
In a town full of rubber plans
To get rid of itself
Wir verabschieden uns in eine kleine Winterpause und melden uns mit der nächsten Ausgabe am 11. Januar wieder zurück. Hab ein schönes Jahresende und hoffentlich ein paar entspannte Tage.
Herzliche Grüße
Manuel
PS: In der aktuellen Folge von Pod der guten Hoffnung war eine ziemlich hoffnungsstiftende Person zu Gast: die „Omas for Future“-Aktivistin Katharina Dietze. Hier geht’s zum Gespräch mit ihr auf Spotify (Öffnet in neuem Fenster). (Alternativ kannst Du im Podcast-Player Deiner Wahl einfach nach „Pod der guten Hoffnung“ suchen.)
PPS: Falls Du noch ein Weihnachtsgeschenk suchst – wir finden unser Sammelband Unlearn CO₂ würde sich hervorragend unterm Weihnachtsbaum machen. Auf Genialokal (Öffnet in neuem Fenster) kannst Du das Buch direkt bei lokalen Buchhandlungen bei Dir um die Ecke bestellen. 🎁
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