Das Coming Out der Arschlochgesellschaft
[Generiert mit Stable Diffusion; prompt: "a group of sausages waving german flags"]
22.06.2023
"Jedes Arschloch muss sich outen. Man muss es seiner unmittelbaren Familie sagen. Sie müssen es Ihren Verwandten sagen. Sie müssen es Ihren Freunden sagen, wenn sie wirklich Ihre Freunde sind. Sie müssen es den Menschen sagen, mit denen Sie arbeiten. Sie müssen es den Leuten in den Geschäften sagen, in denen Sie einkaufen. Wenn sie begreifen, dass so viele von uns Arschlöcher sind, dass wir tatsächlich überall sind, wird jeder Mythos, jede Lüge, jede Anspielung ein für alle Mal zerstört werden. & wenn ihr das tut, werdet ihr euch viel besser fühlen.”
Frei nach dem schwulen Aktivisten und Politiker Harvey Milk
Liebe Leute,
heute mal: Empathie mit Rechten. Stellt Euch vor, Ihr wärt Arschlöcher.
“WAAAAS, wieso Empathie mit Rechten?”
Weil man nicht besiegen kann, was man nicht verstanden hat, und wenn Euch der derzeitige Rechtsruck, die Faschisierung Deutschlands, Europas und zunehmend weiter Teile der Welt genau so stresst, wie sie mich fertig machen, wenn Ihr auch der Meinung seid, dass es auf Faschismus nur eine Antwort geben kann: solidarischen, massenhaften und effektiven antifaschistischen Kampf, dann müsst Ihr auch den Wunsch teilen, die Faschos zu besiegen, also auch, sie zu verstehen.
Also nochmal: stellt Euch vor, Ihr wärt Arschlöcher. Sagen wir mal, Ihr haltet Menschen anderer Hautfarbe für grundsätzlicher weniger wert oder menschlich, als Euch und Eure. Oder vielleicht seid Ihr Männer, die gerne mal ihrer Frau eine langen würden, wenn die sich daneben benimmt. Oder Ihr wollt auf der Straße zwei Männern, die Händchen halten, laut “Ihr widerlichen Drecksschwuchteln” hinterherrufen. Stellt Euch vor, Ihr seid die Art von Mensch, am einfachsten: Mann, die mit diesem ganzen Klimascheiß nix, aber auch gar nix anfangen kann, die sich fragt, was diese autoritären Ökonazis in Eurer Küche und Euren Gewissen zu suchen haben. Und stellt Euch vor, dass es von Euch ganz, ganz viele gibt.
50 Jahre linksgrüner Kulturhegemonie
Aus der Perspektive so eines Menschen, also in unserem Gedankenexperiment aus Deiner Perspektive, sehen die letzten 50 Jahre tatsächlich ziemlich düster aus, zumindest auf der äußerst wichtigen alltagskulturellen Ebene: wie erlebst Du Dein Leben auf Arbeit, im Verein, wie erlebst Du Dein zu Hause? Denn während die Linksgrünen zwar immer darüber winseln, sie hätten alle möglichen sozioökonomischen Kämpfe verloren (da gelten dann Stichworte wie “Neoliberalismus”, Umverteilung von unten nach oben und anderer kommunistischer Nonsens), haben sie doch in Wahrheit ständig gewonnen, haben Dich und Deine Lebensweise immer weiter in Frage gestellt, zurückgedrängt, delegitimiert – musstet Du immer mehr ein Leben führen, in dem Du Dich für immer mehr von dem, was Du bist, schämen musstest, oder Dich zumindest nicht mehr so offen zeigen konntest, wie das doch Dein Geburtsrecht ist: N-Wort öffentlich benutzen? Wirst sofort gencancelt. Ner Frau ein paar Komplimente machen? Gleich ne Anklage wegen sexueller Belästigung. Schwule auslachen? Die Leute halten Dich gleich für irgendne Art Neanderthaler, nur, weil Du aussprichst, was, wie Du weist, ganz viele Denken: dieses Pack soll seine Abartigkeiten zu Hause pflegen, und Dir nichts aufs Brot schmieren.
Die Schwulen, hast Du gehört, haben dafür sogar nen Begriff, für diese Art des verheimlichten, beschämten, und sich deshalb scheiße anfühlenden Lebens: “in the closet”, im Schrank sein, sich nicht offen und ehrlich zeigen können.
Und... sorry, hier muss ich kurz mit dem Stilmittel des reflexiven Quasimonologs eines rechten Arschlochs brechen, weil... für mich als hiv-positivem, schwulem Klimakommunisten Scham einfach ein viel zu großer Bestandteil meines Lebens war, um darüber in einer anderen Stimme zu sprechen, als meiner eigenen.
Im Schrank der Scham
Also, dieses “living in the closet” fühlt sich megascheiße an. Ich wünsche Euch, dass Ihr das nie erlebt habt, dieses Gefühl, dass Ihr einen wichtigen Teil von Euch verheimlichen müsst – vielleicht vor Euren Arbeitskolleg*innen, vielleicht vor Freund*innen und Familie, vielleicht (dies ist der tiefste und gefährlichste Teil des Schranks) sogar vor Euch selbst. Dass Ihr Euch schämen müsst, oder zumindest schämt, wenn Ihr diesen Teil von Euch ehrlich zeigt, wenn Ihr nicht die seid, die Ihr sein solltet, sondern Ihr selbst seid. Aber tbh, wenn Íhr diesen Newsletter lest ist es wahrscheinlich, dass Ihr das Gefühl zumindest ein Bisschen kennt.
Scham (Öffnet in neuem Fenster) ist „das Bewusstsein, (besonders in moralischer Hinsicht) versagt zu haben, (eine) durch das Gefühl, sich eine Blöße gegeben zu haben, ausgelöste quälende Empfindung“. Scham ist ein autoritäres, vom Über-Ich produziertes, das sich-schämende Subjekt infantilisierendes Gefühl. Scham ist eine extrem effektive gesellschaftliche Kontrollstrategie, weil es die Kosten der Kontrolle in das zu kontrollierende Subjekt hinverlagert.
By the way: natürlich vergleiche ich hier nicht Queerness – die zwar nicht per se angeboren, aber doch eine vom Subjekt nicht bewusst veränderbare Variable ist – mit dem ethisch-nicht-satisfaktionsfähigem Arschloch-Sein rechter Menschen – denn dies lässt sich durchaus vom Subjekt ändern. Ich vergleiche aber den emotionalen Affekt, den ein Subjekt fühlt, dessen Werte, Normalitätsvorstellung, Begierden sich von denen einer mehrheitlichen, gar hegemonialen Gesellschaft so sehr unterscheiden, dass ihre Artikulation, das Ausleben dieses Teils einer Person, zu sozialen Sanktionen, von abwerten Blicken hin zu verbalen oder anderen Übergriffen hervorruft. Ich vergleiche Scham mit Scham, nicht die Ursachen der Verhaltensweisen, die geshamed werden, oder die ethische Legitimität dessen, was qua Scham (im psychologischen Sinne) “unterdrückt” wird.
Aber: wer Scham, ihre zersetzende Kraft, und die möglichen Gegenreaktionen darauf verstehen möchte, sollte darüber unter anderem mit queeren Menschen ins Gespräch kommen, denn wir haben erhebliche Erfahrung damit, wie es sich anfühlt, im beschissenen Zustand des dauernden Geshamt-Werdens zu leben (wie gesagt: ganz abstrahiert davon, ob das Verhalten, das geschamed wird, tatsächlich sanktionswürdig ist). Gerade weil Scham sich so unglaublich schrecklich anfühlt, weil sie das ganze Subjekt, nicht nur einzelne Handlungen in Frage stellt (Schuld sagt: das war schlecht; Scham sagt: Du bist schlecht), ist ein Angebot, dass es Dir ermöglicht, dem Zustand des Dich-Schämens dauerhaft hinter Dir zu lassen, ein so unglaublich attraktives. Daher Stonewall, daher queer Bewegungen, daher Christopher Street Day und Pride Month.
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Ich finanziere meine politische Arbeit vor allem über diesen Blog, und wäre dankbar für Deine Unterstützung
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Zeitenwende: Der Anfang vom Ende rechter Scham
Zurück zum Gedankenexperiment “Empathie mit Rechten”: Du hast also Jahre, jahrzehntelang in einem aus Deiner Perspektive immer solideren, immer besser schallgeschützten, Dich immer mehr von der Gesellschaft distanzierenden Schrank der Scham gelebt. Du kannst, Du willst Dich nicht ändern, egal, wie oft sie Dich mit veganhomotranslastenradklimakommunistischer Propaganda vollballern, aber Du kannst auch nicht offen der sein, der Du bist. Das baut enorme Frustration auf, ein Gefühl von Ungerechtigkeit und Unterdrückung – weil Du ja eigentlich nicht einsiehst, warum Du Dich schämen solltest, aber weil Scham immer zwischen Umfeld und Subjekt produziert wird, kannst Du Dich auch nicht alleine “entschämen”.
Aber die Kavallerie naht, der Entsatz, und zwar in Form Vladimir Putins und seines Überfalls auf die Ukraine. Don't worry, ich will hier nicht alle “Rechten” als 5. Kolonne des russischen Klerikalfaschismus beschreiben, sondern darauf verweisen, dass mit dem Beginn des Krieges im Osten die deutsche Gesellschaft begann, sich unter einem neuen “Master Signifier”, einem neuen zentralen Zeichen zu organisieren: dem des Krieges (Öffnet in neuem Fenster). Hatte die Klimabewegung es in den Jahren zuvor, sogar in der Coronazeit, noch geschafft, auf immer mehr gesellschaftliche Debatten Einfluss zu gewinnen – der Versuch war natürlich, “Klima” zum master signifier zu machen, zum Thema, zu dem sich alle anderen Themen verhalten müssten – organisierte die Gesellschaft sich nun zum Krieg, einer (entschuldigt die etwas platte Analyse) traditionell männlichen Aktivität, und einer, die es erlaubte, alle anderen Ansprüche sehr weit in den Hintergrund zu drängen.
So begann, zumindest in dieser Geschichte, das Ende der linksgrünen normativen Hegemonien am 24.2.2022, als ein anderes, ein stärkeres Symbol als Klima, als “gesellschaftlicher Fortschritt”, als “Gleichheit” über dem Firmament der Gesellschaft auftauchte. Von da an ging alles relativ schnell: die Aktionen der Letzten Generation boten vielen die Entschuldigung für Enthemmung im Alltagsverhalten, dort wurde zum 1. Mal weiträumig das “wir haben fertig mit Klima, wollen einfach nur normal weitermachen/zur Arbeit kommen/etc.” artikuliert, das auf der normativen Ebene den Allgemeinheitsanspruch der Klimaagenda aufhob; die Neuköllner Sylvesternacht, mit praktischer Mithilfe von der Merz-CDU und anderen “Mitte”-Akteuren, machte es wieder akzeptabel, offen rassistisch zu sein (“kleine Paschas”, etc.); das Scheitern jeder relevanten #metoo-Ansprüche in Deutschland (Schweiger, Linnemann) zeigt, dass patriarchales Schwein sein im Kern rehabilitiert worden ist; aber es war schlussendlich der Kampf, auf der politischen Makroebene, um das Gebäudeenergiegesetz, in dem “beide Seiten” alle ihre Truppen an den Start brachten (sogar ich “Grünenbasher” versuchte, Graichen und das Gesetz mit meinen begrenzten Mitteln zu supporten), in dem die Gegenseite triumphierte.
Während ein riesiger Shitstorm gegen die LG und Klimaaktivismus im allgemeinen lief, Graichen und das GEG zu Fall zu bringen zeigte, völlig jenseits der Frage handwerklicher und politischer Fehler des Gesetzes, dass “Klimafortschritt” auf keiner Ebene, durch keinen Akteur zu erzielen war. Und da die Klimaagenda notwendigerweise die aggressivste Transformationsagenda sein muss, die Klimabewegung die mit Abstand stärkste (einzige verbleibende?) mobilisierungsstarke progressive Bewegung hierzulande ist, und mit den Grünen ein Akteur in der Regierung, der sich die symbolische Kernkompetenz Klima zuschreibt, war dies, der Fall des GEG, sozusagen das Waterloo der Klimas und des “linksgrünversifften” Projekts im Allgemeinen.
2023: Das Coming Out der Arschlochgesellschaft
In Deinem Alltag heißt das: plötzlich hörst Du überall Menschen Dinge sagen, die Du auch schon ganz lange so sagen wolltest, aber Dich wegen der Öko- & Gendernazis nicht getraut hast. So wie die Pechstein wolltest Du schon immer über “Sinti und Roma” reden (pah, Sinti und Roma – bei Dir heißen die so, wie sie immer schon hießen!); so wie der Hubsi in Erding wolltest Du schon immer klarmachen, wo Du die grüne Agenda hinstecken willst; so wie der eine da in seinem BMW, der fast einen von den Klimaklebern überfahren hätte, würdest Du auch gerne handeln.
Was Du dann spürst, ist folgendes: während in Dir diese Gedanken, Gefühle und Werte immer noch (abnehmend) schambeladen sind, siehst Du diesen Menschen an, spürst es ihnen förmlich an, dass sie die selben Werte haben, sich dafür aber nicht schämen, sondern sich von dieser Scham im Moment der Artikulation ihrer Wahrheit selbst befreien, und sich damit selbst ermächtigen. Diese Gefühle – Befreiung und Selbstermächtigung – “resonnieren” in Dir, schaffen in Dir Resonanz, sympathische Schwingungen, denn Du willst sie auch spüren: Befreiung von der Scham, die Selbstermächtigtung dazu, auszusprechen, was Du schon immer fühltest, was schon immer richtig war. Du siehst und spürst, wie diese Menschen aufblühen, wenn sie sich aus dem linksgrünen Zwangsschrank befreien, und Du willst genau das selbe spüren.
Also sagst Du auch, was Du sagen willst, tust, was Du tun willst: N-Wort, Homos bashen, Frauen angrapschen, Klimaklebern eine kleben, Schnitzel essen, 240 in der Fußgängerzone fahren... Scheiß drauf, endlich kannst Du sein, wer Du sein willst, und das ist, by the way, auch die Bedeutung dieses abgefuckten Freiheitsbegriffs, den die Arschlöcher immer vor sich hertragen. Das ist kein kohärenter Freiheitsbegriff, der rational, im Kant'schen Sinne, als die ethische Basis einer Gesellschaft fungieren könnte, es ist ein “frei zu sein, wer ich bin”-Begriff, ein Begriff von Befreiung, nicht von Freiheit.
Dieser Schritt, von der im Wortsinne beschränkten, beschämten Existenz hinein in die befreite, ist in seiner Wucht nicht zu übertreiben, und wir dürfen ihn nicht unterschätzen. Nach dieser ersten öffentlichen Erklärung ist es, als ob ein Damm gebrochen wäre: Wenn die Menschen, die von der Tat hören, erkennen, dass ihr "Widerstandstranskript" gesprochen wird, kann es zu einer Ausbreitung von derartigen “Outings” kommen, die sich für das Individuum wie ein Dammbruch anfühlen, und sich gesellschaftlich auch genau so verbreiten. Darin liegt die Erklärung für die Plötzlichkeit und Gleichzeitigkeit des Rechtsrucks über verschiedene Policyfelder hinweg, denn er bezieht sich auf die grundsätzlichen Wertigkeiten dieser Gesellschaft, und Arschlöcher gibt's nunmal in jedem Policyfeld, im Grunde sind ihnen die Felder egal – es geht darum, dass sie jetzt endlich schamfrei sie selbst sein können, ihren rassistischen, toxisch männlichen, nationalegoistischen und anderen Werten freien Lauf lassen können.
Der “Stolzmonat”
Ihr wisst vielleicht, dass derzeit Pride Month ist – aber wenn Ihr nicht auf Twitter seid, wisst Ihr bestimmt nicht, dass rechte Trolle dort eine Kampagne namens “Stolzmonat” losgetreten haben, in dem sie versuchen... Ja, was eigentlich? Zuerst wirkte es auch mich wie ein recht hilfloser Versuch, “unseren” Pride Month zu kapern, indem unter jeden queeren Pride Tweet ein “froher Stolzmonat”-Tweet getrollt wurde.
Gestern aber verstand ich endlich etwas: nein, hier geht es nicht um das Kapern unseres Monats – es ging um puren Neid, darum, dass die sich gerade befreienden rechten Arschlöcher etwas sahen, was sie auch haben wollten: Stolz darauf, was sie sind, wer sie sind, wie sie sind (Arschlöcher eben). Es war der pure Neid auf unsere Offenheit & Schamfreiheit. It wasn't antagonism - it was imitation as the sincerest form of flattery. Und da es bei Outings um Selbstbefreiung geht, konnten sie sich selbst das Event schaffen, dass sie brauchten, ohne es zu wissen: ein kollektives Massenouting als nationalegoistische Arschlöcher, einen Prozess, in dem sich Individuen horizontal, gegenseitig darin bestärken, was sie sind, und wer sie sind, und dass sie darauf stolz sein können. Das war der Stolzmonat.
Ein kurzer Gedanke noch zum Schluss, besonders für diejenigen, die die Wucht von Outings nie selbst erlebt haben: unterschätzt nicht die emotionale Wucht dieses Prozesses. Die Subjekte, die ihn durchlaufen, sind jetzt zumindest kurzfristig von den positiven Affekten Befreiung und Selbstermächtigung gestärkt, diese vermitteln und produzieren eine Energie und Stärke, die mit wenig vergleichbar ist. Die Arschlöcher sind jetzt “out of the closet”, und werden jede Vorwärtsbewegung von uns, ob diskursiv, policy, oder auf der Straße, als Versuch wahrnehmen, sie wieder “in den Schrank” zurück zu sperren.
Und wer einmal ein Outing erlebt hat, der weiß: there's no way back into the closet. Only over their dead bodies. Or, more realistically, ours.
Ich glaube, das heißt, dass wir uns auf ein paar sehr, sehr harte Monate einstellen müssen. Mehr dazu in den nächsten Wochen.
Euer Tadzio