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In einer toxischen Beziehung mit Sebastian

Immer noch verliebt: Die ÖVP ist Sebastian Kurz verfallen und kann sich von ihm nicht befreien. Warum kommt sie von dem gefallenen Jungstar nicht los?

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Jetzt ist in Österreich schon wieder etwas passiert. Für unsere Mitlesenden aus Deutschland und der Schweiz sei hier kurz zusammengefasst: Thomas Schmid, der frühere ÖVP-Strippenzieher, Generalsekretär im Finanzministerium und – danach – Chef der staatlichen Beteiligungsholding OBAG hat bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ausgepackt. Der frühere – laut Eigendefinition – „Prätorianer“ von Sebastian Kurz bemüht sich um den Kronzeugenstatus. Er hat sich selbst belastet und die halbe konservative Partei- und Wirtschaftselite des Landes dazu. 

Das Ganze ist zwar schlimm, weil vor allem schlimm ist, was in den vergangenen Jahren angerichtet wurde, seitdem Sebastian Kurz sich daran machte, mit einer verschworenen Jungmännerpartie aus moralbefreiten Zynikern an die Spitze des Staates zu gelangen, also seit etwa 2016, aber auch irgendwie erholsam. Jetzt zerfällt die Seilschaft der aufgeblasenen Gigantomanen und Großtuer vor aller Augen, und im Vergleich mit dem Rest der globalen Nachrichtenlage hat das auch etwas Unterhaltsames. Man kann über diese Typen irgendwie auch lachen, besonders, wie sie sich jetzt gegenseitig mit Schmutz bewerfen. Über den Krieg in der Ukraine, das menschliche Leid, die ökonomischen Katastrophen, die Eskalations- und Atomkriegsgefahr kann man beim besten Willen nicht lachen. Dass die ÖVP-Skandale jetzt wieder die Abendnachrichten beherrschen, ist deswegen fast ein wenig Urlaub von der deprimierenden Weltlage. 

Jetzt hat er es also getan – Thomas Schmid, der einstige Mister Wichtig, der Gott und die Welt kannte, Netzwerke knüpfte und Tag und Nacht kommunizierte, vorzugsweise per Textnachricht. Es ist der schlimmste Albtraum der ÖVP, und er ist wahr geworden. Schmid packt aus.

Seinen juristischen Ausgangspunkt nahm die ganze Causa 2019 mit der legendären Ibiza-Affäre. Thomas Schmids elektronischer Datenschatz – rund 300.000 Textnachrichten (!) – war bald die Quelle Nummer Eins für die Ermittler, die sie dann wieder auf neue Spuren brachte und neue Hinweise und Sachbeweise finden ließ. Schmid war nicht nur eine wichtige Drehscheibe in der türkisen ÖVP-„Familie“ (Eigendefinition) um Sebastian Kurz, er hatte auch eine extrovertierte und aufgeblasene Art, und ein schier endloses Mitteilungsbedürfnis. Und dann kam auch noch Pech hinzu, verschärft durch Vertrotteltheit: Als die Gefahr näher rückte, löschte Schmid zwar seine Mobiltelefone, vergaß aber das Backup auf einer Apple-Konsole. Schmid hat sogar auf Whatsapp stolz geschrieben, dass er alle seine bisherigen Whatsapp-Nachrichten gelöscht hätte. Der Mann ist offenkundig ein Talent. 

Sebastian Kurz musste im Vorjahr zurücktreten, nachdem auch gegen ihn wegen falscher Zeugenaussage vor einem U-Ausschuss und wegen Bestechlichkeit ermittelt wird. Es geht ganz allgemein gesagt um einen Ermittlungskomplex, der von Postenschiebereien bis Amtsmissbrauch und Untreue, von Bestechung bis Bestechlichkeit alles Mögliche im Angebot hat. Kurz wird als „Bestimmungstäter“ geführt, oder wie man im Zusammenhang mit anderen ehrenwerten Familien sagt, gewissermaßen als Pate. 

Bemerkenswert und erschütternd ist, wie die ÖVP seit dem Bekanntwerden der Kronzeugen-Aussagen von Schmid reagiert. Statt endlich aufzuräumen und sich von den miesen Machenschaften der Kurz-Ära zu distanzieren, geht die Partei sofort in Verteidigungsstellung, was auch heißt: Sie verteidigt weiter Sebastian Kurz. Thomas Schmid wird als Lügenbaron und Geselle dargestellt, der für seinen Vorteil seine Großmutter verkaufen würde, dem man noch nie ein Wort glauben durfte. Das mag schon sein, aber wenn er ein notorischer Lügner ist, der für einen Vorteil keine Ruchlosigkeit auslässt, dann qualifiziert ihn das ja geradezu zum ÖVP-Vorsitzenden, könnte man zynisch einwenden. Und wenn er so ein moralisch missratener Lügenbaron war, warum hat ihn dann eigentlich die ÖVP in höchste Ämter gehievt und gleichsam als Schattenfinanzminister walten lassen, der sich die Ressortchefs faktisch an der kurzen Leine hielt? 

Die ÖVP betreibt verzweifelte Schmid-Weglegung. 

Schmid wird jetzt als übelwollender Feind dargestellt, mit dem die ÖVP nichts zu tun hat. Noch ein paar Tage mehr, und die Parteisekretäre werden streuen, Schmid sei eigentlich von der SPÖ. 

Blockieren, Mauern, Vernebeln, das ist die panische Strategie der ÖVP, die gar nicht merkt, dass sie umso tiefer im Sumpf versinkt, je mehr sie hysterisch strampelt. 

All das ist nicht ohne Skurrilität. Nachdem Schmid aussagte, Kurz wäre in den Komplex aus Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit im Zusammenhang mit gefakten Umfragen und Liebdienerei und erkauftem Goodwill am Boulevard als Auftraggeber involviert gewesen, legte Sebastian Kurz den Mitschnitt eines Telefonats (genauer gesagt: dessen Transkript) vor, das er vor einem Jahr mit Thomas Schmid geführt habe. Dazu muss man wissen, dass zwischen den einstigen Seilschaftsbrüdern da schon tiefstes Misstrauen herrschte, was gut verständlich ist. Kurz musste ahnen oder zumindest befürchten, dass Schmid nicht endlos die Klappe halten werde, Schmid wiederum konnte damit rechnen, dass ihn "die Familie" fallen lassen könnte. Und Kurz konnte überdies nicht wissen, was sich noch an verhängnisvollen Spuren in den beschlagnahmten Chats und anderen Dateien finden werde.  

Schmid berichtet in seiner Aussage über ein Telefonat mit dem damaligen Finanzminister im Vorfeld dieses Gespräches: „Ich habe mit Blümel (Finanzminister unter Kurz, Anm.) telefoniert und ihn gefragt, ob er wisse, was Kurz wolle und ob dieser verwanzt sei. Blümel teilte mir mit, dass auch Kurz ihn angerufen habe und gefragt habe, ob ich verwanzt sei. Blümel hat dann gemeint, wenn wir schon so weit sind, dass es dann ohnehin schwierig wird.“

Es telefonierten also zwei Leute, die sich misstrauten, und die auch davon ausgehen mussten, dass der jeweils andere mitschneidet oder sogar die Ermittler abhören. Weder Kurz noch Schmid (er war noch Monate vor dem Entschluss, bei der Staatsanwaltschaft auszupacken), wollten dementsprechend etwas sie Belastendes in diesem Gespräch sagen. Das skurrile Telefonat liest sich wie ein Gespräch von zwei halbseidenen Gestalten, die nur ja nichts Verfängliches sagen wollen. Kurz drängt dann Schmid auffällig, in dem Gespräch kundzutun, dass Kurz ja nichts von all den Machenschaften gewusst habe – aber Schmid, der den Braten offenbar roch, vermied genau diese Aussage. Kurz setzt mehrmals nach. Schmid lässt sich nicht festlegen. Entnervt beendet Kurz dann das Telefonat. 

Mit diesem Transkript rennen die ÖVP und Kurz selbst jetzt durch die Republik und behaupten, es wäre eine Entlastung. Dabei ist es so ziemlich das Gegenteil davon. Es ist das Gespräch von zwei Leuten, die beide wissen, dass ihnen das Wasser bis zum Hals steht – und einer davon will unbedingt, dass ihm der andere eine Art Alibi aufs Band spricht. Das ist alles kein Verbrechen, aber in Sachen Glaubwürdigkeit schon sehr nahe am Nullmeridian. 

Minister, Parteisekretäre, Helferlinge, Unterläufer aus der ÖVP rücken seither aus, um entsprechend der innerparteilich offenbar ausgegebenen Sprachregelung Thomas Schmid als Lügenbaron darzustellen und Sebastian Kurz zu verteidigen. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (auch er ist übrigens von Schmid belastet) verstieg sich sogar zu der Formulierung, Kurz habe mit diesem Telefonat seine Nichtinvolvierung „bewiesen“. Diese Formulierung wäre schon für einen Parteisekretär recht haarsträubend, für einen Nationalratspräsident wäre sie in jedem zivilisierten Land ein ziemlich zwingender Rücktrittsgrund. 

So wird das aber nichts werden und konterkariert Karl Nehammers gleichzeitigen Versuch, die Affären als Sache der Vergangenheit darzustellen. Wenn du das nämlich willst, dann darfst du diese Vergangenheit nicht gleichzeitig verteidigen. Und schon gar nicht auf so leicht durchschaubare Weise. Die fragwürdige Strategie bleibt dem Publikum ja nicht verborgen. 

Die ÖVP ist kopflos, reagiert nur mehr instinktiv. Der Instinkt sagt: Abstreiten, andere angreifen, Vorwärtsverteidigung. Sie ist panisch und in einem Tunnelblick. Man kann das verstehen. Solange sie nicht den Befreiungsschlag schafft und aus dem Tunnel herauskommt, ist das die aus ihrer Sicht naheliegende Reaktion. Jeder sieht, so kommt sie nicht mehr raus – nur die Partei selbst nicht, weil sie die Realität nicht richtig wahrnimmt. Weil sie nicht mehr checkt, wie es eigentlich um sie steht. Dass die gegenwärtige Lage so ist, dass du nur mehr mit ehrlichem Aufräumen aus der Kacke raus kommst, nicht mehr mit Abstreiten. 

Die ÖVP weigert sich, die Realität ins Gesicht zu sehen, weil sie sich selbst nicht ehrlich eingestehen will, auf welche tiefe politische Abwege sie geraten ist. Sie verleugnet die Dimension des Geschehenen nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern vor allem vor sich selbst. Sie erklärt sich selbst, dass es nur „Einzelne“ gewesen seien, die falsche Dinge gemacht hätten (das waren aber schon ganz schön viele „Einzelne“, nebenbei gesagt). Sie erklärt sich selbst, dass die krummen Taten ja keine große Geschichten seien, eine Trickserei da, eine Trickserei dort, aber alles im Rahmen des schmutzigen Üblichen. Sie erklärt sich selbst, dass die krummen Touren ja erst einmal bewiesen werden müssen, und dass manche krumme Tour vielleicht einen Hautgout habe, aber nicht immer strafbar sei. So erklärt sie sich die Dinge schön, redet sie klein, bis sie zermahlt sind und nichts mehr übrig bleibt. Und sie sich die Wahrheit nicht mehr eingestehen muss. Sie belügt sich selbst.

Doch die bittere Wahrheit ist: Es wurden Dinge gedreht, manche größer, manche kleiner, die sich aber zu einem Gesamtbild summieren. Selbst wenn keine einzelne für sich genommen eine große Sache war, summiert sich alles zu etwas bisher nie Dagewesen. Sie hat sich einem Blender an den Hals geworfen, der wie Trump, Johnson, Orban und Co. fest überzeugt war, dass für ihn keine Regeln gelten, dass der Erfolg alles rechtfertigt. Sie hat sich euphorisch auch auf einen scharfen Rechtskurs führen lassen, der die Polarisierung, Hader und Zerrissenheit in der Gesellschaft vergrößerte, kalt die eigenen Vorteile kalkulierend, was zugleich eine Atmosphäre des inneren Bürgerkriegs verbreitete, in dem auch das Unerlaubte als lässliche Sünde erscheint, da ja der Sieg das ist, dem alles unterzuordnen ist. Man hat die gesetzliche Wahlkampfkostenobergrenze beinahe um das Doppelte (!) überschritten, man hat mit gefakten Umfragen gearbeitet, den Gegner mies gemacht, Steuergelder zugleich zweckentfremdet, um sich feiern zu lassen. Man hat den Staat als Eigentum behandelt. Man hat die Wahrheit verdreht, wie man es brauchte. Man hat die absurdesten Dinge behauptet, und darauf vertraut, dass Wahrheit und Lüge ja nur zwei Meinungen seien, und da kann ja jede etwas für sich haben. Man betrieb Politik mit Gefühlen, vornehmlich mit miesen, mit Aufhussen und Gemeinheit. Als man die Macht erobert hatte, übte man sie hemmungslos aus, drohte der Zivilgesellschaft, setzte die kritischen Künstler in Angst und Schrecken, organisierte sich gewogene Berichterstattung und bedrohte kritische Journalisten, wechselte sie dort aus, wo man direkt oder indirekt Zugriff hatte, und winkte mit dem ökonomischen oder juristischen Zaunpfahl, wo man eine gewisse Anpassung an die neuen Verhältnisse bewirken wollte. Das Land war nicht nur in der Hand einer Clique, sondern auf einer schiefen Bahn ins Autoritäre, die nur durch den Glücksfall der Ibizaenthüllungen gestoppt wurde. Sebastian Kurz hat zur Absicherung seiner Herrschaft einen schleichenden Staatsstreich begonnen, und die ÖVP, glückselig über den Erfolg, hat dazu gejubelt. Der Staatsstreich hat nur nicht funktioniert. Wegen Ibiza und den Dummheiten von HC Strache und Johann Gudenus. Die Maß- und Ruchlosigkeit der Machtausübung durch die Kurz-Truppe ist vom Rechtskurs und der Politik der Niedertracht nicht zu trennen. Und insofern sind auch die Affären und Gesetzesbrüche, die jetzt untersucht werden, keine „Einzelfälle“ im Rahmen einer Politik des üblichen Unsauberen.

Die bittere Wahrheit ist: Es sind nicht von „Einzelnen“ illegale Dinge getan worden, sondern die Dinge sind systematisch passiert, weil eine Seilschaft ans Ruder kam, die sich um Gepflogenheiten, Konventionen, Regeln, Gesetze, Demokratie und Legalität keine Gedanken mehr machte, die ein Wir-gegen-Sie etablierte, bei dem es für sie nur darauf ankam, dass das „Wir“ den Sieg davonträgt, brauche es dafür, was es wolle. 

In meinem Pamphlet „Herrschaft der Niedertracht“ habe ich das am Höhepunkt der Kurz-Ära so formuliert:

„Indem er keinen anderen erkennbaren politischen Willen hat als den, die Verkörperung des Zeitgeists zu sein, was nur ein anderes Wort für den Willen ist, an die Macht zu kommen und zu bleiben, verkörpert er in mehr als einem Wortsinn die Herrschaft der Niedertracht, völlig unabhängig davon, was er sich selbst dünkt und welche Illusionen er sich über sich selbst und seine Rolle zurechtlegen mag. Gestützt auf einen Klüngel moralbefreiter Prätorianer und reicher Gönner etabliert er eine Herrschaft, die die ökonomischen Privilegien einer kleinen Minderheit absichert und ausbaut und sich zugleich auf einen diskursiv erfundenen Volkswillen beruft, er nützt die rechtsradikale Radaupolitik als Hebel und unterwirft sich ihr im selben Moment, sichert sich aber zugleich in diesem Deal die führende Rolle. Er entmachtet die bisherigen Netzwerke, sodass spitze Zungen heute sagen, dass die ÖVP, die Österreichische Volkspartei, ja im Grunde an dieser Regierung gar nicht beteiligt sei, aber es ist eine Entmachtung, die diesem Spinnennetz gerade seine Privilegien garantiert. Wie der Fürst Tancredi in Lampedusas Leopard sagt er den ermatteten Etablierten und ängstlichen Korruptionisten des Ancien Regime: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert.“ Er kopiert die Anti-Establishment-Diskurse, um die Herrschaft des Establishments, das ihn trägt, abzusichern, er holt sich von diesem aber zugleich eine Carte Blanche, freie Hand, weil nur er der Kamarilla der Situierten, Gutvernetzten, den Gewitzten und Champagnisierern, den Kammer- und Hofräten, den Oligarchen und Kartellbrüdern ihre Vorrechte garantieren kann. Die Bourgeoisie hat nichts zu verlieren als ihr Geld. Indem er den Rechtsradikalen ihr Programm stahl, blockierte er ihren Aufstieg, aber indem er es tat, verschaffte er ihrer Politik eine Hegemonie von bis zu 60 Prozent bei den Wahlen. Indem er sie dadurch besiegte, dass er sie kopierte, lieferte er das Land ihrem Geist aus und machte sich zum Gesicht des autoritären Nationalismus, egal welche rosig gefärbte Geschichte sich dieser Meister der Ränke, Schliche und der pfiffig-schlauen Drehungen im Stillen über sich selbst wahrscheinlich erzählen wird.“

Die ÖVP muss damit abrechnen: Mit dieser autoritären Versuchung, der sie erlegen war, mit dem Geist des Trumpismus, mit dem Ungeist des „unser Sieg geht über alles und der Feind gehört geschlagen“, mit der Politik der Spaltung und den krummen Machenschaften, die in deren Zuge begangen wurden. Wagt sie das nicht, kommt sie aus dem Skandalsumpf nie heraus. 

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