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Polarisiert im Kopf

Wie zerrissen sind eigentlich unsere Gesellschaften? Sind nicht die stillen Vernünftigen die große Mehrheit? Und wie ticken die Radikalen? 

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Ein paar Hinweise zur Lektüre.

Viele politische Debatten sind vergiftet. Wenn etwas die verschiedenen Analysen verbindet, dann ist es eine Polarisierungsdiagnose. Gesellschaften seien gespalten, nicht nur in politischen Grundsatzfragen, oft liege der Spaltung eine tiefe lebensweltliche Aversion der „Lager“ zugrunde. Entlang von Links-Rechts-Ordnungen, aber auch entlang von Fragen wie weltoffen vs. protektionistisch oder Woke und Political Incorrect oder Etabliert versus Anti-Establishment oder was auch immer würden die tiefen Gräben verlaufen. Es handele sich um regelrechte zwei Stämme, wird gerne konstatiert, die sich bei jeder neuen aufkommenden Frage jeweils aufs Neue in die Haare kriegen, und dabei zugleich erstaunlich kompakt bleiben. Wer Donald Trump oder Victor Orban gut findet, hält oft auch Corona für ein ungefährliches Grippchen (oder eine Erfindung von Soros oder der Pharmaindustrie), ist im Ukraine-Konflikt eher auf Putins Seite und meint, dass die Sache mit dem Klimawandel übertrieben sei. Umgekehrt: Wer bei Covid-19 auf die Wissenschaft vertraut, ist im Konflikt mit der Ukraine im Zweifelsfall eher auf der Seite der Nato, die ja alles einigermaßen vernünftig mache in diesem gefährlichen Konflikt. Zugleich prügeln die beiden Seiten aufeinander ein. Auf Social Media, wo sowieso die Gereiztheit über die Besonnenheit siegt, gibt es die täglichen Gemetzel.

Das ist ja alles nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Jedenfalls nicht ganz so einfach. Ob die Spaltung tatsächlich so tief geht, oder ob es nicht dazwischen die vielen Grautöne derer gibt, die die Dinge von den verschiedensten Seiten betrachten, ist eine durchaus offene Frage. Oder genauer: Natürlich ist es keine offene Frage, natürlich ist das so. Nur sind die vielen Graustufen der „Mitte“ infiziert von den Exzessen der Ränder. Selbst die Vernünftigsten werden wütend und zornig, wenn sie viel ärgerlichen Unsinn lesen müssen. Dann greifen sie auch schon mal heftig in die Tasten. Oder auch nicht, was die Sache jedoch nicht besser macht: Sie greifen nicht in die Tasten, weil sie mit den dauergereizten Diskursen nichts mehr zu tun haben wollen. Sie werden zur stummen Mehrheit, und überlassen den Lauten, den Spinnern und den Wütenden das Feld. Sie kennen das ja alles.

In den vergangenen Wochen habe ich ein paar Texte geschrieben – ohne großem Vorsatz – die aber doch alle irgendwie um dieses Thema kreisen. Auf die möchte ich Sie heute hinweisen. Vielleicht interessiert Sie ja der eine oder der andere.

Für die taz habe ich in meiner monatlichen Schlagloch-Kolumne diesmal ein Loblied auf den Linksliberalismus gesungen.

„Victor Adler, der legendäre Gründer und Anführer der österreichischen Sozialisten im 19. Jahrhundert, war einmal von irgendeiner Partei-Unterorganisation eingeladen, um über das „Parteiprogramm“ zu reden. Seinem Freund Karl Kautsky berichtete er, dass „ein gescheiter Genosse“ hinterher gemeint habe, er – Adler – habe gar nicht „über“, sondern „gegen das Programm“ geredet. Tatsächlich habe er einige Phrasen und „Generalisierungen“ der eigenen Leute durch den Kakao gezogen, Schlagworte und Kraftmeierslogans. Bei anderer Gelegenheit gestand Adler ein, „dass ich mich bemühe, bei allen Dingen beide Seiten zu sehen“. Mentalitätsmäßig war Adler wohl das, was heutige junge Sektierer und Eindeutigkeitsfanatiker „Liberalo“ nennen. Also so eine Art „Linksliberaler“.

Was „Linksliberalismus“ heißt, ist sowieso nicht ganz klar. Ist damit eine umfassende Programmatik gemeint, eine weltanschauungsmäßige Eigenständigkeit? Dann gehört zu dieser ein Paket, das Demokratisierung umfasst, eine prinzipientreue Pro-Freiheitshaltung und eine im weitesten Sinne keynesianische Wirtschaftstheorie, die Wohlfahrt für alle, Regulierung wild gewordener Märkte erstrebt, aber auch skeptisch ist gegenüber Staats- und Planwirtschaft. Ein solcher grundlegender Linksliberalismus will Machtprivilegien schleifen und die Zwänge bekämpfen, die Menschen knechten – von Armut und Ungleichheit bis Konventionen und Diskriminierungen. Er versucht, Freiheit und Gleichheit zu verbinden.

Es gibt aber auch eine schwächere Form von „Linksliberalismus“, die mehr Mentalität und geistige Lebensform ist. So wie Adler: Der war ja nicht linksliberal. Er war ein Linker. Aber eben ein schlauer. Einer, der den simplen Phrasen und Eindeutigkeiten misstraute. Der bei allen Dingen „beide Seiten“ sah.“ Den vollständigen Text finden Sie hier. (Öffnet in neuem Fenster)

Ebenfalls für die taz habe ich die große Studie „Gekränkte Freiheit“ der Soziolog*innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey besprochen, die sich mit den eigentümlichen Bewegungen der „Querdenker“ beschäftigt haben. Sie verfolgen in ihrem Buch das Ziel

„diese erstaunlichen Seltsamkeiten zu ergründen, versimpelte antifaschistische Annahmen infrage zu stellen. Die diagnostizieren eine Bewegung des „libertären Autoritarismus“, die sicherlich nur eine kleine Minderheit der Gesellschaften in ihren Bann zieht, aber einen relativ großen Resonanzraum hat, der weit über die Ränder der Radikalen hinausgeht. Dieser Autoritarismus ist aus ihrer Sicht signifikant anders als alles, was wir an autoritären Bewegungen in der Geschichte kennen. Salopp gesagt: Es gibt darin viel mehr Antiautoritarismus, mehr Individualismus und Antikonformismus, als das in früheren Bewegungen dieser Art üblich war.

„Anders als klassische Rechte wollen die Menschen, die nun auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwachen, geradezu abwesenden Staat“, formulieren Autor und Autorin. Sie hängen auch keinem Führer an. Viele kommen aus alternativen oder auch gegenkulturellen Milieus oder zumindest aus sozialisierenden Umgebungen, in denen kritischer Eigensinn und Nonkonformismus prägend sind.“

Amlinger und Nachtwey haben ein Näschen für Anbiguietäten, spüren dem Antiautoritären im Autoritären nach und versuchen zu bestimmen, was da überhaupt geschieht. Menschen absentieren sich und dissoziieren sich von einem angeblichen „Mainstream“, rebellieren im Namen der zentralen Werte der spätmodernen Gesellschaft, nämlich „Selbstbestimmung“ und „Souveränität“. Sie haben sogar eine „grundlegende Skepsis gegenüber Autoritäten“, betrachten Freiheit als einen „individuellen Besitzstand“, sind an hedonistischen Werten orientiert. Feierte die alte Rechte das soldatische Opfer, kriegen die neuen Autoritären schon die Krise, wenn ihnen einmal ein Partywochenende entgeht. Hier gehts zu der umfangreichen Buchbesprechung. (Öffnet in neuem Fenster)

Lose mit dem Themenkomplex ist auch das Gespräch verbunden, das ich mit der deutsch-französischen Philosophin Véronique Zanetti für das Wiener Bruno-Kreisky-Forum führte (online only diesmal), die ein Buch über Kompromisse geschrieben hat. Kompromisse sind ja manchmal beliebt (etwa wenn lange Kriegsgegner endlich Frieden schließen), manchmal verpönt, weil man gern von lauen Kompromissen spricht und kompromisslerischen Leuten vorwirft, sie würden ihre Grundsätze aufgeben. Aber es sind auch die Kompromisse, die schlauen Balanceakte, die einer Polarisierung die Nahrung entziehen.

Das Gespräch mit Véronique Zanetti können Sie hier ansehen: 

https://www.youtube.com/watch?v=Viuz3vTDlxg (Öffnet in neuem Fenster)

Der Kompromiss würde alles verwässern, von guten Ideen bleiben in „lauen Kompromissen“ nichts als ein paar Fußnoten übrig, so die Klage. Kompromisse sorgen für Schneckentempo, wo es eigentlich schnell voran gehen müsste. Noch schlimmer sind die „faulen Kompromisse“, bei denen alle Seiten ihre Werte aufgeben, nur um einen kleinen, nichtssagenden Vorteil zu ergattern. Menschen gehen sogar Kompromisse mit sich selbst ein: Sie haben vielleicht bestimmte Werte, es ist aber unbequem, diese „kompromisslos“ zu verfolgen. Diesen und ähnlichen Fragen stellt sich die Bielefelder Philosophieprofessorin Véronique Zanetti in ihrem Buch „Spielarten des Kompromisses“. Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen: der Kompromiss und die Frage, wie labile Einigungen entstehen, seien in der Philosophie bisher weitgehend ignoriert worden. Zanettis Buch kulminiert in ein „Plädoyer für den Kompromiss“. Der Kompromiss ist selbst eine Tugend: er lebt von der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Vom Respekt füreinander. Und auch von der Anerkennung des Vorrangs einer friedlichen Lösung.

Schließlich noch eine kleine Analyse der jüngsten Wahlen in Österreich, nämlich der Landtagswahlen in Tirol und der Bundespräsidentschaftswahlen. Bei ersteren verlor die ÖVP, die seit Monaten im Skandalstrudel untergeht, deutlich – aber nicht vernichtend. Die Opposition gewann auch nicht gerade überzeugend dazu. Die Wählerinnen sind offenbar weder von den einen noch von den anderen besonders überzeugt. Bei den Bundespräsidentschaftswahlen gewann Amtsinhaber Alexander van der Bellen deutlicher, als angenommen, und ein anderer, eher nachdenklicher, linksliberaler Kandidat kam auf acht Prozent. Bundesweit addiert sich das auf knapp 66 Prozent der Stimmen. In Wien haben die beiden Mitte-Links-Kandidaten beinahe achtzig Prozent erreicht. Besonders interessant: Ein Viertel der Wähler, die vor sechs Jahren für den ultrarechten Kandidaten Norbert Hofer (FPÖ) stimmten, votierten diesmal für den ehemaligen Grünen-Chef Alexander van der Bellen. Warum immer sie das eine oder das andere getan haben, besonders polarisiert im Kopf können diese Leute eigentlich nicht sein. Mehr dazu hier (Öffnet in neuem Fenster)

Haben Sie noch einen schönen Tag!

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