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40 Stunden im Zug

Mein Leben als Friday-for-Future-Kid. Wir verdrängen den Klimakollaps immer noch. 

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Ich bin jetzt schon weit über Zwanzig und daher auch kein wirkliches Friday-For-Future-Kid. Aber irgendwie doch, wenn auch gemildert durch Inkonsequenz. Auto fahre ich kaum, meinen Energieverbrauch schränke ich weitgehend ein, beispielsweise heize ich nicht, während ich das schreibe. Das hat natürlich nicht nur mit der Klimakatastrophe zu tun, sondern auch mit Putin und trägt der Tatsache Rechnung, dass ich mich auch vor exorbitant hohen Energierechnungen ängstige. Und dass es sowieso ein extrem warmer Herbst ist. Und wenn irgendwie möglich, versuche ich auf das Flugzeug zu verzichten und setze auf die Bahn. In den vergangenen acht Tagen war ich in Rostock, Berlin, Bonn, Basel und dazwischen natürlich in Wien, wo ich wohne.

Hallo Ostsee!

In Rostock (exakter: In Bützow, was ein paar Kilometer entfernt ist) habe ich auf einer Tagung über das „Trauma Treuhand“ teilgenommen, wo ich einen etwas breiteren, perspektivischen Blick auf die traumatisierende Strukturkrise und Deindustrialisierung Ostdeutschlands in den 90er Jahren geworfen habe. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand hat seinerzeit für viel böses Blut gesorgt, die Vorgänge hatten viele unschöne Seiten, Korruption war im Spiel, Vorteilnahme großer Marktakteure, die Menschen in der DDR fühlten sich überrollt und ausgenommen, all das schien irgendwo zwischen großangelegtem Betrug und Inkompetenz abgewickelt zu werden.

„Abwicklung“ war sowieso eine Catch-Phrase, abgewickelt wurden jene Firmen, Branchen, Firmenteile, für die sich keine Investoren fanden, abgewickelt wurden auch Arbeitsplätze, also auch da, wo die Produktion gerettet und modernisiert wurde, gingen im Rahmen der Rationalisierung sehr viele Arbeitsplätze verloren. Aus der Perspektive der Betroffenen wurden quasi ihre Leben abgewickelt. Halbe Kohorten wurden in die Frühverrentung geschickt und fanden nie wieder in den Arbeitsmarkt hinein – und das waren noch die Glücklicheren. Viele wurden einfach arbeitslos und lebten jahrelang von der Stütze, ohne Aussicht auf eine Wende. Irgendwann wurde das in Hartz-IV unbenannt, was bald auch nicht mehr sehr viel schöner klang. Ganz generell fühlten sich viele von der BRD einfach übernommen, was ja einerseits eine schöne Sache war, die Rumänen oder Bulgaren hätten sich so eine starke Volkswirtschaft im Rücken gewünscht, aber andererseits war es auch eine Art von narzisstischer Kränkung. Die Ossis fühlten sich von den Wessis als dumme Kerle behandelt, die jetzt mal das tun sollen, was man ihnen erklärt, denn selbst verfügen sie ja über kein brauchbares Wissen, keine brauchbaren Erfahrungen, kein brauchbares Leben. „Treuhand“ wurde in diesem ganzen emotionalen Tohuwabohu zu einer Art Metapher, zu einem Begriff, in dem alles reingepackt wurde an Kränkungen, auch wenn das mit der Institution Treuhand gar nichts zu tun hatte. Was aber oft übersehen wird: Nirgendwo ist das mit dem Übergang zur Marktwirtschaft viel besser gelaufen, man denke an die Voucher-Privatisierungen in Tschechien oder an die kriminellen Mafia-Privatisierungen in Russland, die dazu führten, dass am Ende ein paar Oligarchen allen Reichtum besaßen und das ganze Land im Chaos versank (die Folgen sehen wir heute, denn das Chaos produzierte erst die Sehnsucht nach einem starken Mann, nach einem, der die Dinge regelt, nach einem, der wieder für Ordnung sorgt). Privatisiere einmal eine ganze Volkswirtschaft – ganz ohne Fehler und ganz ohne die Glücksritterei von einigen Betrügern wird das nicht ablaufen. Und was auch übersehen wird: Diese Prozesse des schnellen Strukturwandels, die über den Osten fegten, haben auch im Westen stattgefunden, nur eben nicht mit solcher Rasanz, nicht innerhalb weniger Jahre. Aber die Krise der saarländischen und österreichischen Eisen- und Stahlindustrie, die Krise der norddeutschen Werftindustrie, die Krise des Bergbaus in Nordrhein-Westfalen, die Schrumpfung der französischen Industrie, die Krisen in Großbritannien, in den USA, all das führte auch zu Verheerungen, ökonomischen und psychischen, sie sind mit Städten wie Detroit und Liverpool verbunden, und mit Leitindustrien, die innerhalb weniger Jahre untergingen.

Sei behutsam mit der DDR!

Was im Osten geschah, war eine Schocktherapie, aber doch gibt es zumindest strukturelle Ähnlichkeiten zu den länger andauernden Prozessen im Westen. In den fünf Bundesländern der ehemaligen DDR kamen dann noch ein paar psychologische Faktoren hinzu, neben dem Gefühl, man werde kolonisiert, das für Groll sorgte. Einer der Faktoren war ein seltsamer Patriotismus gegenüber der DDR, auch unter jenen, die das Regime bekämpften oder kritisierten. Uwe Johnson hatte diese eigentümliche Mentalität schon in den siebziger Jahren beschrieben, in einem Text namens „Versuch, eine Mentalität zu erklären“, in dem er feststellte: „In vielen Aussagen erscheint die DDR als fest umrissene personenähnliche Größe… Immer reden sie behutsam, um der DDR ja nicht wehe zu tun…“ In dieser Art von Rede wird – wurde – die DDR mit einer Form von Nachsicht belegt, „die man als Jüngerer einem Älteren erweist, anderer vermuteter Tugenden wegen.“

Bonn

In Bonn sprach ich im Rahmen eines einwöchigen Intensiv-Seminars zur Russland/Ukraine-Krise, mein Slot war da ein Nachmittag, ich sprach über mein Buch „Putin – Ein Verhängnis“. Also grosso modo darüber: Wer ist Putin, wie tickt er? Was wissen wir über ihn, über sein Denken, seine Seilschaften, seine Kamarilla – und über die Geschichte seines Aufstieges. Und wie ist die Aufstiegsgeschichte des „neuen Zaren“ (Steven Myers) mit der Geschichte Russlands der vergangenen vierzig Jahre verbunden, also mit Putins Rolle als KGB-Mann, mit Glasnost und Perestroika, mit der fantastischen Öffnungspolitik unter Gorbatschow und deren Scheitern, mit dem Entstehen einer Mafia-Ökonomie in den neunziger Jahren und den Anstrengungen, eine neue Ordnung zu etablieren. Und welche Ideologie bastelte sich Putin zurecht und welche Prozesse der Selbstradikalisierung setzten ein, bis eine expansionistische, aggressive Staatsdoktrin daraus wurde mit zunehmend faschistischen Tendenzen.

Basel

In Basel schließlich nahm ich am Vorabend des Parteikongresses der Schweizer SP zu einer Talkveranstaltung der parteinahen Anny-Klawa-Morf-Stiftung teil, es ging um meine Bücher „Die falschen Freunde der einfachen Leute“ und „Das große Beginnergefühl“, also die beiden Bändchen, die ich 2019 und 2022 in der Edition Suhrkamp herausbrachte.

Wien-Rostock-Wien-Bonn-Wien-Basel in einer Woche ist natürlich ein Reiseprogramm, das rein logistisch schon an den Grenzen des Machbaren geht. Nun kann man natürlich sagen, dass die Menschheit das ja nicht unbedingt braucht, aber als Autor lebst du auch nicht ganz unwesentlich von Vortragshonoraren und dergleichen, also die einfachste Replik auf den Einwand wäre jetzt natürlich: Schon möglich, dass die Menschheit es nicht braucht, aber ich brauche es, um Miete und Rechnungen zu bezahlen. Aber natürlich ist das nur die belangloseste Seite der Sache. Wir haben ja alle zusammen in den vergangenen Jahren Begegnungen dieser Art auf Zoom, Skype oder auf andere Weise in den virtuellen Raum verlegt, und das hat ja auch ganz okay funktioniert, nur hatten wir alle nach ein paar Monaten viereckige Augen. Aber auch das ist nur ein Aspekt und noch lang nicht der Wichtigste. Die Veranstalter brauchen natürlich den Kontakt mit ihrem Publikum, und wenn es politische Veranstalter sind, dann ist dieses Publikum ja oft auch ihre potentielle Mitgliedschaft oder Aktivistenschar. Da kann das Virtuelle den persönlichen Kontakt auf Dauer nicht ersetzten. Aber auch die Menschen selbst haben ein Bedürfnis nach Begegnungen, und nach dem, was so entsteht, im informellen Gespräch, in der Kaffee-Pause, wenn man Leute kennen lernt, die sich für irgendetwas interessieren – oder die etwas Interessantes beizutragen haben –, oft entstehen erst dadurch Bekanntschaften und Ideen und irgendwelche Pläne werden geschmiedet, von denen drei oder vier nie verwirklicht werden, aber eine Idee wird dann einige Zeit später in die Tat umgesetzt. Kurzum: Es mag sich manches Geschehen in den virtuellen Raum verlegen lassen, aber wenn wir das auf Dauer tun, wird es viele Geschehen gar nicht geben, weil sich die Leute, die es dazu braucht, nicht begegnen würden. Auch die Vortragenden – also Leute wie ich – brauchen die Begegnungen, die Abendessen nach den Veranstaltungen, die Gespräche mit dem Publikum, den Lokalpolitikern und -Politikerinnen, die Gespräche mit den ganz normalen Leuten oder den an einem Thema spezifisch Interessierten, diese Konfrontation mit Gesichtspunkten und Meinungen. Mit Meinungen, die wir noch nicht kennen, oder mit Meinungen, die wir zwar schon kennen, aber die sich dann doch anders darstellen, wenn man abends noch drei Stunden am Tresen die Dinge von allen Seiten beleuchtet. Bleiben wir nur daheim und spulen wir unser Programm vor der Kamera ab und schalten den Computer ab, sobald der Vortragsteil zu Ende ist – also bevor es wirklich interessant wird –, dann werden wir auf die Dauer dümmer, weil uns der Austausch und das Unerwartbare und Unplanbare fehlt.

Wie ungesund ist eigentlich Zugreisen?

Nach Rostock fuhr ich von Wien via Berlin mit dem Zug und wieder zurück. Nach Basel auch. Nur für Bonn musste ich das Flugzeug nehmen, weil es sich logistisch nur mit einem Nachtzug machen hätte lassen, der allerdings auf Monate hin ausgebucht war.

Wir stellen ja, so habe ich den Eindruck, alle unser Mobilitätsverhalten einigermaßen um. Vor zwanzig Jahren bin ich jede Woche gefühlt zwei Mal irgendwo hingeflogen, oft von Berlin nach Bonn und zurück (in Berlin wohnte ich damals, in Bonn war der Regierungssitz), man machte das so wie Autobusfahren. Heute fliege ich nur mehr, wenn das absolut nötig ist, manchmal nur einmal im Jahr, manchmal vier- oder fünfmal. Der Rest wird mit dem Zug erledigt. Fliegen wurde auch in Relation unbequemer, in diesem Sommer musste man oft stundenlang vor dem Security-Check anstehen, und dann landet man irgendwann weit außerhalb der Stadt, in die man will. Also von City zu City ist man da auch schnell einmal sechs Stunden unterwegs, da sind neun Stunden mit dem Zug bequemer. Es ist daher nicht unbedingt ein heldenhafter Verzicht, den man für dem Kampf gegen den Klimawandel erbringt.

In acht Tagen vier Mal zu je rund zehn oder elf Stunden im Zug sitzen ist aber auch keine Sache, die man so einfach wegsteckt. Wahrscheinlich ist es sogar ein Gesundheitsrisiko. Man sitzt nur rum, bewegt sich nicht. Man hört ja so viel von Thrombosen und so grauslichem Zeug. Covid-19 hatte ich auch vor einem Monat, sodass sich mir dachte, jetzt reicht es dann aber irgendwann auch wieder. Wir werden uns auch darauf irgendwie einstellen müssen und adaptieren müssen. Das Zugfahren ist super, hat aber auch seine negativen Seiten, die einem erst auffallen, wenn man zuviel davon macht. 

Wir werden Balancen finden müssen, zwischen daheimbleiben, aber nicht nur daheimbleiben. Dafür auch ökonomische Regulierungen finden, was weiß ich, ein Flug im Jahr billig, ab dem zweiten wird es dann schon teurer, ab vier Flüge so richtig teuer. Die Infrastruktur weg von fossilen Brennstoffen, Energieeffizienz, Erneuerbare. Atmende Häuser, beheizt mit Geothermie, wo möglich. Tausend Sachen, und in dem Prozess selbst werden auch viele schwierige Kompromisse nötig, denn wenn es zwar wünschenswert wäre, dass wir übermorgen hunderttausend Windräder aufstellen, so gibt es die erstens nicht in ausreichender Zahl und die Installateure und Ingenieure gibt es auch nicht, also es wird ein längeres Durchwursteln, bei dem man mal dies, mal jenes macht. Kompromisse mit der Wirklichkeit schließt, so wie die Grünen Minister, die jetzt AKWs länger laufen lassen oder zu Scheichs nach Abu Dhabi fliegen, um LNG-Gas einzukaufen.

Wir verdrängen den Klimakollaps immer noch

Und so ganz gesickert ist ja das Ausmaß der Bedrohung noch nicht. Das berühmte 1,5-Grad-Ziel – also, dass die Klimaerwärmung im Durchschnitt auf 1,5 Grad eingeschränkt werden könnte – ist ja praktisch kaum mehr erreichbar, oder besser: Es ist vielleicht erreichbar, aber dann müsste man jetzt ganz radikal umsteuern. Schon ab zwei Grad Erwärmung würden große Teile des Globus um den Äquator herum zu „Todeszonen“ werden. Österreich liegt heute schon zwei Grad über den Wert vom Beginn der Industrialisierung, mit allen Folgen: Extremwetterereignissen, Hitzestau in den Städten im Sommer, mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen. Bei einem Plus von 3 Grad wären weite Teile der heute bewohnbaren Erde unbewohnbar, und zwar schon 2070, also durchaus in der Lebenszeit unserer Kinder. Geopolitische Krisen, Fluchtbewegungen, die Spannungen, denen dann demokratische Ordnungen unterliegen werden, kann man sich ausmalen, wenn man mag. Viele verfallen angesichts der Aussichten in Depression und auch in so etwas wie Stockung und Antriebslosigkeit. Die Katastrophe sei sowieso nicht mehr vermeidbar, hört man häufiger. Kaum jemand leugnet heute noch die Gefahr, nicht einmal die verrücktesten Rechtspopulisten, nur wollen sie die Stimme derer sein, die die schwierigen Anpassungsleistungen vermeiden wollen. Klimaextremisten sind aber nicht die, die sich an Straßen festkleben (auch wenn man über Aktionsformen streiten kann), der echte Klimaextremismus ist die Haltung, man könne einfach so weiter machen. Es hilft übrigens im Kopf, wenn man die Dichotomien vermeidet, zu denen wir Menschen so neigen. Wir neigen ja dazu, in Alternativen zu denken, deswegen hätten wir auch gerne eine perfekte Lösung und glauben, die Alternative zur perfekten Lösung wäre keine Lösung. Aber das stimmt so ja nicht. Auch „Alles super“ und „Katastrophe“ sind nur zwei mögliche Varianten. Aber es gibt ja Grauzonen dazwischen. Und es macht schon einen Unterschied, ob „nur“ zwanzig Prozent des bisher bewohnbaren Gebietes unbewohnbar werden – oder doch fünfzig Prozent. Zwischen „schwierige, belastende Umstände“ und „Totalkatastrophe“ gibt es eben schon eine gewisse Abstufung so dass sich alles lohnt. Auch halbe Lösungen und Balanceakte sind besser als der Klimakollaps.

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