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Umsehen lernen 100

Medusa-Gemälde von Caravaggio, rosa eingefärbt

Vorweg

Zur Feier der 100. Folge zünde ich heute alles an. Raider heißt jetzt Twix, Twitter heißt jetzt X, Menschenrechte heißen jetzt Pragmatismus, und NewFrohmanntic heißt jetzt UMSEHEN LERNEN. Warum?

Erstens hat mich das Level an manipulativem Personenkult beim Aufschlagen des parteivorbereitenden Vereins Bündnis Sarah Wagenknecht so geschockt, dass ich schlagartig keine Lust mehr auf Sprachspiele mit meinem Namen habe.

Zweitens erschließt sich die Ironie des Namens NewFrohmanntic, wo ich selbst doch eher Romantikkritikerin bin, glaube ich nur Menschen, die mich gut kennen und schon lange lesen. Context matters, auch dafür hat maus eine Verantwortung.

Drittens finde ich, dass ein sachlicher, beschreibender Name in Zeiten der Überaufregung die bessere Idee ist, und inhaltlich ging es ja beim NewFrohmanntic immer schon ums Umsehen lernen. Und davor auf Twitter auch schon.

Ich mache mir also keine großen Sorgen, dass ihr die Namensänderung womöglich schlimm finden könntet. Positiv betrachtet, dürft ihr ab jetzt sagen, dass ihr schon Abonnent_innen wart, als UMSEHEN LERNEN noch NewFrohmanntic hieß. Zukünftiges Newsletter-Retro.

Etwas Altes: Nippes

Es gibt Menschen, die gern viele Dinge haben, weil ihnen diese Konkretheit Halt vermittelt. Andere Menschen reduzieren ihren Besitz radikal, weil sie sich ohne freier fühlen. Ich lebe dazwischen. Der Anblick schöner Dinge, seien es Möbel, Bilder oder auch Kleidung, steigert mein Wohlbefinden, aber es darf auch nicht alles mit Zeug vollgestopft sein. Wertvoll müssen schöne Dinge jedoch nicht sein, das Sammeln von Designklassikern (»ist ja auch eine gute Wertanlage«) langweilt mich schon konzeptionell. Abplatzungen an alten Rahmen oder Risse in Porzellanfiguren sind für mich kein Grund, etwas nicht mehr schön zu finden oder gar wegzuschmeißen – ich bin ja kein Auktionshaus, sondern ein Mensch. Aber Risse feiern, nein, das mag ich auch nicht mehr, seit ich verstanden habe, dass die Freude am hübsch Verfallenen Weißen-Romantik ist. »Shabby Chic« sollte besser die runtergekommene Ethik der bürgerlichen Mitte bezeichnen.

Was aber ist mit Nippes? Wie hat sich da mein Blick mit zunehmendem Wissen um Distinktions- und Ausschlussmechanismen verändert?

Puky-Fahrradhupe in Fischform auf Keramikfisch

Als Nippes wurden klassischerweise Porzellanfigürchen bezeichnet, die man zur bloßen Zierde in Vitrinen oder Regalen präsentierte. Der Inbegriff für Nippes waren für mich immer Hummel-Figuren. Hätte ich früher mit einem Wort beantworten müssen, was ich wirklich hässlich finde, wäre die Antwort »Hummel-Figuren« gewesen. Nippes, hundert Prozent.

Als etwas modernere Variante von Nippes habe ich später Diddl-Mäuse betrachtet, diese wurden aber meist nicht mehr in Vitrinen ausgestellt, sondern saßen in Amtsstuben und Büros auf Computerbildschirmen. Oder sie hingen an Rücksäcken.

Auf Hummel-Figuren und Diddl-Mäuse blickte ich früher sehr verächtlich, ich hatte noch kein Empfinden dafür, wie viel Misogynie und Klassismus dabei mitschwang. Dass vielleicht auch ich Nippes haben könnte und ihn nur nicht als solchen erkenne oder dass vielleicht die Bezeichnung »Nippes« eine ziemlich willkürliche Abwertung von Dingen ist, die Menschen auf sehr harmlose Weise ein bisschen glücklich machen, fiel mir erst viel später auf. Es passierte vor ungefähr zehn Jahren, als ich ziemlich gleichzeitig überlegte, ob ich eine 3D-Figur nach Hieronymus Bosch und eine Actionfigur aus Game of Thrones haben möchte, beides dann aber als doch nicht ganz mein Ding wieder verwarf. Mir wurde klar, dass beides irgendwie die Hummelfiguren von heute sind bzw. dass Nippes weniger eine sachliche Qualität als ein Urteil ist. Und dass es wie so oft ziemlich unnötig ist, etwas, das andere Menschen happy macht, abzuurteilen. Wer Nazi-Paraphernalien sammelt, sollte maximal verachtet werden, aber nicht, wer etwas auf seinen Computersims stellt, das mir nicht gefällt. Der einen Nippes ist der anderen kawaii oder cool oder pop oder dekorativ.

Nicht als Nippes nehme ich etwa sämtliche Arten von Figürchen wahr, die mit persönlichem Fandom zu tun haben. Hello-Kitty? Kein Nippes. Doraemon? Kein Nippes. Gestiefelter Kater aus Shrek? Kein Nippes. Katzenbus? Kein Nippes. Sie alle werden nur zu Nippes, wenn meinem Mann beim Putzen mal zu viel Zeug im Weg rumsteht. Umgekehrt geht es mir ähnlich, wenn seine kleine Simpsons-Sitzgruppe beim Abstauben abstürzt. Nippes!

Ein guter Freund von mir, mit dem ich früher mal zusammenwohnte, würde meine Figürchen sogar grundsätzlich als Nippes bezeichnen, das ist ihm alles zu lieblich. Na ja, er selbst hat in seiner Wohnung alte Clubmarken und -schlüssel als Deko. Ziemlicher Nippes, finde ich.

Etwas Neues: Domain-Wichteln

Für alle digitalen Menschen habe ich eine Idee zum Jahresende: Domain-Wichteln, eine Spielart des Schrottwichtelns. Ich weiß von vielen Personen, dass sie seit Ewigkeiten Domains bezahlen, die sie noch nie genutzt haben. Ich selbst habe auch zwei, die aber im Gegensatz zu euren wirklich großartig sind und die ich noch ganz sicher nutzen werde, spätestens nächstes Jahr, wirklich. Bitte schreibt mir, ob und welche abstrusen Domains ihr habt, ich bin sehr neugierig.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

“When I sing, I own who I am.” 

– Britney Spears, The Woman in Me (Öffnet in neuem Fenster), 4

Etwas Unheimliches: Lampenspuk auf Ebay

Als ihr Vater gestorben war, übernahm sie die schwierige Aufgabe, ein komplett zugestelltes und vermülltes Haus auszuräumen. Es war ihr ein Anliegen, eine schützende Hand über seine Erinnerungen und die Erinnerung an ihn zu halten. Fremde sollten nicht in seinen Sachen wühlen und noch weniger Verwandte, die zu Lebzeiten ihres Vaters nicht gut zu ihm gewesen waren. Sie fand Dinge, die sie lieber nicht gesehen hätte, nichts Schlimmes, aber eben auch nichts, was Kinder, wenn sie es sich aussuchen können, von ihren Eltern wissen möchten. Privates sah sie nur an, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Bewusst las sie keine der akribischen Listen, die ihrem Vater ein Tagebuch ersetzt hatten. Diese Listen waren sein eigener Raum gewesen,– sie beide hatten andere, gemeinsame Räume gehabt. Überhaupt warf sie fast alles weg, behielt nur ganz wenige Dinge, die von ihren Kindern, sollte sie welche bekommen, vielleicht später als Familienstücke wertgeschätzt werden könnten. Kleine und kuriose Dinge. Sie nahm weder Möbel noch Lampen mit, warf lieber viele letzte Blicke auf Gegenstände, die für eine bestimmte Zeit im Leben ihres Vaters standen. Diese würden ihm nun zwar in kein Totenreich folgen, aber mit ihm enden. Die Möbel aus der kurzen Zeit des Reichtums, welche sie nicht bewusst miterlebt hatte, waren in ihren Augen zu wuchtig und klobig, um je zu ihrer Familie gepasst zu haben. Trotzdem hatte ihr Vater sie aus dem großen Haus in immer kleinere Wohnräume mitgenommen, die sie unweigerlich erdrückten. Er hatte auch als armer Mensch weiter die FDP gewählt, vermutlich per Briefwahl von seinem Reiche-Leute-Memorial-Schreibtisch aus. Ihr Vater war nun fort, der von einem Innenarchitekten entworfene Schreibtisch war da. Massive Eiche wie sein Sarg. Du musst raus aus diesem Totenhaus, hatte ihre Mutter gesagt und war vorsichtshalber zusammengebrochen, um gar nicht erst eintreten zu müssen. Ihr aber war die Möglichkeit, sich auf theatralische Vorstellungen zurückzuziehen, versperrt geblieben. Sie tat, was zu tun war, dann ging sie und ließ los. Dieses Loslassen war so radikal und existenziell, dass sie sich in späteren Jahren manchmal vor sich selbst fürchtete.

Zwanzig Jahre später sah sie auf Ebay die Lampe vom Schreibtisch ihres Vaters, eine Verwechslung war ausgeschlossen. Der ausladende orangerote Keramikfuß, der beige Leinenschirm und die orange-gelbe Borte, die ihre Oma, seine Schwiegermutter, nachträglich angebracht hatte, damit die Lampe in die Armut und die kleine Wohnung mit Siebzigerjahre-Möbelhaus-Couch passte. Vielleicht ließen Dinge Menschen nicht los.

Weitere fünf Jahre später fuhr sie zum ersten Mal zurück zu ihrem untergegangenen Zuhause. Mit klopfendem Herzen stieg sie aus dem Zug, ging alte Wege entlang, bis sie vor dem Haus stand. Die Zeit vor dem Tod ihres Vaters und die Zeit danach verbanden sich wieder zu ihrem Leben.

Rubrikloses

Letzte Woche zweimal gehört und einmal selbst gesagt: »Ich glaube, ich muss dringend mal wieder Animal Crossing spielen.« Einfach die bessere Idee, als Menschen in Sozialen Medien zu zerlegen.

 

Screenshot aus dem Switch-Spiel "Animal Crossing", menschliche Spielfigur von Christiane Frohmann sieht der Villagerin Nan – eine Ziege – dabei zu, wie sie eine Steinbock-Statue ansieht.

Wenn du eine befreundete Person zu Besuch hast und sich in einem Augenblick dein schönstes Einrichtungsteil in cringen Exotismus verwandelt

Zwei sehr missmutige Katzen am Wegesrand

KI1 und KI2, nachdem sie gelernt haben, dass Menschlichkeit deep fake ist

Stromkasten mit FCU-Ausschrift

Dieser Stromkasten wird alle paar Tage abwechselnd mit Hertha (blau-weiß) und Union (rot-weiß) zugeschmiert, und das ist ein ziemlich gutes Bild für eigentlich alles, was mit Menschen und Medien zu tun hat.

Präraffaelitische Girls erklären

Gemäldeausschnitt: Narziss betrachtet sich selbst im Wasser, hinzugefügter Text: »Positioniere dich!!!«

Zurück auf Position, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis. 

XOXO,
FrauFrohmann

Ich freue mich, wenn ihr ein Bezahlabo (Öffnet in neuem Fenster) abschließt oder über Paypalme (Öffnet in neuem Fenster) Laser eine Katzenmilch spendiert. Wer wenig Geld hat, liest bitte allezeit mit bestem Gewissen kostenlos mit.

FYI: Das Coverbild ist minus der rosa Einfärbung Medusa von Caravaggio aus dem Jahr 1596.

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