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Umsehen lernen, Folge 101

Sardonisch blickende schwarze Spinne aka die Zeichnung "Spinne" von Odilon Redon, rosa eingefärbt

Vorweg

Ich bin kein Herbstfan, aber es ist jedes Jahr wundervoll, das erste Mal bei leichtem Nieselregen in einem Haufen gelbmatschiger Blätter an der Bushaltestelle zu stehen und die elegische Playlist zu hören. 

Etwas Altes: E-Book-Begeisterung

Gerade muss ich in Vorbereitung einer Veranstaltung viel lesen und habe aus Zeitdruck die meisten Titel als E-Book gekauft. Das mit dem E-Book-Lesen hatte ich ein bisschen aus den Augen verloren, als sich mit der Pandemie bei mir ein Bedürfnis entwickelte, doch mal wieder ein paar fassbare Koordinaten in meinem Leben zu haben. An einem Printbuch kann man sich ziemlich gut festhalten, fast so gut wie an einer Zigarette; manche Menschen brauchen so was immer, ich phasenweise. Und so fing ich während Corona wieder heftig mit dem Printbuchlesen an.

Nun ist Corona zwar nicht vorbei, aber ich bin trotzdem wieder back to E-Books. Weil sie super sind. Ich sause durch die Seiten, markiere, kommentiere und bin so richtig in meinem Element. Beim Printbuchlesen beobachte ich mich – cringe – immer auch ein bisschen wohlgefällig mit der Distinktionsbrille aus dem letzten Jahrtausend. Intellektuell wirkende Frau beim Buchlesen. Das ist nicht sehr weit weg vom aufgestützten Kinn im schwarzen Rolli. Okay, beim E-Book-Lesen sehe ich ab und zu auf die Prozentangabe, das ist auch peinlich.

I love E-Books. Sie sind so schön unbetulich, so praktisch, so komfortabel. Wo ist meine Brille? Oben. Zu faul, hochzugehen, wuuuusch, Schrift vergrößert. E-Books sind ein Alte-Leute-Medium, das gefällt mir auch gut. (Junge Menschen lesen tendenziell weder Bücher noch E-Books oder sie bevorzugen ausdrücklich Print, sind bookish, sehen Printbücher als Teil ihres Lifestyles an.)

Wenn du älter wirst, brauchst du nicht mehr so viel Bullshit in deinem Leben. Du möchtest lesen, aber nicht mehr beim Lesen gesehen werden. Wenn ich heute in der U-Bahn auf dem Smartphone lese, vermuten die Mitfahrenden vielleicht, dass ich Candy Crush spiele. Mit 18 hätte mich dieser Gedanke gequält, heute liebe ich ihn. Ich würde ja auch tatsächlich Candy Crush spielen, wenn ich es nicht relativ schnell gelöscht hätte, um nicht für immer Candy Crush zu spielen. Wenn ich auf dem Smartphone lese, kommt niemals jemand auf mich zu und sagt: »Junge Frau, was lesen Sie denn da Schönes?« – Es gibt nichts Schöneres, als beim Lesen unkommentiert zu bleiben.

Vor sehr langer Zeit, 2014, habe ich mal übers Lesen von Büchern und E-Books nachgedacht und einen Text dazu geschrieben, vielleicht wollt ihr ihn ja auf dem Smartphone lesen.

https://frohmannverlag.de/blogs/frohmann/einfach-weiterlesen (Öffnet in neuem Fenster)

Über E-Books habe ich 2014 noch einen anderen Text geschrieben.

https://www.freitag.de/autoren/christiane-frohmann/ceci-n2019est-pas-un-livre (Öffnet in neuem Fenster)

Irgendwie bin ich wohl seit damals etwas vom Weg abgekommen. Also zurück zum E-Book. Auch als Verlegerin und Autorin. 2024 werde ich E-Bookishness zum globalen Trend machen. E-Books und Newsletter, ja, klingt beides so uncool, aber sind beides Medien/Formate, vor denen sich die klassische Verlagsbranche heimlich fürchtet. Zu Recht.

Etwas Neues: Nazi-Coolness

Wenn ich 2023 Serien ansehe, in denen Nazis in aller Brutalität und Härte gegen andere, aber auch gegen sich selbst dargestellt werde, glaube ich nicht mehr, dass das in der Gegenwart für die gesellschaftliche Mehrheit abschreckend wirkt. Sehr viele Menschen, ungebildete wie gebildete, finden Todeskultur wieder offen cool. Lieber geil sterben als vielfältig leben. Mit dieser Erkenntnis muss man, muss ich klarkommen und dann damit arbeiten.

(Ich habe, warum, diese unfassbare Kitschserie Alles Licht, das wir nicht sehen auf Netflix angesehen. Warum sehe ich mir so einen Mist an, wenn ich auch auf arte Agnès Vard (Öffnet in neuem Fenster)a hätte ansehen können.)

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.« – Antonio Gramsci

Beste Monster-Zeit, um Gramsci zu lesen:

https://ia600506.us.archive.org/19/items/AntonioGramsciSelectionsFromThePrisonNotebooks/Antonio-Gramsci-Selections-from-the-Prison-Notebooks.pdf (Öffnet in neuem Fenster)

Etwas Unheimliches: Krisen-Matrjoschka

In den letzten Jahren, noch mehr in den letzten Monaten, extrem in den letzten Wochen fühlt sich Leben an, als wäre man das kleinste, fast nicht mehr wahrnehmbare Püppchen in einer Krisen-Matrjoschka. Trotz ihrer extremen Winzigkeit ist auch diese aus persönlicher Sicht aktuell letzte (oder erste?) Puppe natürlich nicht massiv, sondern hohl, nicht nur außen wartet immer noch ein weiterer Abgrund, da sollte man sich nichts vormachen. Die größte Puppe ist faktisch die Klimakrise, aber der Nahost-Konflikt mit seinen internationalen seismischen Wellen nach dem Hamas-Terroranschlag am 7. Oktober fühlt sich aktuell am größten an, weil sie ganze linke Freund_innenkreise spaltet. Ich bin, ohne das für eine allgemein gute Idee zu halten, dazu übergegangen, in Sozialen Medien dazu nichts mehr zu sagen und so gut es eben geht im Off für meine persönlich vom Krieg in Israel und Gaza betroffenen Freundinnen da zu sein. Das tue ich sehr hilflos und sehr überfordert, aber es kommt mir wenigstens sinnvoll vor. Durch Liken und Teilen von Inhalten auf Instagram daran mitzuwirken, dass sich dort immer mehr Menschen überwerfen, deren Klugheit, Umsicht und Menschlichkeit ich in vielen Jahren schätzen gelernt habe, erscheint mir nicht sinnvoll. Gerade kommt in vielen Menschen so viel unterdrückter Schmerz und auch so viel inhaltlich Ungeklärtes zutage, dass Soziale Medien der letzte Ort sind, wo Solidarität, Verständigung oder gar Halt möglich ist. Menschen in Krisengebieten müssen Soziale Medien natürlich weiterhin nutzen, um gehört zu werden und bestenfalls Hilfe zu bekommen. Für Auseinandersetzungen zwischen Menschen im deutschsprachigen Kulturbetrieb aber braucht es dringend andere, weniger performative Räume. Räume mit klaren Grenzen und Kontexten, sichere Räume. Das Püppchen in der Krisen-Matrjoschka zu sein, ist unheimlich. Man ist Teil von etwas, auf das man gefühlt nicht wirklich einwirken kann. Vielleicht ist es aber möglich, eine Art Out-of-Krisen-Matrjoschka-Experience hinzubekommen. Indem man aus Instagram heraustritt, gelangt man potenziell zu einer Perspektive, in der man sich wieder denk- und handlungsfähiger fühlt, was die Voraussetzung dafür ist, es wirklich zu werden. Ich glaube nicht, dass das Eskapismus ist, ich würde sogar sagen, dass »dabeizubleiben«, im Flow zu bleiben, wenn der Flow längst Acheron, Eridanus, Kokytos, Lethe, Phlegethon, Styx ist, selbst eine Art von passivem Eskapismus sein kann. Würde ich heute auf Instagram in Worte fassen, wie ich versuche, nach dem 7. Oktober Menschen gerecht zu werden, könnte ich bei meiner gespaltenen TL ziemlich sicher sein, dass mich bis spätestens morgen alle hassen. Fasse ich es nicht in Worte, sondern versuche, es zu leben, rollen vielleicht meine vom Krieg, von Antisemitismus, von Rassismus unterschiedlich betroffenen Freund_innen an jeweils anderen Stellen mit den Augen, aber wir kommen klar, so wie immer, und das war uns nie wichtiger. Meine Freund_innen brauchen Instagram gerade, weil sie sich durch die Ereignisse und Reaktionen darauf noch vereinzelter fühlen, für mich als ihr Gegenüber ist es besser, mich von Instagram fernzuhalten.

Rubrikloses

Rick Rubin rät Künstler_innen, was ich kommenden Verleger_innen immer rate, was ab jetzt immer so klingen wird, als würde ich mich bei Rick Rubin bedienen, der sich natürlich ganz sicher nicht bei mir bedient, soooo originell ist mein, ist sein Rat nun auch wieder nicht, also sage ich ab jetzt sicherheitshalber: »Wie Rick Rubin zu sagen pflegt …«, vermutlich ist das sogar besser, denn Menschen lieben Frauen, die verdiente Herren der Popkultur zitieren können, ehrlich, sie lieben sie dafür sogar viel mehr, als wenn sie einen eigenen Gedanken äußern. Eigene Gedanken gibt es eh nicht (Credits an Herrn Postmoderne), aber das Patriarchat, das gibt es so was von und es darf sich auch endlos wiederholen, gar kein Problem. 

Wenn ihr am 18.11. in Hamburg seid oder euch einen Ausflug dorthin vorstellen könnt, kommt doch zum Kritikablen Queertett. Das ist ein sehr tolles Format und ich moderiere diese Ausgabe. Als Kritiker_innen sind dabei: Dominique Haensel, Luca Mael Milsch und Mati Shemoelof. Ich bin sehr gespannt und voller Vorfreude auf sie und die von ihnen vorgestellten Bücher. (Dass Moderation und Kritiker_innen beim Kritikablen Queertett immer wechseln, liebe ich besonders, denn 1. gibt es so keine Chance also, sich auf einem Dauerredeplatz in einen behäbigen Gockel zu verwandeln. Außerdem ist 2. öffentliche Sichtbarkeit im Kulturbetrieb ein kostbares Gut und sollte mit möglichst Vielen geteilt werden.) Sehr aufgeregt bin ich auch, aber das gehört sich auch so.

https://kampnagel.de/produktionen/das-kritikable-queertett-2 (Öffnet in neuem Fenster)

Früher wurde Kindern beim Malen immer gesagt: VÖGEL SEHEN NICHT AUS WIE EINE UMGEKIPPTE DREI. Opa, du hast mir Unrecht getan, ich habe fucking Emoticons erfunden. 

Noch mal zu Gramsci. Beim Rumsuchen habe ich so eine verspulte Zitatseite gefunden, und was da über den Autor steht, da möchte man doch lieber nicht zitiert werden.

»Die meisten seiner Werke verfasste Antonio Gramsci im Gefängnis. Du kannst beruhigt sein, er hat niemanden ermordet.«

»Antonio war körperlich entstellt, da er einen Buckel hatte. Außerdem lebte er am Rande der Gesellschaft, weil er sehr arm war.«

»Er war ein eingefleischter Kommunist, aber seine Denkweise war trotzdem offen und universell.«

Aaaaaaauuuuuuuaaaaaa. 

Tagesschaumeldung über Mutter, die Ü40-Söhne aus dem Haus klagt

Fühle 20 Jahre in die Zukunft.

Zusammengesunkenes Model. Text: For it girls, by an it girl

For internal death, by internal death. Jetzt kaufen.

Katzenzähne, Text: Die Wahrheit über den Zahnstein meiner Katze

Titel und Cover meines nächsten Romans

Zeichnung mit Text "Only a psychopath can solve this"

Vermutlich wollen Menschen jetzt auch gern psychopathisch sein, weil das für Führungskräfte vorteilhaft ist.

Präraffaelitische Girls erklären

 

Sich umarmende Figuren. Text: Gesellschaftlich miteinander klarzukommen, hieß manchmal auch, Widersprüche in ihrer Unauflösbarkeit zu akzeptieren.

Zurück zu den Auflösenden, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis. 

XOXO,
FrauFrohmann

Ich freue mich, wenn ihr ein Bezahlabo (Öffnet in neuem Fenster) abschließt oder über Paypalme (Öffnet in neuem Fenster) einmalig etwas zahlt. Wer wenig Geld hat, liest bitte allezeit mit bestem Gewissen kostenlos mit.

FYI: Das Coverbild ist minus der rosa Einfärbung L'Araignée souriante von Odilon Redon aus dem Jahr 1887.

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