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Queerer Kanon #11: Power Bottoms, Geister, Utopien & Klassiker

Liebe Leser*innen,

in der kommenden Woche findet die Leipziger Buchmesse erstmals seit 2019 wieder regulär statt. Im Rahmen des Begleitprogramms gibt es auch wieder einige queere Veranstaltungen, unter anderem die Lesbische Büchernacht & Queer Party (Öffnet in neuem Fenster) (28.04.2023).

Nach und nach werden gerade die Herbstprogramme der deutschen Verlage veröffentlicht. Bisher haben wir schon eine ganze Reihe queerer Titel erblicken können, auf die wir uns freuen. Ein besonderes Highlight ist die neue, von Magda Birkmann und Nicole Seifert kuratierte Buchreihe „Wiederendeckte Schätze des 20. Jahrhunderts“ (Öffnet in neuem Fenster) des Rowohlt Verlags. Unter den ersten drei Titeln ist mit Mary Renaults Freundliche junge Damen (Öffnet in neuem Fenster) (aus dem Englischen von Gertrud Wittich) auch ein queerer Klassiker aus dem Jahr 1944 enthalten.

Besonders gefreut haben wir uns auch über die Nachricht, dass der Clemens-Brentano-Preis für Literatur der Stadt Heidelberg in diesem Jahr an Yael Inokai für ihren queeren Roman Ein simpler Eingriff geht. In unserer nunmehr elften Ausgabe widmet sich Tobi mit Eva Tepests Power Bottom einer Essay-Sammlung, die auf wohltuende Weise Binaritäten sprengt, sowie mit Magnus Hirschfelds Berlins Drittes Geschlecht einem 120 Jahre alten Klassiker, der sich überraschend heutig liest.

Marlon taucht indes ab in die queere Natur von Elisabeth Klars Roman Es gibt uns, der lustvoll die Grenzen des Menschlichen überschreitet und stellt mit Randall Kenans Der Einfall der Geister einen wichtigen Meilenstein der Schwarzen schwulen Literatur vor, der nach 33 Jahren nun erstmals in einer deutschen Übersetzung erschienen ist.

Im Rahmen von Queere Freuden erwarten euch zudem Links zu Texten, die uns in der letzten Zeit beschäftigt haben.

Wie immer freuen wir uns auf euer Feedback, eure Fragen, Vorschläge und Kommentare.

Tobi & Marlon

Der Schleim der Tage: Elisabeth Klars Es gibt uns

Elisabeth Klar: Es gibt uns (erschienen im Residenz Verlag) (Öffnet in neuem Fenster)

„Was tut ihr hier?, fragte xer Verbliebene. Das Gewicht abschütteln, sagte eines der Kinder, und ein anderes packte xien sogleich am Arm, mit einer unangemessen anmutenden Dringlichkeit: Komm, tanz, tanz, sonst sind wir verloren.“

Es gibt uns von Elisabeth Klar erzählt von der Natur – den Tieren, den Pflanzen und den Pilzen, Schuppentierchen und Schleimtierchen – und dem Versuch, ihr mit Sprache beizukommen. Der Roman erzählt von Titania, Oberon und dem Müxerl, dem rauschenden Fest Walpurgis und dem Tanz. Der Tanz, der eine konstante Bewegung ist, ein Rausch, ein einander Umarmen, ein sich willkommen heißen, ein Verschmelzen, ein ineinander einbrechen von zwei Wellen.

Der Roman spielt in der fernen Zukunft, in der postapokalyptischen Stadt Anemos. Genauer gesagt in einer Zeit, in der sich das komplexe Leben im Niedergang befindet und das Myxozän bevorsteht, das Zeitalter, in dem der Schleim alles beherrschen wird. Begriffe haben kaum noch eine Bedeutung, die Lebensbedingungen ändern sich ständig. Spezies verschwinden täglich, neue kommen hinzu: „Was bin ich? Was bist du? Unsere Spezies haben alle keine Namen.“ Was bleibt ist das Spiel der Pronomen – sie, er, es oder xier, nin, per, hän – um der Vielfalt der Natur beizukommen, die noch nie binär war.

Leser*innen werden mit einem Stück im Stück konfrontiert. Es gibt uns sprengt temporale wie räumliche Grenzen, die Einheit von Ort und Zeit des Aristotelischen Theaters werden aufgehoben. Denn es ist Walpurgis und es wird „ein Fest beschworen, das erst kommen wird, das jedes Jahr kommt, und zugleich ein Fest erinnert, das so nur ein einziges Mal vor vielen Jahren stattgefunden hat“. Anemos ist nach der Blume benannt, die an jeder Ecke blüht – auch in anderen Städten. Und deswegen könnte Anemos auch jede andere Stadt sein. Zugleich ist sie mehr. Ein Symbol, weil sie nicht der Schwere anheimgefallen ist, weil sie mit dem Tanz aufbegehrt, weil sie wütet, aufbegehrt am Ende des Tages.

Die Figuren sind Shakespeares A Midsummer Night’s Dream entsprungen – hier wohnen an der Grenze zu Athen in einem Wald die Feen Oberon und Titania. In Klars Roman begegnen wir ihren mutierten Versionen, einer Titania mit einem Geweih und einem Spinnenwesen auf dem Rücken und Oberon, einx Quallentier. Xier war in Symbiose mit bakteriellen Flora für die Trinkwasseraufbereitung in Anemos zuständig. Und dann ist da noch das Müxerl, dem Schleimaal verwandt, entfernt auch den Nacktkiemern, das die Aufgaben Oberons übernehmen musste, nachdem xier gestorben ist. Wo Shakespeare artenübergreifende Beziehungen noch mit derben Humor dargestellt hat, führt Elisabeth Klar dieses Konzept im Sinne einer queeren Natur konsequent an seine Grenzen.

Wie viele Vertreter*innen des Nature Writings stellt sich auch Es gibt uns die Frage, wie Natur überhaupt sprachlich fassbar ist. Diese Form des Schreibens hinterfragt sich selbst, ist – wie das Stück im Stück – Performanz. Elisabeth Klar beschreibt eine Welt, in der sich die Grenzen derart verschoben haben, dass selbst Kategorien wie Leben, Tod und Sex neu gedacht werden müssen. Shakespeares Oberon lässt mit dem Saft eines Wilden Stiefmütterchens seine Umgebung in eine unfreiwillige Liebesraserei verfallen. Die Bewohner*innen von Anemos gehen eine freiwillige Beziehung mit den Blüten einer Pflanze ein, die Titania in ihren Gewächshäusern aufzieht. Sie legen die Blüten auf ihre Körper „und denken an Hitze und Schweiß, an Lust und Rausch.“ Sex kann im übertragenen, wie im wörtlichen Sinne einen kleinen Tod bedeuten. Denn was bedeutet der Tod noch, wenn Körper im wahrsten Sinne des Wortes miteinander verschmelzen können?

Es gibt uns ist verspielt, aber nie verkopft. Es wäre ein Leichtes, den Roman aufgrund seiner Referenzen und seiner Thematik als ein Buch für Literaturwissenschaftler*innen abzutun, so wie auch Barbaras Frischmuths Kategorisierung des Textes als „posthumanistischer Utopieroman“ diesem nur bedingt gerecht wird. Denn Elisabeth Klar erzählt hier von einer queeren Natur, vom Schleim und vom Tanz, von Konsens, Ektase und körperlicher Autonomie, von der Sprache und von der Hoffnung. Letzten Endes hat sie damit das seltene Kunststück vollbracht, einen Roman zu schreiben, der sich nur selbst beschreiben kann. (Marlon)

"Ein fliegender Pfeil ins Ungreifbare" - Eva Tepests Power Bottom

Eva Tepests "Power Bottom" Buch als Bild

Eva Tepest: Power Bottom (erschienen im MÄRZ Verlag) (Öffnet in neuem Fenster)

Schon der Titel von Eva Tepests Essay-Band lässt erahnen, dass die darin versammelten Texte Binaritäten in Frage stellen, sich von ihnen weg bewegen. Denn ein Power Bottom mag im ersten Moment wie ein Oxymoron klingen. Er geht aus der (vermeintlich) binären Aufteilung des schwulen penetrativen Sex hervor: Der Bottom wird penetriert, empfängt, ist unten, ist passiv. Der Top ist dementsprechend der Penterierende. Und damit vielleicht auch das Patriarchat.

Power Bottom zu sein stellt dieses scheinbar so klare Machtverhältnis lustvoll in Frage. Die Rolle vereint Sub- und Objektivität in sich, will Bottom sein, nimmt sich, was sie braucht und genießt es. Eine Figur der sexuellen Selbstbestimmung, die um die Hybris des Begehrens weiß. Um genau diese Hybris geht es auch im ersten, gleichnamigen, Essay in Tepests Band. Lässt sich das Begehren mit dem eigenen Feminismus, der eigenen Politik vereinen? Sind sexuelle Entmächtigungsfantasien politisch? Welche Rolle spielt die Scham bei alledem?

Tepests Texte stellen diese und andere Fragen. Ausgehend vom eigenen Erleben beziehen sie andere Autor*innen und Wissenschaftler*innen mit ein. Darunter wegweisende queere Künstler*innen wie Eileen Myles und Monique Wittig. "Ich hatte meine Lust an den Auslassungen und den Geheimnissen entdeckt - der Vermutung, was das Andere, Angedeutete, Unausgesprochene bedeuten könnte", heißt es an einer Stelle.Besser lässt sich Tepests Vorgehen in Power Bottom schwer beschreiben.

Man könnte es das poetologische Prinzip des Buches nennen. Tepest entwickelt für ebenjene Auslassungen, das Andere, Unausgepsrochene, eine eigene Sprache, eigene Bilder für Dinge, die sich oftmals dem sprachlichen Zugriff entziehen. Ob Queerness, Religion, Sex, sexuelle Gewalt, Scham oder Handlungsmacht. Erstere wird unter anderem etwa als "ein unmöglicher Möglichkeitsraum, »what is and what is not the case«, ein fliegender Pfeil auf dem Weg ins Ungreifbare" bezeichnet. Darin liege die Chance als auch das Risiko.

Dieser unmögliche Möglichkeitsraum hat gleichsam utopisches Potenzial, wie spätestens im letzten Text klar wird, in dem Tepest gemeinsam mit Lynn Takeo Musiol eine dyke-doggische Enzyklopädie entwickelt, die an Monique Wittigs und Sande Zeigs alternatives Wörterbuch Lesbian Peoples: Material for a Dictionary (1976) angelehnt ist. Eine Aneignung und Umdefinierung bekannter Begriffe, die Erschaffung einer alternativen Genealogie, ist an sich schon ein queerer Akt, weil er tradierte Bedeutungen (ab)löst und einen vieldeutigen Möglichkeitshorizont eröffnet.

Und so bildet Power Bottom selbst eine Art Möglichkeitshorizont außerhalb des Binären. Tepests Texte stellen Fragen, wechseln mitunter die Richtung, sind so elliptisch wie präzise, erkennen (vermeintliche) Widersprüche als Chance und Ausgangspunkt, nicht als Ende des Diskurses. Dabei spiegeln sich Form und Inhalt, Lyrik und Prosa vermischen sich so inspirierend wie konsequent. Power Bottom kann auch als Einladung gelesen werden, das Diskursfeld zu erweitern, den Raum zu betreten.

Und das alles mit Spaß, Mut und Freude. Eva Tepest hat ein Buch geschrieben, bei dem man während der Lektüre merkt, wie sehr es bisher gefehlt hat. Umso schöner, dass wir es nun haben. (Tobi)

Over the Rainbow: Queere Klassiker

Magnus Hirschfeld: Berlins Drittes Geschlecht (aktuell noch lieferbar in der 1991 beim Verlag rosa Winkel erschienenen Ausgabe) (Öffnet in neuem Fenster)

Magnus Hirschfeld nimmt fraglos eine zentrale Position in der queeren Geschichte Westeuropas ein. Der Arzt und Sexualwissenschaftler gründete unter anderem das Berliner Institut für Sexualwissenschaft (1919-1933) und war ein früher Kämpfer für die Gleichstellung homosexueller und trans Personen. Seine Forschungsergebnisse und Thesen hielt er auch in Büchern und Pamphleten fest.

Mit Berlins Drittes Geschlecht erschien 1904 eines seiner wichtigsten Werke, das inzwischen zum queeren Klassiker geworden ist. Darin beschreibt er die damalige Situation von Menschen, die sich nicht in die binäre Geschlechterordnung einordnen lassen, und setzt sich für ihre Anerkennung und Akzeptanz ein. Viele seiner Beobachtungen lesen sich dabei irritierend aktuell. So zeichnet er ein differenziertes Bild vom Berlin der Jahrhundertwende, in dem es eine ganze Reihe schwuler und lesbischer Versammlungsorte gab, welche die Stadt prägten:

"Wer das Riesengemälde einer Weltstadt wie Berlin nicht an der Oberfläche haftend, sondern in die Tiefe dringend erfassen will, darf nicht den homosexuellen Einschlag übersehen, welcher die Färbung des Bildes im einzelnen und den Charakter des Ganzen wesentlich beeinflusst."

Mit dem dritten Geschlecht des Titels bezeichnet Hirschfeld Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren. Dabei konstatiert er ein weit verbreitetes gesellschaftliches Unverständnis und eine große Ignoranz gegenüber diesen Menschen, gepaart mit Diskriminierung und Stigmatisierung. Hirschfeld argumentiert, dass dies auf der binären Geschlechterordnung beruhe, welche die Vielfalt menschlicher Identitäten und Erfahrungen nicht angemessen berücksichtige.

Um seine Thesen zu unterstützen, präsentiert Hirschfeld zahlreiche Fallstudien von Menschen, die sich als Teil des dritten Geschlechts identifizieren. Anhand dieser Beispiele zeigt er auf, dass es sich hierbei nicht um eine Abweichung oder Krankheit, sondern um einen Teil der menschlichen Vielfalt handelt, die in vielen Kulturen und Epochen der Geschichte vorkommt. Hirschfeld bekräftigt die Notwendigkeit, das dritte Geschlecht anzuerkennen und zu akzeptieren, um eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft zu schaffen.

Des Weiteren tritt er für eine Trennung von Geschlecht und Sexualität ein und erläutert, dass es eine Vielzahl sexueller Orientierungen gäbe, die unabhängig vom Geschlecht seien. Die Gesellschaft, so Hirschfeld, fördere zudem aktiv die Geschlechterstereotype, was zu einer Einschränkung der Freiheit und Individualität von Menschen führe. Dies wohlgemerkt rund 70 Jahre vor der von Gayle Rubin populär gemachten Distinktion zwischen biologischem und sozialen Geschlecht, die auch bei Hirschfeld schon durchscheint.

Darüber hinaus wirft der Sexualwissenschaftler seinen Blick auch auf die damaligen medizinischen und rechtlichen Aspekte des dritten Geschlechts. Er beschreibt die verschiedenen medizinischen Theorien und rechtlichen Ansichten, die zu dieser Zeit existierten, und stellt fest, dass viele von ihnen auf Vorurteilen und Stereotypen basierten.

Auch wenn es vielleicht so klingen mag, ist Berlins Drittes Geschlecht kein akademische Fachbuch. Im Gegenteil, Hirschfeld wollte mit der Publikation auch die Zivilbevölkerung erreichen und erweist sich als versierter Schriftsteller, dessen Prosa auch nach knapp 120 Jahren noch frisch und bildhaft wirkt. Berlins Drittes Geschlecht besticht nicht nur durch sein Plädoyer für die Rechte und Akzeptanz von queeren Menschen, es ist auch ein ebenso empathischer wie an einigen Stellen überraschend humorvoller Text. Ein Sittengemälde der deutschen Hauptstadt, das aufzeigt, wie vielfältig queeres Leben auch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts schon war.

Die 1992 im Verlag rosa Winkel erschienene Ausgabe, die über den stationären Buchhandel weiterhin verfügbar ist, enthält zahlreiche Fotografien, ein sehr informatives Nachwort des Herausgebers Manfred Herzer sowie den 1904 erschienenen Text Ein Besuch bei den Homosexuellen in Berlin des Psychiaters und Kriminologen Paul Näcke. (Tobi)

Randall Kenan: Der Einfall der Geister (aus dem Amerikanischen von Eva Bonné und Aminata Cissé, erschienen bei Suhrkamp) (Öffnet in neuem Fenster)

Die Geister sind hartnäckig in Tims Creek, einer ländlichen Kleinstadt im amerikanischen Süden. Mehr als das, sie ist äußerst lebendig, diese geisterhafte Herde, die alles zertrampelt, was ihr in den Weg kommt, Rasenflächen, Blumen, Sträucher und Bäume, und nur darauf wartet, geschlachtet zu werden.

Der Einfall der Geister‘ ist der erste Roman des Schriftstellers Randall Kenan (1963-2020). Im Original bereits 1989 erschienen, erregte er ursprünglich recht wenig Aufmerksamkeit. Erst mit dem Erfolg der Kurzgeschichtensammlung Let the Dead Bury Their Dead (1992) änderte sich das und Kenans Debüt erhielt den Status eines schwulen Klassikers. Dass man den Roman heute eher zu den vergessenen Klassikern der schwulen Literatur zählt, hat vermutlich auch mit einem seiner zentralen Motive zu tun: Der scheinbaren Unvereinbarkeit einer schwulen und Schwarzen Identität.

Bereits James Baldwin sah sich in den frühen 50ern mit der gleichen Herausforderung konfrontiert. Homosexualität, so das Vorurteil, war ein Produkt der Sklaverei oder entstand durch den Kontakt mit Weißen – darüber zu schreiben, kam einem Verrat gleich. Wie auch der offen homosexuell lebende Bürgerrechtsaktivist Bayard Rustin galt Baldwin bei vielen genau deswegen als Verräter. Randall Kenan greift diesen Konflikt auf und beschreibt, was es bedeutet, mehrfach marginalisiert und in keiner Welt zu Hause zu sein.

Der sechzehnjährige Horace Thomas Cross wächst im Herzen einer Baptisten-Gemeinde in Tims Creek, North Carolina auf. Er ist mehr als er selbst, „[s]chon sein Vater und der Vater seines Vaters waren Kirchenmänner gewesen, und nun war es an ihm, die Gemeinde zu führen, zu leiten und zu beraten. Er war ein Oberhaupt, ein großer Stammesältester.“ Horace ist die Große Schwarze Hoffnung, er ist der Scheißheiland, sein Seufzen ist das eines alten Mannes, resigniert, schicksalsergeben und viel zu alt für einen Sechzehnjährigen.

Doch Horace will seiner Sünde entkommen. Er will kein Mensch mehr sein, er will ungehindert, ungebunden und frei sein. Auch wenn er ein rationaler Mensch ist, in der Mathematik und der Naturwissenschaft bewandert, kann ihn jetzt nur eines retten: „Er brauchte Glauben statt Fakten; Magie statt Mathematik; Erlösung statt Wissenschaft. Der Glaube würde ihn retten, nicht nur der Glaube, sondern der Glaube an den Glauben, der schon Daniel, Isaak und die Frau am Brunnen gerettet hatte.“ Ein magisches Ritual soll ihn in einen Vogel verwandeln. Doch das Ritual misslingt und so wandert Horace nackt, dreck- und rußbeschmiert und mit einem Gewehr bewaffnet durch die Nacht weiter auf der Suche nach Erlösung.

Horace – das ist von Beginn des Romans an klar – muss und wird durch die eigene Hand sterben. Doch bereits vor seinem Tod ist er wie Toni Morrisons Menschenkind ein Geist, der in dieser einen Nacht die Schauplätze seines eigenen Lebens heimsucht. Horace ist opak, die Leute sehen durch ihn hindurch. Was es bedeutet Schwarz zu sein, kann an dem Theater, für das Horace einen Sommer lang arbeitet und wo er seine Homosexualität offen ausleben kann, keiner verstehen. Seine Gemeinde kann diese nicht akzeptieren, doch sie lehren ihn mit Integrität, Würde und Stolz durch das Leben zu gehen. Mit ihren Geschichten über das Unrecht, das die Weißen ihnen angetan haben, legen sie ihm eine Rüstung an.

Als Moses Gott fragt, mit welchen Namen er ihn den Israeliten vorstellen soll, sagt er: „Ich bin der, der ich bin.“ Ein Gott kann namenlos bleiben, doch ein Mensch, der in der Sprache unsichtbar ist, nicht bei seinem Namen genannt werden kann, ist – auch im politischen Sinne – tot. Und so ist Randall Kenans Der Einfall der Geister auch als der Versuch zu verstehen, eine Schwarze schwule Identität sagbar zu machen.

Auf seiner Odyssee durch die Nacht wird Horace von einer Horde Dämonen begleitet, seine Doppelgänger, Ausdruck des Unnatürlichen und seines als monströs verstandenen Begehrens. Doch der Einfall der Geister und Dämonen ist auch eine Konfrontation mit einer Vergangenheit, an die Horace sich nicht selbst erinnern kann. Denn Kenan zeigt, wie das Erbe der Sklaverei Horaces Vorfahren und damit auch ihn selbst geprägt haben.

Randall Kenan, der oft mit James Baldwin und Toni Morrison verglichen wird, hat sich mit Der Einfall der Geister nicht nur einen Platz im Kanon der queeren Literatur gesichert. Er hat sich auch in die Tradition des American Gothic eingeschrieben. Mit Brandon Taylor, Brontez Purnell und Bryan Washington – um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen – hat eine neue Generation von Autoren, Ausdruck dafür gefunden, was es bedeutet, Schwarz und schwul zu sein. Aber auch 30 Jahre später ist eine Übersetzung von großer Literatur wie der von Randall Kenan nicht zu spät oder weniger wichtig. (Marlon)

Queere Freuden

Hier möchten wir auf Texte, Posts und andere Formate aus dem queeren Themenkosmos verweisen, die uns in den letzten Wochen beschäftigt haben.

Der Ausgangspunkt unseres Newsletters war und ist die Frage, ob es so etwas wie einen queeren Literaturkanon geben kann? Dementsprechend interessant finden wir die neue LGBTQ+-List, die unlängst im britischen Observer erschienen ist. Dafür haben die Redakteur*innen der Wochenzeitung 20 queere Autor*innen, darunter etwa Douglas Stuart, Jackie Kaye, Munroe Bergdorf, Torrey Peters und Ali Smith - gefragt, welche Titel ihrer Meinung nach als queere Klassiker gelten sollten. Die Antworten und Vorschläge sind so vielschichtig wie die Befragten selbst und enthalten einige schöne Überraschungen. Darunter ist auch Essex Hemphills Ceremonies, das von Paul Mendez vorgestellt wird. Zu Hemphill haben wir im letzten Jahr einen Essay im Newsletter publiziert (hier (Öffnet in neuem Fenster) könnt ihr ihn nachlesen). (Tobi)

https://www.theguardian.com/books/2023/apr/09/lgbtq-lost-classics-books-chosen-by-authors (Öffnet in neuem Fenster)

Wir kehren noch einmal in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurück: Im NS-Dokumentationszentrum München läuft noch bis zum 21. Mai die Ausstellung TO BE SEEN. queer lives 19OO–195O, die sich den Geschichten von LGBTIQ* in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmet. Dabei wird unter anderem dokumentiert, wie Homosexuelle, trans* und nichtbinäre Personen in ihrem Kampf für gleiche Rechte und gesellschaftliche Akzeptanz erste Erfolge erzielten, aber auch, wie die Machtübernahme der Nationalsozialisten diese weitgehend zerstörten. (Tobi)

https://www.nsdoku.de/tobeseen (Öffnet in neuem Fenster)
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