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Queerer Kanon #10: Wegweisende Verlegerinnen, ein Klassiker & Neues

Liebe Leser*innen

während diese zehnte Ausgabe unseres Newsletters entsteht, fallen sechs Schüsse auf das Schwule Museum* in Berlin. Einer trifft gezielt den in großen pinken Lettern gehaltenen Schriftzug, der ein weithin wahrnehmbares Zeichen der Sichtbarkeit setzt. Das Schwule Museum* beherbergt neben Ausstellungs- und Community-Räumen auch eines der wichtigsten queeren Archive Europas. 

Ein Angriff auf diese Institution ist ein Angriff auf alle queeren Menschen. Denn Archive ermöglichen es unter anderem, sich in Bezug zu setzen. Zu denen, die schon da waren, unseren Vorfahr*innen, unseren Vorkämpfer*innen, deren Identitäten häufig verlelugnet oder negiert wurden. Die keinen Eingang, keinen Niederschlag in klassische Archive gefunden haben. 

Zur etwa gleichen Zeit jährt sich etwas weiter nördlich in Berlin die Gründung des Spinnboden Lesbenarchivs zum fünfzigsten Mal. Ein weiterer zentraler Ort für die lesbische und queere Community, der uns mit Hilfe seiner Bibliothek und seines Archivs verortet, räumlich wie zeitlich. Und so mischt sich einmal mehr das Gefühl der Freude mit dem einer perkären Sicherheit. Ein Zustand, der vielen Queers (und anderen marginalisierten Minderheiten) nur allzu bekannt ist.

Eine weitere wichtige Institution hat vor zwei Wochen ihr Ende verkündet: der lesbische Verlag Krug & Schadenberg wird keine neuen Bücher mehr veröffentlichen. Tobi widmet sich in seiner Würdigung dem Schaffen von Andrea Krug und Dagmar Schadenberg, das zentral für die lesbische Sichtbarkeit im deutschen Literaturbetrieb ist.

Marlon befasst sich indes mit Leslie Feinbergs Stone Butch Blues, einem queeren Klassiker, dessen deutsche Übersetzung von Krug & Schadenberg veröffentlicht wurde. Darüber hinaus verschlägt es ihn ins Glasgow der 90er-Jahre zu Douglas Stuarts Titelhelden Young Mungo. Anschließend stellt Tobi eine neue Anthologie vor, die von der queeren Ikone Eileen Myles zusammengestellt wurde.

Zum Abschluss weisen wir noch auf zwei Projekte hin, an denen wir selbst gearbeitet haben: ein Podcast über verbotene Liebe(spaare), an dem Marlon mitgewirkt hat sowie einen Gastbeitrag über Autofiktion und Scham, den Tobi für den MCP-Newsletter unserer wunderbaren Freundin Maria-Christina Piwowarski geschrieben hat.

Im Rahmen von Queere Freuden erwarten euch zudem Links zu Texten, die uns in der letzten Zeit beschäftigt haben.

Wie immer freuen wir uns auf euer Feedback, eure Fragen, Vorschläge und Kommentare.

Tobi & Marlon

Krug & Schadenberg: Eine Würdigung

Dieser Text soll(te) den Startschuss für eine neue Reihe bilden, die sich lesbischen, schwulen und queeren Verlagen widmet, sowohl national als auch international. Die Wahl für den ersten Verlag fiel auf den lesbischen Verlag Krug und Schadenberg, der am 01. Mai 1993 von Andrea Krug und Dagmar Schadenberg in Berlin gegründet wurde.

Doch während des Schreibens erreicht uns die Nachricht, dass der Verlag Krug & Schadenberg nach 30 Jahren des Bestehens keine weiteren Bücher mehr veröffentlichen wird. Damit verliert die deutsche Verlagslandschaft eine wichtige Stimme. Denn das Programm von Krug und Schadenberg bestach von Anfang an mit einer so mutigen wie engagierten Bandbreite aus Romanen und Sachbüchern, darunter Krimis, Liebesromane, Autofiktion, wie man sie in dieser Konsequenz selten findet.

Den Beginn bildete im Herbst 1993 die Veröffentlichung von Susie Brights so humorvollem wie sex-positiven Ratgeber Susie Sexperts Sexwelt für Lesben (im amerikanischen Original 1990 erschienen, ins Deutsche übersetzt von Birgit Scheuch), der sich auf Anhieb großer Popularität erfreute und in aktualisierter und ergänzter Form als Best of Susie Sexpert (Öffnet in neuem Fenster) als E-Book erhältlich ist.

Darauf folgte 1994 mit Nancy Toders Die Wahl des Glücks (Öffnet in neuem Fenster) (im amerikanischen Original 1980 erschienen, übersetzt von Cornelia E. Kähler) ein Klassiker des Coming-Out-Romans. Darüber hinaus erschien mit Leslie Feinbergs Träume in den erwachsenden Morgen (im amerikanischen Original Stone Butch Blues, übers. v. Claudia Brusdeylins) einer der vielleicht wichtigsten, auf jeden Fall aber einflussreichsten, Texte der lesbischen und trans Literatur des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts.

Auch die international inzwischen sehr bekannte, vielfach adaptierte, britische Autorin Sarah Waters findet sich im Programm von Krug & Schadenberg. Ihr erster Roman Die Muschelöffnerin (im britischen Original Tipping the Velvet) erschien erstmals 2002 auf Deutsch im ebenfalls auf lesbische Literatur spezialisierten Daphne Verlag der Verlegerin Susanne Amrain, die auch für die Übersetzung verantwortlich zeichnete. Nach dem Tod Amrains im Jahr 2008 übernahmen Andrea Krug und Dagmar Schadenberg das Programm des Daphne Verlags und veröffentlichten unter anderem Waters Debüt in einer Neuauflage.

Neben Übersetzungen publizierte der Verlag auch regelmäßig Belletristik und Sachbücher deutscher Autorinnen. Darunter Manuela Kuck, die zehn Romane unter dem Dach von Krug & Schadenberg veröffentlichte und Claudia Breitsprechers soghaften Ost-West-Roman Vor dem Morgen liegt die Nacht (2005). Auch Sonja Schocks erzählendes Sachbuch Und dann kamst Du…und ich liebte eine Frau (1997), das nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat, sei hier genannt.

30 Jahre Verlagsgeschichte bedeuten auch, dass Krug & Schadenberg große Umbrüche erlebt hat. Etwa den Wegfall der Frauenbuchläden, die noch zu Verlagsbeginn eine wichtige Verkaufsstelle darstellten, wie Andrea Krug Ende letzten Jahres in einem Interview (Öffnet in neuem Fenster) erzählte. Der Sortimentsbuchhandel so Krug, spiele „leider insgesamt keine große Rolle mehr für uns.“ Es gebe Buchhändler*innen, die der Überzeugung seien, keine lesbische Kundschaft zu haben, weswegen sie auch keine lesbischen Bücher bräuchten.

Diesem Vorurteil, das sich vor allem aus Unwissen speist, ist schwer zu begegnen, sodass sich Krug & Schadenberg bemüht haben, direkt mit ihren Leser*innen in Kontakt zu treten, unter anderem mit Hilfe ihres eigenen Online Shops. Auch die Digitalisierung wurde vollzogen, fast das gesamte Verlagsprogramm ist inzwischen als E-Book verfügbar. 2020 erhielt der Verlag für lesbische Literatur den Deutschen Verlagspreis.

In den letzten Jahren wurden die Auflagen dennoch immer geringer. Zwar könnte man meinen, dass sich die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen hin zu einer höheren Akzeptanz queerer Menschen auch in den Verkaufszahlen niederschlagen. Dem war aber leider nicht so. Es fehlt nach wie vor an lesbischer Sicherheit.

So beobachten Andrea Krug und Dagmar Schadenberg in einem aktuellen Gespräch (Öffnet in neuem Fenster) mit dem Börsenblatt:

„Das Problem der lesbischen Sichtbarkeit, gegen das wir seit vielen Jahren angehen, scheint sich in der letzten Zeit wieder zu verstärken, und das nicht nur im Buchhandel. Aus dem LGBTQ*-Spektrum wird, wenn überhaupt, eher die schwule oder queere Literatur wahrgenommen.“

Ferner sei „das Etikett „queer“, unter dem explizit Lesbisches subsumiert und letztlich unsichtbar gemacht wird“, wenig förderlich. Ein Punkt, der zum Nachdenken anregt. Denn so sehr sich das Queere gerade durch das Sprengen von Kategorien, die Existenz außerhalb von Zuschreibungen und Definitionen auszeichnet, so sehr kann es mitunter Gefahr laufen, auf spezifische Personengruppen sowie sexuelle und Gender-Identitäten reduziert zu werden.

Die Pionierinnenarbeit von Andrea Kruger und Dagmar Schadenberg ist nicht zu überschätzen. Sie haben die deutschsprachige lesbische und queere Literatur enorm geprägt und bereichert. Über die Jahre, so sagen sie, haben sie viel Anerkennung und Wertschätzung erhalten. Darüber hinaus sind sie sich sicher, dass „[n]achwachsende engagierte BüchermacherInnen [] die Lücke, die wir hinterlassen, füllen [werden].“

Unser Lesen wäre ein anderes, hätte es den Verlag Kruger und Schadenberg nicht gegeben, daher möchten wir beide als Tipp und als Einstieg in dieses so vielfältige Programm unsere Lieblingstitel des Verlags nennen:

Marlon: Mireille Best: Camille im Oktober (aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer), Leslie Feinberg: Stone Butch Blues: Träume in den erwachsenden Morgen

Tobi: Nancy Toder: Die Wahl des Glücks, Ann Wadsworth: Mrs Medina (aus dem Amerikanischen von Andrea Krug)

Die Bücher sowie E-Books von Krug und Schadenberg sind weiterhin im Buchhandel sowie auf der Verlags-Website (Öffnet in neuem Fenster) erhältlich. (Tobi)

Over the Rainbow: Queere Klassiker

Leslie Feinberg: Stone Butch Blues 

Stone Butch Blues von Leslie Feinberg (1949-2014) ist einer der wichtigsten Klassiker der lesbischen und der trans Literatur. Der Roman erzählt die Geschichte von Jess Goldberg, einer Butch-Lesbe, die schon als Kind in mehrerlei Hinsicht eine Außenseiterin ist. Sie ist jüdisch und arm und steht von Anfang an außerhalb der binären Geschlechterhierarchie: “‘I’m sick of people asking me if she’s a boy or a girl,‘ I overheard my mother complain to my father. ‚Everywhere I take her, people ask me.‘” Um die Frage im Keim zu ersticken, stecken ihre Eltern Jess in eine Psychiatrie, wo sie lernen soll, sich dem binären System der Geschlechter zu unterwerfen.

Ein Zuhause findet sie zuerst in den Lesbenbars. Hier lernt sie, was es bedeutet, eine Stone Butch zu sein. In den Bars wird getanzt und gelacht, Jess lernt Frauen kennen, die wie sie sind: „[…] strong, burly women, wearing ties and suit coats. Their hair was slicked back in perfect DAs. They were the handsomest women I'd ever seen. Some of them were wrapped in slow motion dances with women in tight dresses and high heels who touched them tenderly. “

Die Bars dienen aber auch als Schule des Lebens. Die ältere Butch Al nimmt Jess unter ihre Fittiche, um sie auf das vorzubereiten, was unweigerlich geschehen wird. Regelmäßig finden Razzien statt, viele der Frauen werden Opfer von körperlicher Gewalt und Vergewaltigungen durch die Polizei.

Feinberg zeichnet ein historisches Portrait der queeren und lesbischen Barkultur (der Roman deckt den Zeitraum zwischen den 50er und den frühen 90er Jahren ab), in der Butch-/Femme-Dynamiken eine entscheidende Rolle gespielt haben. Von Seiten der Frauenbewegung kam der Vorwurf, dass Butches sich patriarchaler Machtstrukturen bedienten. Ein Vorwurf, der Butches aus Schutzräumen, auch den emotionalen, ausgeschlossen hat. Für sie war die Gefahr, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, entsprechend hoch. Um zu überleben, mussten sie eine Mauer des Schweigens um sich herum errichten, sie mussten steinern werden – oder auch Stone Butches.

Jess lässt das Nachtleben hinter sich und sucht sich einen Job in eine der Fabriken, wo es für eine Butch wie sie die Chance gibt, einen festen Job zu finden, ihre Rechnungen zu bezahlen und sich mit einer Femme niederzulassen. Hier nimmt Jess – wie auch Leslie Feinberg selbst – eine entscheidende Rolle im Aufstieg der Gewerkschaften ein. Im Hintergrund von Jess‘ Leben zeigt sich das Bild einer sich verändernden politischen wie gesellschaftlichen Landschaft. Die Bürgerrechtsbewegung, der Vietnamkrieg, Stonewall, die Studenten- und die Frauenrechtsbewegung – die Ereignisse betreffen die Arbeiter*innen in den Fabriken zunächst oft nur peripher, doch Stone Butch Blues zeigt, wie sehr die Rechte von Arbeiter*innen und queeren Menschen letzten Endes doch miteinander verwoben sind.

Dass ein Roman, der sich selbst als ‚anti-oppression/s novel‘ versteht, ebenso u.a. die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung thematisiert oder auch die Segregration bis Mitte der 1960er Jahre, ist nur konsequent. Für einen 1993 veröffentlichen Roman ist der Text also erstaunlich progressiv, ist streckenweise aber schlecht gealtert, auch weil er sich so mancher Klischees bedient. Jess‘ Welt ist bevölkert von Huren mit einem Herz aus Gold, weisen indigenen Frauen – und einer Protagonistin, der man heute einen White-Savior-Komplex attestieren würde.

Das hat aber sicherlich auch damit zu tun, dass Jess als eine Art Messias-Figur angelegt ist, ähnlich wie Stephen Gordon aus Radclyffe Halls Klassiker The Well of Loneliness. Eine Ahnenreihe, in die sich Feinberg übrigens auch selbst verortet. Denn wie alle Figuren im Roman ist Jess zugleich überzeichnet und seltsam formlos. Das entspricht natürlich Jess‘ Innenleben: Sie muss formlos sein, weil sie in keine der Geschlechterkategorien der Gesellschaft passt. Gleichzeitig steht ihr Pfad stellvertretend für so viele andere gender-queere Menschen, die pionier*innengleich vorangeschritten sind:

“Once again I couldn't see the road ahead. I was still steering my own course through uncharted waters, relying on constellations that were not fixed. I wished there was someone, somewhere I could ask: What should I do? But no such person existed in my world. I was the only expert on living my own life, the only person I could turn to for answers.”

Auch wenn Stone Butch Bluesautobiographische Elemente enthält, handelt es sich um einen fiktionalen Roman. Trotzdem kann man in diesen Worten unschwer sowohl Jess als auch Feinberg als schreibende Person heraushören, die mit dieser Geschichte Neuland betreten hat und mit den zur Verfügung stehenden Worten eine Sprache für etwas finden musste, was so noch keinen Ausdruck in der Literatur gefunden hatte. Feinberg selbst schreibt, dass die im Roman dargestellte (sexualisierte) Gewalt weder überflüssig noch anzüglich sei – vielmehr sei sie allgegenwertig.

Um ihr Überleben zu sichern, entscheidet sich Jess, männliche Hormone zu nehmen und sich einer Mastektomie zu unterziehen. Erst viele Jahre später wird sie aufhören, sich regelmäßig die Hormone zu spritzen. Was wie eine der Geschichten klingt, die Konservative ausschlachten könnten, um trans Menschen ihr Existenzrecht abzusprechen, ist viel mehr das Zeugnis einer Befreiung und des Erkundens. Dieser Wandel, der heutzutage viel zu schnell als Detransition verschrien ist, zeigt Geschlecht nicht als geradlinigen Weg von A nach B, sondern als Erforschen der Zwischenräume, ein Suchen und Tasten, das keine Reue kennt. Schon vor 30 Jahren war Stone Butch Blues mutig genug, sich für kein entweder/oder-Szenario zu entscheiden.

Man kann dem Roman einiges vorwerfen. Etwa, dass er zu lang ist und gleichzeitig zu viel auf einmal erreichen will. Die klischeehafte Prosa und die oft zu blasse Figurenzeichnung – und doch vergibt man dem Text all diese Schwächen, weil Feinberg doch etwas Anderes, etwas viel Wichtigeres schafft: das Streben nach Freiheit und die kompromisslose Suche nach einem authentischen Ich der Figur Jess stets greifbar zu machen. Stone Butch Blues ist wie die besten Klassiker so frustrierend wie erhellend, überholt und doch modern, vertraut und doch wegweisend.

Neben Stone Butch Blues hat Leslie Feinberg zudem die Sachbücher Transgender Warriors: Making History from Joan of Arc to Dennis Rodman und Trans Liberation: Beyond Pink or Bluegeschrieben. Feinbergs Texte waren wegweisend für die Gender und Queer Studies. Leslie Feinbergs letzte Worte sollen „Remember me as a revolutionary communist." gewesen sein, entsprechend hat Feinberg die Rechte an Stone Butch Blues erworben und eine kostenfreie PDF des Romans auf der offiziellen Webseite zur Verfügung gestellt. (Marlon)

(Die deutsche Version wurde von Claudia Brusdeylins aus dem Amerikanischen übersetzt. Sie ist als Stone Butch Blues – Träume in den erwachenden Morgen beim Verlag Krug & Schadenberg erschienen)

Out & Proud: Aktuelles & Neuerscheinungen

Douglas Stuart: Young Mungo (aus dem Englischen von Sophie Zeitz, erschienen bei Hanser Berlin) (Öffnet in neuem Fenster)

„Mungo rieb sich die Stirn. «Hast du mir gerade ne Kopfnuss gegeben?»

«Wenns dir lieber ist, sagen wir, es war ne Kopfnuss?» Das Lächeln auf seinen Lippen verflüchtigte sich wieder.

«Quatsch.» Mungo sah sich auf dem Hügel um, und dann küsste er James schnell auf den Mund. Es war wie heißer gebutterter Toast, wenn man am Verhungern war. Es war so gut.“

Glasgow in den 90er Jahren: Mungo ist gerade 15 Jahre alt, von Schottland und der Welt hat er nichts gesehen. In seiner begrenzten Welt herrschen Armut und Arbeitslosigkeit, auf den Straßen bekriegen sich die Protestanten mit den Katholiken. Wie so viele andere auch war seine Mutter bei der Geburt ihrer Kinder zu jung. Sie hat sich dem Alkohol hingegeben. Trinkt sie zu viel, kommt das Monster Tattie-Bogle zum Vorschein. Sein Schicksal ist es, ein Mädchen zu schwängern, und sich seinem Bruder Hamish, genannt Ha-Ha, in seinem Bandenkrieg anzuschließen. Doch Mungo lernt den melancholischen James kennen. Und mit ihm öffnen sich die Grenzen seiner Welt.

Young Mungo von Douglas Stuart erzählt seine Geschichte auf zwei Zeitebenen: dem Januar davor und dem Mai danach. Beides Geschichten über einen Initiationsritus, beides Geschichten, welche die Möglichkeiten von Männlichkeiten verhandeln, ihren Gefahren – und auch ihrer Unschuld.

Der Mai danach erzählt von einer Reise: Gemeinsam mit Gallowgate und St. Christopher, zwei Alkoholikern, denen seine Mutter ihn anvertraut hat, fährt Mungo für ein Wochenende an einen abgelegenen See, irgendwo im Norden Schottlands. Er soll lernen, ein Zelt aufzubauen, ein Lagerfeuer zu errichten, zu angeln – aus ihm soll endlich ein richtiger Mann werden. Dem gegenüber steht der Januar davor, der von der Initiation der Liebe erzählt. Denn ausgerechnet in James, den Wahren, den Guten, verliebt sich Mungo.

Douglas Stuart erzählt eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte. Denn die Liebe zwischen dem Protestanten Mungo und dem Katholiken James, ist gefährlich. Sie benutzen ihre Hände, um den Körper des jeweils anderen zu erkunden, nicht, um sie zu bewaffnen und den Körper des Gegenübers zu vernichten. Diese unzählige Male erzählte Geschichte ist erstaunlich, weil Stuart mit den Klischees spielt, genauso schnell aber mit ihnen bricht.

Es stimmt: Mungo ist zu zart und zu zerbrechlich für die Härte des Glasgower Arbeiterviertels und für die Bandenkriege, die sein Bruder Hamish mit der Strenge eines Offiziers führt. Doch er entspricht genauso wenig dem klassischen Bild des schwulen Außenseiters, wie ihn die queere Literatur so oft hervorgebracht hat. Den strebsamen Erlöser, der sich durch Bildung von den Fesseln seiner Herkunft befreien wird.

Diese Rolle übernimmt viel mehr Jodie, Mungos ältere Schwester. Vielleicht will Mungo nicht einmal gerettet werden, vielleicht ist er zu abhängig von der Liebe, die er seiner alkoholkranken und selbstsüchtigen Mutter aufopfert: „Ihr Bruder war Mo-Maws Nebenmond, ihre wärmste Sonne, und zur gleichen Zeit ein kleiner Trabant, den sie vergessen hatte. Er würde sie bis in alle Ewigkeit umkreisen, selbst wenn sie, und dann er, in Stücke zersprang.“

Die Liebe der beiden Jungen ist mal zärtlich, mal ein Raufen, mal gleicht sie einem Wunschtraum, mal gleicht sie den Blödeleien zweier pubertierender Jungen. Stuart gibt seinen Figuren genug Freiraum, um nicht nur eine Sache zu sein. Sie widersprechen sich, sind fehlerbehaftet, menschlich.

Ein Aspekt des Romans, der immer wieder in den Fokus gerät, ist die Darstellung von (sexualisierter) Gewalt. Dabei scheint mir die Fokussierung und die Rezeption dieses Aspekts vor allem ein Problem der Lesenden zu sein und nicht ein Problem des Textes. Zum einem, weil die explizit dargestellte Gewalt der Notwendigkeit geschuldet ist, dieser gerecht zu werden. Zum anderen auch weil Stuarts Erzähler in den entscheidenden Momenten – vor allem, was die sexualisierte Gewalt betrifft – ausblendet und dem emotionalen Trauma seiner Figur Raum gibt.

«Mungo Hamilton, du bist ein kleiner Taugenichts.»

Der Briefkasten schnappte wieder zu. Mungo setzte sich auf. Eine kleine Pause entstand, bevor der Deckel wieder aufging. «Aber ich lieb dich trotzdem.» Er klappte zu, dann sprang er wieder auf. «Du kleiner Scheißer.»

Diese Fokussierung ignoriert aber auch, dass Young Mungo keine Geschichte erzählt, die sich im Leid ihrer Figuren suhlt und dieses ausschlachtet. Denn Stuart erlaubt seinen Figuren auch, zu lachen, zu lieben, sich zu freuen, Träume zu hegen und Glück in den kleinen Momenten zu finden. Innerhalb der Grenzen ihres Lebens besitzen die Charaktere Handlungsmacht; sie sind keine bloßen Opfer.

Young Mungo, Douglas Stuarts zweiter Roman nach Shuggie Bain, ist ein Buch über die Grenzen(losigkeit) der Liebe, über Gewalt und Männlichkeit(en), über (Un-)Schuld und Erlösung. Ein Roman, in dessen Zentrum dank der Subtilität seines Autors ein liebenswerter Held steht, wie ihn die (queere) Literatur bisher kaum gesehen hat. (Marlon)

Eileen Myles (Hrsg.): Pathetic Literature: An Anthology (erschienen bei Grove Press) (Öffnet in neuem Fenster)

"In general poems are pathetic and diaries are pathetic. Really Literature is pathetic. Ask anyone who doesn't care about literature. They would agree. If they bothered at all."

Die ersten Sätze von Eileen Myles (Chelsea Girls) Einführung in die von ihr*ihm zusammengestellte Anthologie Pathetic Literature mögen zunächst irritieren. Denn wenn Literatur wirklich so Mitleid erregend / armselig, ja jämmerlich sein sollte, wozu braucht es dann dieses rund 650 Seiten lange Kompendium? "Why bother?", um ins Englische zurückzukehren.

Diese Frage antizipiert Myles natürlich und rekurriert darauf, dass "pathetic" im 19. Jahrhundert noch etwas berührendes, pointiertes bedeutete, auf die rhetorische Methode des Pathos zurückgehend. Es ist dieser Moment, an dem wir Veränderungen sehen können, der Myles interessiert und den die Texte der von ihm*ihr anthologisierten Autor*innen durchziehen. 

Ob explizit in dem, was sie erzählen oder implizit in ihrer Botschaft, ob formal und stilistisch oder inhaltlich (oft beides). Aber auch die gesellschaftlichen wie politischen Geschehnisse des letzten Jahrhunderts haben Einfluss auf Myles Anthologie. So konstatiert Myles "AIDS is a lot of the reason for this pathetic book."

Die Reihe der 106 Autor*innen, die Myles in Pathetic Literature versammelt, beeindruckt sowohl in ihrer Vielfalt als auch in ihrer Anordnung. Unerwartete Resonanzen ergeben sich, wenn etwa Dennis Cooper auf Dodie Bellamy stößt, Jorge Luis Borges neben Judy Grahn steht, Robert Walser sich in Nachbarschaft mit Rose "Rosebud" Feliu-Pettet befindet.

Bekanntere Namen wie einige der genannten, Myles selbst, Kathy Acker oder Valerie Solanas stehen neben neuen Stimmen, Vergessenen und Übersehenen. Gedichte neben Stücken, Kurzgeschichten und freier Prosa, die sich irgendwo dazwischen bewegt. Zusammen bilden sie ein Kaleidoskop unterschiedlichster Perspektiven, queer, trans, seltsam, freudvoll, skeptisch, offen.

Pathetic Literature ist daher auch weniger ein Buch, das sich für eine chronologisch-lineare Lektüre anbietet. Vielmehr erlaubt es Leser*innen, immer wieder darin einzutauchen. Hier ein Gedicht, dort einen Prosa-Ausschnitt aus einem längeren Werk zu lesen. Und es macht Lust auf die Werke der von Myles ausgewählten Autor*innen. (Tobi)

In eigener Sache

Marlon war im Literatur und Feuilleton Podcast zum Thema "Verbotene Liebe" zu Gast und hat unter anderem über Patricia Highsmith und James Baldwin gesprochen. Die Folge könnt ihr euch hier anhören:

https://literaturundfeuilleton.com/2023/02/22/podcast-literatur-und-feuilleton-folge-011-verbotene-liebe/ (Öffnet in neuem Fenster)

Tobi hat in einem Gastbeitrag für den MCP-Newsletter von Maria-Christina Piwowarski über Autofiktion und Scham gesprochen. In seinem Text geht es auch um homophobe sowie sexuelle Gewalt, daher sei dies auch als Triggerwarnung verstanden. Darüber hinaus wird er am 24.03., um 20:23 Uhr in Marias "Freitagsstunde" (Öffnet in neuem Fenster) zu Gast sein, die Live auf Instagram stattfindet.

https://steadyhq.com/en/mariachristinapiwowarski/posts/8ae7a9cd-e51e-45ff-8228-a0738a23fcdf (Öffnet in neuem Fenster)

Queere Freuden

Hier möchten wir auf Texte, Posts und andere Formate aus dem queeren Themenkosmos verweisen, die uns in den letzten Wochen beschäftigt haben.

Leslie Steinbergs weiter oben vorgestellter Klassiker Stone Butch Blues kann im englischen Original auf der offiziellen Webseite gratis als PDF heruntergeladen werden. (Marlon)

https://lesliefeinberg.net/wp-content/uploads/2015/08/Stone-Butch-Blues-by-Leslie-Feinberg.pdf (Öffnet in neuem Fenster)

In Deutschland ist das Cover von Douglas Stuarts Young Mungo bereits vor Erscheinen in die Kritik geraten. Für so manche Buchhandlung war das Bild zweier sich küssender Männer zu viel. Wieso dieses berühmte Foto von Wolfgang Tillmanns auch heute noch so wichtig ist und warum es die Atmosphäre des Romans perfekt einfängt, verrät euch dieser Artikel:

https://theface.com/culture/douglas-stuart-young-mungo-new-book-2022-wolfgang-tillmans-cover-photography-lgbtq-queer-culture (Öffnet in neuem Fenster)

Queere Menschen gab es schon lange, bevor der Begriff queer salonfähig wurde. Simon Sales Prado stellt in seinem sehr berührenden Artikel für die Sueddeutsche Zeitung vier von ihnen vor. Alle sind sie vor 1945 geboren und Zeitzeug*innen einer sich wandelnden Gesellschaft und queeren Selbstverständnisses (leider ist der Artikel hinter einer Paywall). (Tobi)

https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/gesellschaft/lgbtq-alter-queer-e250019/?reduced=true (Öffnet in neuem Fenster)

Die queere italienische Schriftstellerin Goliarda Sapienza war in vierlerlei Hinsicht ihrer Zeit voraus. Um sich ihrem Opus magnum Die Kunst der Freude (aus dem Italienischen von Esther Hansen & Constanze Neumann) widmen zu können, bestahl sie eine Freundin, was ihr einen Aufenthalt im Frauengefängnis einbrachte. Der Podcast The Italian Files (englisch) widmet Sapienza eine so spannende wie informative Folge. (Tobi)

https://open.spotify.com/episode/6XLKdDm5w5ytRGTuTcflqa (Öffnet in neuem Fenster)

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