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Queerer Kanon #9: Nostalgietrips, queere Selbsterweckungen & Klassiker

Liebe Leser*innen

mit dieser neunten Ausgabe feiert unser Newsletter seinen ersten Geburtstag. Im Februar 2022 haben wir den ersten Queeren Kanon? verschickt. Daher möchten wir an dieser Stelle allen Leser*innen, Mitstreiter*innen und Unterstützer*innen für die Treue und das regelmäßige Feedback danken.

Was hinter unserem Newsletter-Magazin steht und wie es entstanden ist, haben wir jüngst dem Börsenblatt erzählt (hier (Öffnet in neuem Fenster)kann man den Artikel nachlesen). Mehr dazu und wie wir den Kanon als solchen verstehen auch hier (Öffnet in neuem Fenster).

In dieser Ausgabe folgt Tobi Bret Easton Ellis in die (schwule) Jugend seines Alter Egos im Los Angeles der frühen Achtzigerjahre und stellt euch Constance Debés queere, autofikitonale Selbsterweckung vor.

Marlon widmet sich mit David Wojnarowiczs Close to the Knives und Patricia Highsmiths Carol zwei großen Klassikern der amerikanischen queeren Literatur, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Und zum Schluss legen wir euch in Queere Freuden noch eine queer-lesbische Kulturpartie sowie eine sehenswerte Doku über Wojnarowicz ans Herz.

Wie immer freuen wir uns auf euer Feedback, eure Fragen, Vorschläge und Kommentare.

Tobi & Marlon

Im Westen nicht allzu viel Neues

Bret Easton Ellis: The Shards (aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch) (Öffnet in neuem Fenster)

Nach Lektüre seines 2019 erschienenen Essay-Bands White, steht zu befürchten, dass Bret Easton Ellis so seine Probleme damit hätte, in einem queeren Literatur-Newsletter thematisiert zu werden. Denn in seinen letzten veröffentlichten Texten kritisierte er unter anderem einen von ihm konstatierten Opferkult unter LGBTI-Aktivist*innen, vor dem Hintergrund einer, so Easton Ellis, flächendeckenden "neue[n] Akzeptanz schwulen Lebens und gesellschaftlicher Gleichheit."

Eine Diagnose, die viele, die sich in den letzten Jahren auch nur ansatzweise mit amerikanischer (Gesellschafts-)Politik beschäftigt haben, durchaus überraschen dürfte. Fragen zu seiner Sexualität ist Easton Ellis selbst lange ausgewichen. Unter anderem, weil er befürchtete, sein Werk könne dann anders gelesen werden. Inzwischen ist bekannt, dass er mit dem rund 20 Jahre jüngeren Musiker Todd Michael Schultz zusammenlebt. Über Letzteren und vor allem über dessen Generation (Schultz ist Millennial) hat sich Ellis ausführlich in White und einigen Interviews zu dessen Publikation ausgelassen. 

Nun muss man bei Easton Ellis immer seine Lust an der Provokation und Überspitzung berücksichtigen. Und seine Außenseiterrolle im amerikanischen Literaturbetrieb. In den Achtzigern und vor allem in den frühen Neunzigern, nach Veröffentlichung seines Skandalromans American Psycho (1991), galt er als Enfant terrible, das leidenschaftlich gehasst und geliebt wurde. American Psycho stand etwa in Deutschland unter anderem aufgrund der darin beschriebenen Gewaltexzesse sechs Jahre lang auf dem Index.

Doch Zugang zur kulturellen Elite der USA fand er nie. Seine Romane wurden nicht mit Preisen überhäuft und er fühlte sich lange wie ein Ausgestoßener. Dabei hatte er früher als viele seiner US-amerikanischen Kolleg*innen mit Auto- und Metafiktion und der Grenze zwischen Autor und Erzähler gespielt. Nicht zuletzt waren die besten Texte in White diejenigen, in denen er biografische Einblicke gab, etwa seine Jugend an der amerikanischen Westküste nachzeichnete. In seinen letzten Romanen, wie auch in seinem neuen, tauchten immer wieder Versionen seiner Selbst auf, weswegen dieser Text mit einem Blick auf seine eigenen Aussagen beginnt.

Am bekanntesten ist Easton Ellis wohl aber als eine Art Kartograph des amerikanischen Neoliberalismus der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre. Die Zeit, in der er selbst literarisch am erfolgreichsten war. Was nicht zuletzt ein Grund dafür sein könnte, warum er mit seinem neuen Roman The Shards dorthin zurückkehrt. 

Darin erzählt Easton Ellis vom letztem High-School-Jahr seines Erzählers Bret (Easton Ellis Alter Ego) auf einer teuren Privatschule in Los Angeles. Wir schreiben das Jahr 1981, Bret gehört zu den Stars der Schule, nicht zuletzt aufgrund seiner Nähe zu Susan und Thom, dem archetypischen Homecoming-Traumpaar. Er hat eine Freundin, obwohl er eigentlich schwul ist und Affären mit zwei Mitschülern pflegt, die wie fast das gesamte Personal in The Shards überdurchschnittlich gutaussehend, trainiert und privilegiert sind.

Während sich der Rest der Clique langsam auf den Abschluss vorbereitet, schreibt Bret an seinem ersten Roman, Less Than Zero (1985), der ihn einige Jahre später zum Wunderkind des amerikanischen Literaturbetriebs der Achtzigerjahre machen wird. Doch die schon leicht aufkommende Nostalgie ob des Endes der High-School-Zeit wird von einem neuen Mitschüler gestört. Robert Mallory ist gleißend schön, enigmatisch und undurchdringlich und Bret ist sich von Anfang an sicher, dass er ein falsches Spiel spielt. Währenddessen treibt ein Serienmörder in Los Angeles sein Unwesen, der seine Opfer aufs Grausamste zurichtet. 

Easton Ellis bettet seine Handlung in eine Metaerzählung ein. Zu Beginn lässt der Erzähler Bret die Leser*innen wissen, er habe es erst jetzt, in der Gegenwart, geschafft, die Geschehnisse seines letzten High-School-Jahres zu Papier zu bringen. Ein vorheriger Versuch habe bei ihm eine solch starke körperliche Reaktion hervorgerufen, dass er sich im Krankenhaus wiederfand. Dabei geht er unter anderem auch auf die Rezeption seiner anderen Werke ein und die Tatsache, dass er in den letzten Jahren vor allem Auftragsdrehbücher geschrieben hat, die nicht verfilmt wurden.

Diese Mischung aus Fakt und Fiktion ist durchaus reizvoll, zumal Easton Ellis geschickt die Grenzen zu verwischen weiß. Allerdings - und dies ist meiner Meinung nach ein Problem des kompletten Texts - erzählt er so aus- und abschweifend, dass The Shards immer wieder an Tempo und Fokus verliert. Nun bedient sich Easton Ellis auch in seinen anderen Romanen gern an Wiederholungen als Stilmittel der Verdeutlichung. Literarischer Purismus war daher nicht zu erwarten. Dennoch wikt The Shards an einigen Stellen redundant. 

Letzteres mag auch daran liegen, dass Easton Ellis seinen Stoff in einer früheren Fassung als wöchentliche Lesung in seinem kostenpflichtigen Podcast vorgetragen hat. Das hatte besonders zu Anfang den Reiz, dass nicht sicher war, ob gerade der Moderator Bret Easton Ellis, dessen non-fiktionaler Podcast seit längerem etabliert war, oder der Erzähler Bret spricht. Die vielen Wiederholungen und Vorgriffe funktionieren auf der auditiven Ebene durchaus, denn sie schaffen Atmosphäre, kreieren Bilder und sorgen dafür, dass Hörer*innen dranbleiben.

In der literarischen Adaption hätte der Autor sich aber stärker auf sein erzählerisches Können verlassen können. Denn er ist nach wie vor ein ungemein filmischer Erzähler, dem es mühelos gelingt, glänzende Oberflächen zu erschaffen und das Milieu seiner Jugend bis in den letzten Winkel auszuleuchten. 

Doch wahnsinnig viel Neues findet er dort nicht. Ronald Reagans Trickle-Down-Ökonomie, die wie Raketentreibstoff den Neoliberalismus beförderte und uns unter anderem die Figur des Yuppies bescherte, wurde literarisch wie popkulturell vielfach und vor allem schärfer seziert. Nicht zuletzt von Easton Ellis selbst (Patrick Bateman lässt grüßen). Stattdessen poliert er einmal mehr die glänzenden Oberflächen der Schönen und Reichen, unter denen erwartungsgemäß Perversionen lauern. Das hat man nicht zuletzt im Kino und Fernsehen durchaus spitzer gesehen. Man denke etwa an Mike Whites HBO-Serie The White Lotus (2021-22) oder Ruben Östlunds Satire Triangle of Sadness (2022).

Mit am spannendsten sind noch die Einblicke in die Homosexualität seines Erzählers. Denn noch nie hat Easton Ellis so explizit über gleichgeschlechtliches Begehren und schwulen Sex geschrieben. Auch dem damit einhergehenden Versteckspiel, dem Schmachten und den erotischen Fantasien widmet er Raum. Und immer wieder blitzt die Sorge vor dem Entdecktwerden hervor. Genauso wie die internalisierte Homophobie, etwa wenn der Erzähler konstatiert, dass ein homosexueller Charakter gar nicht schwul wirke. 

Das mag literarisch nicht neu sein, zumal im Jahr 2023. Dennoch ist es in The Shards eine willkommene Bereicherung, die Augenblicke der Empathie ermöglicht und queere Scham spürbar macht. Und die vielleicht den Weg in eine neue Periode in Easton Ellis' Schaffen weist. Bereits in den zahlreichen Interviews, die er im Rahmen seines Podcasts geführt hat, zeigte er eine Empathie, die in seinen Romanen selten zu spüren war.

So wirkt auch der Blick des Erzählers auf sein Figurenarsenal zärtlicher als in den frühen Werken, an die The Shards anknüpft. Nostalgie und Wehmut mischen sich immer wieder in den Ton. Auch kommt Bret nicht umher, die ein oder andere Angewohnheit mit heutigen gesellschaftlichen Sensibilitäten zu kontextualisieren, was mitunter den Textfluss bremst. Der Serienkiller-Plot gerät immer wieder in den Hintergrund. Er sorgt zwar für einige Momente des Suspense - hier zeigt sich erneut Easton Ellis versiertes Spiel mit filmischen Erzählmitteln - steuert schlussendlich aber ein wenig ins Nichts.

Man kann sich durchaus fragen, warum Easton Ellis nach so vielen Jahren wieder in die frühen Achtziger zurückkehrt. Was möchte er noch erzählen, welche Themen anschneiden? Vielfach wird sein neuer Roman als eine Art Amalgam seines bisherigen Werks bezeichnet. Eine Reise zu den Ursprüngen.

Mit seinen 736 Seiten Länge wirkt The Shards mitunter jedoch wie die Neueinspielung des größten Erfolgsalbums einer in die Jahre gekommenen Rockband: Die Produktion ist makellos, der Sound wuchtig, Bonusmaterial und alternative Versionen wurden hinzugefügt. Doch die Unmittelbarkeit des Originals ist verlorengegangen, alles wirkt zugleich aufgebläht und aus der Zeit gefallen. (Tobi)

Die Freischwimmerin

Constance Debré: Love Me Tender (aus dem Französischen ins Englische von Holly James, erschienen bei semiotext(e)) (Öffnet in neuem Fenster)

Warum sollte die Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Sohn anders sein als andere Arten der Liebe? Warum sollte es beiden nicht möglich sein, sich nicht mehr zu lieben? Sich zu trennen? 

Mit diesen Fragen beginnt Constance Debrés Roman Love Me Tender (2022). Doch das stimmt nicht ganz, denn vor der ersten Frage steht ein "I don't see", also ein "Ich verstehe nicht (warum) / Ich wüsste nicht (warum)." Und damit kommen wir vielleicht schon an den Kern von Debrés virtuosem Text. Denn ihre namenlose Ich-Erzählerin stellt sich nicht nur diese Fragen, sie lässt darauf auch Taten folgen.

Sie streift alle Verbindlichkeiten ab, verlässt mit Anfang vierzig ihren Ehemann und das bequeme Leben als Teil der gehobenen Mittelklasse. Kündigt ihren Job als Anwältin zugunsten des Schreibens. Schert sich den Kopf und beginnt Affären mit Frauen, die ineinander übergehen. Schwimmt jeden Tag, sodass ihr Körper sich verändert, stark wird, von außen maskulin gelesen. Eine queere Selbsterweckung könnte man sagen. 

Der Preis dafür ist hoch: Tut ihr Mann ihre Entscheidung und ihre wechselnden Partnerinnen anfangs noch als Phase ab, reagiert er umso härter, als ihm klar wird, dass sie nicht zurückkommt. Er entzieht ihr den gemeinsamen Sohn, bedient sich aller Mittel des französischen Rechtssystems, um sie als schlechten Umgang zu brandmarken. Ihre Social-Media-Profile werden genauso durchforstet wie ihr Bücherregal; ihre Lektüren als inkriminierende Beweise angeführt. Hervé Guiberts Verrückt nach Vincent soll etwa pädophile Neigungen beweisen, ebenso wie Fotos mit ihren schwulen Freunden. 

Doch Debrés Erzählerin gibt nicht auf. Sie empfindet ihre Homosexualität als Befreiung, kämpft um ihr Besuchsrecht und gerät in die bürokratischen Mühlen des französischen Familienrechts. Ihre Selbsterweckung trifft auf die Vorurteile einer Gesellschaft, die sich zwar modern gibt, für die aber eine Frau, die sich traditionellen heteronormativen Geschlechterrollen entzieht, eine Herausforderung darzustellen scheint. 

Ohne festen Wohnsitz zieht sie von Appartment zu Appartment, klaut, schreibt, schwimmt und hat Sex. Ihre Partnerinnen sind jung und alt, wohlhabend und arm, Mütter und Töchter. Wollen sie etwas Beständigeres, macht sie mit ihnen Schluss. Der Fokus liegt immer auf dem Schreiben und der Freiheit. Und damit auf der Rückgewinnung und Sicherung ihrer eigenen Handlungsmacht.

Love Me Tender ist der zweite Teil einer autofiktionalen Trilogie, die Debré in Frankreich viel Aufmerksamkeit eingebracht hat. Es ist das erste ihrer Bücher, das auf Englisch erscheint (auf Deutsch ist bisher keiner ihrer Texte erschienen). Und es entzieht sich ebenso sehr den Zuschreibungen wie es Debrés Ich-Erzählerin tut.

Handelt es sich um einen Roman? Der Verlag lässt dies bewusst offen. Debré hingegen hat vor Kurzem in einem Interview bekundet (Öffnet in neuem Fenster), ihr Werk als Fiktion anzusehen, nicht als Autobiografie oder Memoir. Was einen Roman ausmache, so die Schriftstellerin, sei seine Form. Und die ist im Fall von Love me Tender bemerkenswert.

Debré erzählt in kurzen Kapiteln und Absätzen, aufs Notwendigste verdichtet. Ihr Text ist wie der vom Schwimmen gestählte Körper ihrer Erzählerin: sehnig und kraftvoll, ohne eine Spur von Fett. Jedes Wort, jeder Punkt, jedes Komma sitzt. Die Autorin schreibt mit großer Klarheit und liefert immer wieder so bestechende wie mitunter schmerzhafte Analysen von Mutterschaft, Liebe und Sex.

Sie entdeckt eine queere Zeitlichkeit außerhalb der heteronormativen Linearität: "Im turning time on its head. I'm taking a walk through it. Doing things ass-backwards. I'm messing with the fast-forward and rewind buttons." Auch hier spiegeln sich Form und Plot ineinander. Denn Love Me Tender umspannt mehrere Jahre, springt in der Zeit vor und zurück, folgt seiner eigenen, selbstbestimmten Logik.

Dabei ist Debré näher an den queeren Meistern der französischen Autofiktion Guibert und Guillaume Dustan, denen sie sich verbunden fühlt, als an Annie Ernaux, mit der sie derzeit oft verglichen wird. Was Love Me Tender letztendlich zu einem zeitlosen Text macht, ist die Konsequenz, mit der hier Form und Plot einander reflektieren. Die Kraft, die aus der Klarheit entsteht und sich nicht brechen lässt. (Tobi)

Over the Rainbow: Queere Klassiker

David Wojnarowicz – Close to the Knives: Memoiren der Desintegration (aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Ernsting, eschienen bei mox und maritz) (Öffnet in neuem Fenster)

David Wojnarowicz (1954-1992) war Künstler, Aktivist und Schriftsteller. Close to the Knives, seine Memoiren der Desintegration (aus dem Amerikanischen von Stefan Ernsting) lassen sich formal wie inhaltlich nur schwer fassen. Das Buch verwehrt sich dem klassischen Narrativ des Memoirs, ist assoziativ; eine Mischung aus Autobiographie, politischem Manifest, Essay und schriftlicher Performance. Close to the Knives ist vor allem aber eins: Eine Stimme, die sich erhebt, und gegen all jene anschreibt, die sie und die Ihren zum Schweigen bringen wollen.

Den Untertitel Memoiren der Desintegration beschreibt Olivia Laing im Vorwort der englischsprachigen Originalausgabe als eine Anspielung auf „both its chopped-up nature, collage structure and to the landscape it maps: a place of loss and danger, of transient beauty and dogged resistance.“ Denn Wojnarowicz beschreibt ein Land bevölkert von Queers, Obdachlosen, Sexarbeiter*innen, Kriminellen und Junkies – eine Welt, die in den Augen der Öffentlichkeit nicht existiert, nicht existieren darf und deswegen zum Schweigen gebracht werden muss.

Wojnarowicz lebt selbst eine Zeit lang auf der Straße, nachdem er als Jugendlicher aus seinem gewalttätigen Elternhaus geflüchtet ist. Um zu überleben, muss er seinen Körper an Pädophile und Freier verkaufen. Die Straße ist ein Ort der Gewalt. Ein Ort, an den Wojnarowicz allerdings immer wieder zurückkehrt, der seine Kunst und seinen Aktivismus inspiriert und an dem er seine Sexualität auslebt.

Es ist nur schwer vorstellbar, welche Gewalt, Entbehrungen und Schrecken Wojnarowicz in den 37 Jahren seines Lebens erdulden musste. Viel spricht aus meiner Sicht dafür, dass das Leben von Wojnarowicz Hanya Yanagihara beim Schreiben von A Little Life zumindest unterbewusst inspiriert haben mag. Auch weil der Fotograf Peter Hujar sowohl für Wojnarowicz als auch für Yanagiharas Roman eine prägende Rolle spielen.

Im titelgebenden Essay Living Close to the Knives beschreibt Wojnarowicz den Tod von Peter Hujar (1934-1987), seinem einstigen Geliebten und langjährigem Freund. Hujar war als Fotograf Zeit seines Lebens finanziell nicht erfolgreich– trotz seiner Portraits von berühmten Persönlichkeiten und der Unterstützung von Susan Sontag. Spätestens seit 2015 ist Hujar wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten: Auf dem Cover von Hanya Yanagiharas A Little Life befindet sich eines seiner Portraits, Orgasmic Man (1969).

Für den Tod von Hujar findet Wojnarowicz keine Worte:

„Dies ist das wichtigste Ereignis in meinem Leben und mein Mund kann keine Wörter formulieren und vielleicht bin ich derjenige, der die Wörter braucht, vielleicht bin ich derjenige der beruhigt werden muss und alles was ich machen kann ist hilflos meine Hände hochzuheben und sagen, »Alles was ich will ist ein wenig Barmherzigkeit.« Und dann fließt das Wasser aus meinen Augen.“

Die AIDS Epidemie befindet sich auf ihrem Höhepunkt, ganze Freundeskreise und Stadtviertel sterben aus. Wojnarowicz schreibt:

„und jedesmal wenn ich diesen Monat ans Telefon ging musste ich erfahren, dass einer von ihnen gestorben ist. Stück für Stück erodiert die Landschaft und an ihrer Stelle baue ich ein Denkmal aus Fragmenten von Liebe und Hass, Traurigkeit und Mordgedanken. Dieses Denkmal dient als ein Schrein, wo man der Unschuld langsam den Bauch aufschlitzt, ihr Herz entnimmt, ihr die Augen rausreißt, die Zunge abschneidet, ihre Finger bricht, ihr die Beine ausreißt.“

Close to the Knives ist eine Abrechnung mit Politik und Gesellschaft. Wojnarowicz schwankt zwischen Wut, Hass und Zorn, gibt sich aber nicht der Apathie hin. Denn der Text ist auch als Weckruf gegen dieses mörderische System zu verstehen, das selbst keinen Hunger, keine Gewalt, keine Armut und keinerlei Ausgrenzung kennt. Ein System, dessen Schweigen und Nichthandeln nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf, weil es vorsätzlich und mörderisch agiert.

Es ist wenig verwunderlich, dass viele Künstler*innen die Lektüre von Close to the Knives als prägend beschreiben, dass es ihre Vorstellung von Politik geformt und sie radikalisiert hat.

Die hier vorgestellt deutsche Übersetzung ist seit längerem vergriffen und nur recht schwer antiquarisch zu finden. Eine Neuauflage dieses so einflussreichen wie einzigartigen Texts wäre äußerst begrüßenswert. (Marlon)

Patricia Highsmith: Carol oder Salz und sein Preis (aus dem amerikanischen Englisch von Melanize Walz, erschienen im Diogenes Verlag) (Öffnet in neuem Fenster)

»Was für ein merkwürdiges Mädchen Sie sind.«

»Wieso?«

»So als hätte man Sie aus Zeit und Raum hinausgeschleudert«, sagte Carol.

1952 veröffentlicht Patricia Highsmith mit Carol (aus dem Amerikanischen von Kyra Stromberg) den vielleicht größten Klassiker der lesbischen Literatur. Zunächst noch unter dem Titel Salz und sein Preis – und dem Pseudonym Claire Morgan. Erst in einer Neuauflage von 1990 bekannte sich Patricia Highsmith, die vor allem als Autorin von Kriminalromanen bekannt wurde, zu ihrer einzigen lesbischen Liebesgeschichte – und ging mit dem neuen Titel vielleicht direkt wieder auf Distanz.

Carol oder Salz und sein Preisgehört zu den wichtigsten Romanen der lesbischen Literatur. Vielleicht ist es neben Sapphos Liedern sogar der Wichtigste. Der Grund dafür ist einfach: Highsmith hat ihren beiden Protagonistinnen ein glückliches Ende vergönnt. Der Roman erzählt die Liebesgeschichte von Therese und Carol. Die 19jährige Therese arbeitet während der Weihnachtszeit in der Puppenabteilung von Frankenberg, einem Warenhaus in Manhattan. Hier lernt sie die 12 Jahre ältere und (noch) verheiratete Carol kennen:

„Ihre Augen waren von einem durchsichtigen Grau, die aber wie Licht und Feuer alles andere überstrahlten und unwiderstehlich in ihren Bann zogen, und Therese konnte nicht wegsehen.“

Therese fühlt sich von der älteren Frau angezogen, ohne Worte für das zu haben, was sie empfindet. Auf einer prekären Reise – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, weil es keinen Ort auf dieser Welt zu geben scheint, an dem sie ihre Liebe leben können – finden die beiden schließlich zueinander. Zugleich wird die Reise zur Zerreißprobe. Denn Carols Ex-Mann lässt sie von einem Privatdetektiv beschatten, der kompromittierende Tonbandaufnahmen der beiden Frauen macht.

Carol wird und wurde vor allem als Liebesgeschichte gelesen und rezipiert, nicht als eine Geschichte darüber, was es bedeutet, eine lesbische Frau zu sein, über die scheinbar unüberwindbaren Herausforderungen und Kämpfe, über die gesellschaftlichen und politischen Ausgrenzungserfahrungen. Und doch liegen diese Dinge wie ein bedrohlicher Schatten über der Liebesgeschichte, zeitweilig eine Atmosphäre heraufbeschwörend, wie man sie aus den Kriminalromanen von Patricia Highsmith kennt.

Die Paranoia der McCarthy-Ära bildet den Hintergrund des Romans. Kommunist*innen, die Verkörperung des Bösen für die amerikanische Politik, werden verfolgt, homosexuelle Menschen werden mit diesen gleichgestellt. Es ist die Zeit der sogenannten ‚Lavender scare‘. Entsprechend grausam geht Carols Ex-Mann im Sorgestreit um die gemeinsame Tochter gegen diese vor. Mit den während der Reise entstandenen Tonbandaufnahmen erpresst er Carol, um diese von ihrer Tochter fernzuhalten.

Der Sorgerechtsstreit zieht sich wie ein Riss durch die Beziehung zwischen Therese und Carol. Denn er ist Beweis dafür, dass ihre Liebe in den Augen der Welt etwas Abscheuliches ist. Die noch unerfahrene Therese muss sich fragen, ob sie in solch einer Welt, solch einer Beziehung leben will. Auch Carol muss sich entscheiden: Mutter, Lesbe, würdevolle Person – sind diese Dinge unvereinbar? Ist das der Preis des Salzes?

Carol ist zurecht ein Klassiker, unterscheidet sich in einigen grundlegenden Punkten allerdings von der lesbischen Literatur des Zweiten Welle Feminismus. Die Figuren von Highsmith sind komplex, sie lassen sich nicht in Gut und Schlecht aufteilen, das gilt für ihre Protagonistinnen wie auch für die Männer in ihrem Leben (was nicht bedeuten soll, dass im Roman nicht ausreichend Chauvinisten vorkommen).

Auch wenn der Roman glücklich endet, entscheidet sich Carol zunächst weder für ihre Tochter noch für ihre so viel jüngere Freundin Therese – sie entscheidet sich vor allem nicht wider ihre Natur zu leben.

Für Aufmerksamkeit (und Kritik) hat auch immer wieder der Altersunterschied zwischen Therese und Carol gesorgt. Und auch wenn die Dynamik der beiden sich auf ‚die junge Liebende‘ und ‚die ältere Geliebte‘ herunterbrechen lässt, stellt Highsmith mit gewissen Einschüben diesen durchaus bekannten Topos der lesbischen Literatur immer wieder auf den Kopf. Mir scheint aber auch, dass dieser Aspekt eine Besonderheit queerer Beziehung widerspiegelt, in der das Gegenüber mehr als nur die*der Partner*in ist und zur Ersatzfamilie wird.

Therese ist praktisch eine Waise: Der Vater ist früh gestorben, die Mutter hat sie in ein Internat abgeschoben, neu geheiratet und einen Sohn mit ihrem zweiten Ehemann bekommen. Bevor sie Carol kennenlernt, wird Therese als junge Frau auf der Flucht beschrieben – vor sich und den Menschen in ihrem Leben. Carol ändert das: „Denn jetzt war sie glücklich, von diesem Tag an. Sie brauchte weder Eltern noch Heimat.“

Auch in anderen Bereichen wird Therese als eine Frau am Rand der Gesellschaft beschrieben, so dass Carol durchaus den transgressiven Charakter von Highsmith‘ Kriminalromanen erreicht. Denn der Roman stellt die Säulen des amerikanischen Wertesystems der 50er Jahre infrage. Highsmith scheut sich nicht davor, den Kapitalismus als eine schreckliche Maschine darzustellen, welche die Menschen zermalmt und gebrochen und ohne Träume ausspeit. Auch die Kernfamilie gleicht einem Alptraum, einer Falle der Ödnis und der Verbitterung. Therese findet im scheinbaren Abseits mit Carol ihr Glück:

„Aber es gab keinen Augenblick, in dem sie nicht Carol in Gedanken vor sich sah, und alles, was sie sah, schien sie mit Carols Augen zu sehen.“

Carol ist Patricia Highsmith zweiter Roman. Nur zwei Jahre zuvor, 1950, erschien ihr Debüt, der Kriminalroman Strangers on a Train (später von Alfred Hitchcock verfilmt). Auch deswegen rieten ihre Verleger ihr von einer Veröffentlichung ab, man erwartete im Folgeroman etwas Ähnliches, fürchtete, dass sie als Autorin lesbischer Literatur gebrandmarkt würde. Aber auch moralische Bedenken werden der Veröffentlichung im Wege gestanden haben. Denn in 50er Jahren über Homosexualität zu schreiben, bedeutete zwangsläufig auch über ihre Verdammung zu schreiben. Für queere Figuren konnte es kein Happy End geben. Selbstmord, Depressionen, moralische Degeneration – nur mit solch einem Ende konnte offen über Homosexualität geschrieben werden.

Patricia Highsmith hat mit Carol oder Salz und sein Preis einen anderen Weg beschritten. Für viele lesbische Leserinnen war es das erste Buch, in dem sie ihre Lebensrealität wiederfinden konnten. Für andere war es das erste Buch, das ihnen zeigte, dass ein glückliches Leben möglich ist. Auch deswegen ist der Roman ein Klassiker der queeren Literatur. Heute liest sich der Roman dank seiner glatten Prosa überraschend modern. Carol eine Liebesgeschichte, die aber vor allem eines ist: zeitlos. (Marlon)

Queere Freuden

Hier möchten wir auf Texte, Posts und andere Formate aus dem queeren Themenkosmos verweisen, die uns in den letzten Wochen beschäftigt haben.

Die Dokumentation David Wojnarowicz: F*k you F*ggot F*ker zeichnet ein Portrait und bietet Einblick in sein Leben und Werk als Autor, Künstler und Aktivist. Auf dem YouTube Kanal von Vice kann man die Dokumentation aktuell gratis streamen. (Marlon)

https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=18X5dBp06Qs (Öffnet in neuem Fenster)

Der Dyke Dogs Salon ist eine queer-lesbische Kulturpartie von Lynn Takeo Musiol, Eva Tepest und Gästen. Die Dyke Dogs blicken aus einer queeren und lesbischen auf die Welt. Der nächste Salon findet am 23.02. in der Berliner Schaubühne statt. Ihr wunderbares Manifest findet ihr auf der Seite des LCB (hier (Öffnet in neuem Fenster)). Mehr zu Eva Tepests demnächst erscheinender Essay-Sammlung Power Bottom im nächsten Queeren Kanon. (Tobi)

https://www.schaubuehne.de/de/produktionen/dyke-dogs-salon-2.html (Öffnet in neuem Fenster)

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