Warum Queerer Kanon?
Nach längerer Vorbereitungszeit wagen wir uns nach draußen, raus aus der Zweierdiskussionen, rein in den Diskurs, sozusagen. Mit queerer Literatur beschäftigen wir uns unabhängig voneinander schon sehr lange und wollen dies jetzt auch im Rahmen dieser Plattform tun.
Die ausschlaggebende Frage
Am Anfang steht eine Frage, auf die es keine eindeutige(n) Antwort(en) geben kann: Was ist ein queerer Kanon? Entzieht sich nicht gerade das Queere, in seiner gewollten Uneindeutigkeit, der Verweigerung, sich Normen und Normierungen zu unterwerfen, ja, diese mitunter lustvoll zu sprengen, einer Kanonisierung? Und konstruiert nicht gerade ein Literaturkanon wieder genau die beliebigen Zugehörigkeiten und Ausgrenzungen, die wir doch eigentlich überwinden wollen?
Diese Fragen sind für uns von Beginn an handlungsleitend gewesen, denn unsere Erfahrungen mit Literaturkanones sind größtenteils Erfahrungen von Abwesenheiten. Lücken, die wir selbst zu füllen such(t)en. Als queere Jugendliche begegneten uns im Schulunterricht wenige Texte, in denen wir unser Begehren und unser Sein widergespiegelt fanden. Und war dies einmal der Fall (bspw. bei Proust, Mann, Woolf oder Shakespeare), wurde darüber schlichtweg nicht gesprochen. Wir fanden sozusagen nicht statt.
Sichtbarkeit schaffen, wo sie verwährt wird
"Visibility Matters" ist einer der wichtigsten Slogans der queeren Bewegung. Sichtbarkeit führt zu Identifikationspotenzial und zu Vermenschlichung. Sie baut Ängste ab, schafft Verständnis und Empathie. Wer sich nicht repräsentiert findet, tut sich oft schwer damit, sich als gleichwertig mit seiner Umwelt wahrzunehmen.
Im Falle von Literaturerfahrungen kann dies zu großem Frust führen. Im besten Falle bilden queere Leser*innen Antennen aus für die Sollbruchstellen in Texten. Für die Momente scheinbarer Ungenauigkeit, die Definitionslücken und Interpretationsspielräume. So kann queeres Lesen entstehen, indem Texte, die zumindest nicht für ein queeres Publikum geschrieben worden sind, von diesem gequeert werden.
Für uns waren dies oftmals die Texte von Autorinnen, die - es dürfte niemanden verwundern - selbst allzu oft keinen Platz in den Literaturkanones erhalten haben. Ein queeres Lesen ist zwar ein Schritt, sich selbst, wenn schon nicht in einen Text einzuschreiben, doch immerhin in diesen einzulesen.
Sich in einer literarischen Ahnenreihe verorten
Auf Charaktere zu stoßen, die so fühlen, wie man selbst, denen der Raum zugestanden wird, sich in ihrer Individualität außerhalb gesellschaftlicher Normen zu entfalten, ist aber noch eine ganz andere Ebene. Dementsprechend erwächst der Wunsch nach literarischen Texten, die genau dies vermögen.
Bestehende Kanones überdecken oft, dass es diese mitunter schon gibt. Häufig sogar viel länger als gemeinhin angenommen. Dass eine Vielzahl an queeren Motiven, Themen, Figuren, Erzählungen, Dichtungen, Autor*innen in der Literaturgeschichte existiert. Ob in der Griechisch-römischen Mythologie, zur Zeit des römischen Reichs, im Japan des frühen elften Jahrhunderts oder dem Europa der Aufklärung.
Wer darum weiß, kann sich selbst besser verorten, weiß, dass er*sie nicht allein ist, Teil einer immer schon bestehenden Community, einer Ahnenreihe ist. Wie beschränkt der Blick vieler bestehender Kanones auf die Literaturgeschichte ist, haben viele (queere) Literaturwissenschaftler*innen in den letzten Dekaden angemerkt. Es wurden Gegen- oder Parallelkanones entwickelt, von denen sich eine ganze Reihe finden lassen, darunter auch queere Kanones. Diese Bemühungen zeigen, wie komplex das Thema ist und welche gesellschaftlichen Auswirkungen es hat.
Queerer Kanon als Community
Doch ein Kanon kann auch als ein Prozess verstanden werden. Eine Auseinandersetzung über Lücken, ein Insgedächtnisrufen von Vergessenem. Keine starre Liste, die im formschönen Pappschuber auf dem Bücherregal verstaubt. Hier setzt der queere Kanon an. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub merkte 2020 zur Idee und Praxis eines Queeren Kanon (Öffnet in neuem Fenster) an, dass es bei diesem "eher um ‚canon community‘ [gehe]: [...] eine Gemeinschaft, die sich erst durch den Kanon als solche konstituiert, die sich gegenseitig signalisiert und ihrer selbst vergewissert."
Und hier soll auch Queerer Kanon? ansetzen. Als ein Versuch und ein Ort, an dem queere Literatur(en) einen Platz finden, an dem im besten Fall darüber diskutiert wird, unterschiedliche Perspektiven eröffnet werden und neue Veröffentlichungen wie auch Vergessenes, Neuaufgelegtes, Nicht-Übersetztes und aktuelle Debatten einen Platz finden. Auf Genres, die sich etabliert haben und/oder sich im Wandel befinden, Themen, Stilistiken und Referenzen. Aber auch darum, eigene blinde Flecken zu identifizieren, denn auch wir haben natürlich gewisse literarische Vorlieben und schauen aus unterschiedlich privilegierten Blicken auf Literatur.
Am Schluss soll eine Einladung stehen, mitzulesen, mitzudiskutieren und - wer möchte - auch selbst den eigenen Standpunkt darzulegen. Anfangs wird es hier einen monatlichen Newsletter geben, sowie in unregelmäßigen Abständen Live-Diskussionen auf Instagram zu Themen queerer Literatur. Längerfristig werden auch umfangreichere Texte zu einzelnen Phänomenen, Titeln, Genres und Debatten folgen.
In diesem Sinne enden wir mit einem altbekannten Schlachtruf:
We're here, we're queer and we'd like to say hello!
Tobi & Marlon