Live aus Lützerath #3: Tag X²
7:25, Mittwoch (Öffnet in neuem Fenster) 11.1.2023: unsere Bezugsgruppe wird geweckt, leider ohne den erhofften Kaffee, dafür mit der Ansage, dass der große Alarm (Öffnet in neuem Fenster) ausgerufen wurde. Eine Minute später schallen die Sirenen durch's Dorf (lustigerweise funktioniert der Notalarm hier besser als im Rest vom Dummschland – aber irgendwie ist das auch nicht überraschend): Lützerath ist der Ort, vor dem die 1,5 Grad Grenze verläuft, wir sind ständig im Alarmzustand, weil Lützerath im Jahr 2023, nach dem wärmsten Jahr aller Zeiten in Europa, nach und während Sturmfluten, Überschwemmungen, Dürren, Waldbränden, wir sind der Ort, der mitten im Klimanotstand abgebaggert werden soll, um noch ein paar Klumpen vom dreckigsten aller fossilen Brennstoffe, der fucking BRAUNKOHLE, aus dem Boden zu holen, um Deutschlands Abhängigkeit vom fossilkapitalistischen Wirtschaftswachstum zu füttern. Fucking Junkie. Says the ex-Junkie.
Skybar, meine hier spontan mit Freund*innen gegründete Bezugsgruppe, scoutet erstmal das Terrain. Es sieht nicht gut aus: der südöstliche Zugang zu unserem Festungsdorf ist weniger eine Festung, als eine Einladungsrampe. Am “Checkpoint Charlie”, dem am stärksten befestigten und bemenschten unserer Vorwärtsverteidigungspunkte, wird die taktische und zahlenmäßige Übermacht der Cops schnell sichtbar. Die ersten Räumfahrzeuge (Öffnet in neuem Fenster) nähern sich unseren Stellungen. An der seit Juni 2020 stabilen Mahnwache ertönt der Ruf “mic check” (eine Kommunikationsform für Situationen, in denen keine Lautsprecher zur Verfügung stehen: die ganze Menge wird zum Lautsprecher, alle wiederholen jedes Wort unisono). “In zwei bis drei Minuten werden die Cops den Checkpoint Charlie stürmen.”
Das war noch optimistisch. Knappe 30 Sekunden nach der Durchsage beginnt der Angriff der Polizei, unsere Barrikaden sind leider keine effektiven Hindernisse. Das entstehende Chaos ein Scharmützel zu nennen, würde unsere relative taktische Irrelevanz schönreden: die Cops laufen über uns drüber, durch uns durch, treten unsere Verteidigungsstrukturen nieder. Taktisch ist das ganze ein Debakel, aber wir wussten schon immer: militärisch, d.h., in einer direkten physischen Auseinandersetzung, können wir gegen den fossilen Staat NRWE nicht gewinnen. Gewinnen können wir nur politisch, wenn der Druck auf die Grünen in der Landesregierung – die Grünen, wohlgemerkt, die vor kurzem ihren Landesparteitag noch “solidarisch” an einer Braunkohlegrube abgehalten haben – so weit ansteigt, dass sie Reuls Schlägertrupps zurückrufen.
Es stimmt, dass wir in unseren verbarrikadierten Häusern und in den aus den Hambi- und Danni-Kämpfen in das Protestrepertoire der Klimabewegung übergegangenen Baumstrukturen hier noch eine zeitlang ausharren und Lützerath halten können werden. Aber... wir sind nicht genug. Wir sind hier 1000, vielleicht 1500. Wir müssten 10.000+ sein. Und wenn Ihr es heute nicht schafft, noch nach Lützerath zu kommen (mir ist schon klar, dass die meisten von Euch zu weit weg sind, Lohnarbeit- und Care-Verantwortungen haben), dann tut dort, wo Ihr lebt, etwas für uns. Stattet den Grünen einen Besuch ab, die haben ja Ortsbüros in jeder Stadt. In Berlin hat NRWE ja eine Landesvertretung. Und RWE selbst hat ne Reihe von Büros in Deutschland. Ihr müsst der Gegenseite zeigen, dass Lützerath nicht allein steht – sonst machen sie uns hier ein, und die Demo am Samstag wird zu spät kommen.
Zu spät... Wofür zu spät eigentlich? Zu spät, um Lützerath physisch zu verteidigen. Wenn die Cops uns hier in den nächsten 1-2 Tagen rausholen, werden sie bis zum Eintreffen der Demo alles daran setzen, jede Struktur, jeden Baum, jede Scheune, in der Aktivist*innen sich verschanzen könnten, zu zerstören. Das ist die Perspektive, wenn wir “Erfolg” hier nur in den Kategorien der physischen Rettung Lützeraths vor der fossilkapitalistischen Zerstörung sehen – und diese Perspektive ist und bleibt die zentrale, Lützerath ist noch nicht verloren, wir können es immer noch physisch verteidigen, aber die Wahrscheinlichkeit sinkt mit jeder Minute.
Ob Lützerath physisch überlebt, oder nicht, ist zwar eine sehr wichtige – aber nicht die einzige wichtige Frage. Die Geschichte wird überleben, und diese wird gerade geschrieben. Was erleben wir in Lützerath, was – wie ein Deutschlehrer in der Mittelstufe fragen würde – will uns die Autorin sagen, wo mit “Autorin” die Geschichte gemeint ist. Im Sinne von History.
Und von der Warte aus betrachtet sieht die Welt deutlich besser aus. Zuerst mal die Basics, wie sich die Situation gerade darstellt: unsere äußeren Verteidigungspositionen wurden zwar abgeräumt, aber die waren ohnehin nie die zentralen. Die Barrios und Häuser, in denen wir uns verschanzt haben, sind sehr viel solider, und von der Polizei nicht ohne Probleme zu räumen. Es ist möglich, dass wir hier 3 Tage ausharren, bis ihr zu zehntausenden zur Demo und zu unserem Entsatz kommt. Die Stimmung ist gut, überraschend entspannt, und wir wissen, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen (side note: wie die Cops ihren Einsatz in ein paar Jahren gegenüber ihren Kids rechtfertigen wollen, ist mir schleierhaft, & könnte mir natürlich eigentlich auch scheißegal sein, wenn mich die psychologischen Mechanismen der Verdrängungsgesellschaft nicht so faszinieren würden).
Jetzt zum politischen Teil (ja, das Private ist politisch, vor allem inmitten eines Belagerungskampfes gegen den fossilen Kapitalismus, but you know what I mean): worum geht es in einem Konflikt? Darum, die eigenen Positionen zu stärken, und die der Gegenseite zu schwächen. In Konflikten wie diesem um Lützerath geschieht viel im Erzählen von Geschichten, nicht (nur) in der Verteidigung eines Ortes. Welche Geschichten werden gerade über Lützerath erzählt?
Die 1. und wohl wichtigste Geschichte: die Grünen sind mittlerweile unmissverständlich zur Partei der Macht, des Wirtschaftswachstums, und – weil Deutschland – mithin des Fossilismus geworden. Wer nach Lützerath die Grünen noch wählt, weil sie Klimaschutz will, ist selbst dran doof. Im Ernst: BaWü. Hessen. Schleswig Holstein. Egal wo mensch hinschaut: wo die Grünen regieren kleben sie penetranter an der Macht, als die Letzte Generation auf Deutschlands Autobahnen, und opfern für diese Machtperspektive jedes “grüne” Prinzip, mit der lustigen Begründung, dass das öffentliche Opfern grüner Prinzipien gerade die Grundlage grünen Regierens sei, also gut fürs Klima. Wenn eine Partei die Verbindung zu ihrem symbolischen Markenkern (z.B. SPD pre-Hartz IV: “sozial”) verliert, schädigt sie das nachhaltig – und die Grünen zeigen gerade ihre Art der Nachhaltigkeit: grüne Politik ist einfach nachhaltig scheiße.
Die 2. Geschichte ist, dass die Bewegung zusammensteht. Von Militanten bis NGOs stehen alle in der Verteidigung von Lützerath geeint, und es lässt sich kein Keil zwischen uns treiben – sogar Fridays For Future hat in diesem Kampf seine Funktion wiedergefunden. Wie beim Hambi: stehen wir zusammen, können wir Orte verteidigen, und auf Abertausende inspirierend wirken.
Die 3. Geschichte ist: Klimaschutz kommt nur von unten. Wenn im angeblichen “Klimachampion”-Land Dummschland die angebliche “Klimaschutz”-Partei die Grünen eine derart offensichtlich klimaschädliche Politik machen, dann muss allen klar sein, dass sie entweder jetzt selbst den Arsch hochkriegen, oder ihren Zukunftschancen & denen ihrer Familien, Kids oder ähnlichem Anhang einfach mal bye-bye winken können.
Also: the story of the battle isn't over, because the battle isn't over. But the battle of the story: that, we've already won.
Danke allerseits. UND JETZT KOMMT VERFICKT NOCHMAL NACH LÜTZERATH!
Euer Tadzio