Radikale Ehrlichkeit zwischen Wahlkampf und Katastrophe: Aufklärung für Anfänger*innen
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21/11/2024
Liebe Leute,
es ist Wahlkampf, und im Wahlkampf sagt niemand niemandem die Wahrheit – no surprise there, es geht ja ums gewählt werden, klar, da muss man Leuten schon was vorflunkern dürfen. Machen ja alle, und deswegen überrascht es auch niemanden. Genauer gesagt: wer im Wahlkampf die Wahrheit sagt, wird von allen anderen Teilnehmer*innen des diskursiven Spiels “Wahlkampf” als Depp*in betrachtet, denn die Regel des Spiels Wahlkampf ist: wer nicht übertreibt, wer nicht schönmalt, wer den Menschen nichts verspricht, was sie nicht einhalten kann, die verliert.
Das wurde mir klar, als ich in den vergangenen Tagen mit mehreren political professionals über den Wahlkampf sprach (eher: gemeinsam die kommende intellektuelle und ethische Widerlichkeit der nächsten paar Monate betrauerte), manche LINKE-, manche Grünen-nah. Alle betonten – es ging um die Themen “Reaktionen auf mein Buch”, und “Mobi für das Kollapscamp 2025 (Öffnet in neuem Fenster)” - dass es völlig unmöglich sei, im Wahlkampf irgendwelche realistischen Erzählungen über das Klimaproblem und seine Unlösbarkeit, über gesellschaftlichen Kollaps, über Katastrophe-als-Dauerzustand unterzubringen. Egal, wie dunkel es ist, im Wahlkampf will, zumindest hierzulande, angeblich/anscheinend/wahrscheinlich niemand von der Dunkelheit hören (nb: in den USA wurde der Kandidat gewählt, der... die Dunkelheit nicht scheute). Was die Leute zumindest die links der Mitte hören wollen ist: “Hier ist der Lichtschalter, ich und nur ich weiß, ihn zu bedienen, also wählt mich und nur mich.”
Lügen als gesellschaftliche Normalität
To be sure, im Wahlkampf sollte ich tatsächlich kein Ende der Verdrängung erwarten. Wir scheinen als Gesellschaft akzeptiert zu haben, dass der Prozess, der uns helfen soll, zu entscheiden, wer uns regiert, einer ist, in dem niemand die Wahrheit sagt, sondern alle uns anlügen (wären politische Wahlkampfslogans nicht Wahlkampf, sondern Werbung für eine Ware, würden sie mit Sicherheit den Tatbestand “irreführende Werbung” erfüllen). So weit, so normal. Wessen Produktions- und Lebensweise auf der täglichen Unterwerfung, Ausbeutung und Zerstörung des Rests der Welt basiert, wird vermutlich keinen gesellschaftlichen Diskurs entwickeln, der diese Realitäten regelmäßig offenlegt. Unsere Verdrängungsgesellschaft ist in diesem Sinne der notwendige psychologische Überbau unserer Externalisierungsgesellschaft (Öffnet in neuem Fenster).
Etwas weniger harsch formuliert (und meine parteinahen Freund*innen nicht zu sehr vor den Kopf stoßend) könnte ich aber auch sagen, dass Wahlkämpfe die Zeit sind, in der wir positive Zukunftsvisionen artikulieren, dass sie genau der Zeitraum sind, den eine Gesellschaft hat, um von einer besseren Version ihrer selbst zu träumen – aber nicht allein zum träumen, sondern, im Sinne des schon häufiger erwähnten “utopischen Wärmestroms” aus der Zukunft (Öffnet in neuem Fenster). Diese Art von “Lüge” kann doch unmöglich falsch oder böse sein, stattdessen ist sie in einem gewissen Sinne sogar der Kern politischen (anstatt des manageriellen) Sprechens (Öffnet in neuem Fenster): Visionen zu formulieren, deren Wahrheit erst noch politisch durchgesetzt werden muss, um so die Möglichkeit einer besseren Zukunft zu einer realen Kraft in der Gegenwart zu machen.
Was soviel bedeutet wie: wir müssen zwischen “guten” und “schlechten” Unwahrheiten (aka “Lügen) unterscheiden, aber das ist ja zuerst mal gar nicht so schwer. Wir unterscheiden auch im Alltag zwischen “Notlügen” (im englischen: “little white lies”), die im Dienste des Guten erzählt werden, und “echten” Lügen, die wir, ceteris paribus, für schlecht halten. Die Frage ist also nicht nur: erzählt jemand die Wahrheit?, sondern auch: was passiert mit der Erzählung, zu welcher Art von Verhalten führt sie wahrscheinlich?
“Aber Tadzio, Wahrheit überfordert die Menschen...”
Die Grundannahme der oben genannten political professionals ist, dass ich, dass Team Kollaps, dass wir “doomer” Geschichten erzählen, die Menschen abschrecken, und meine Verdrängungsthese bestätigt dies erstmal einmal: eine Verdrängungsgesellschaft will nichts wissen, was bei ihr negative Gefühle auslöst, tatsächlich führt die Konfrontation mit der Realität meist zu noch mehr Verdrängung, Irrationalität und Brutalität gegenüber den wenigen Kassandras, die darauf bestehen, die Wahrheit zu sagen. Der geniale Kommunikationsversteher George Orwell formulierte das so: “Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.”
Und genau deshalb fragen mich immer mehr Leute aus linken und ökologischen Kontexten: wenn ich doch weiß, dass Menschen lieber verdrängen wollen, warum konfrontiere ich sie dann immer wieder mit Realitäten, die sie abschrecken, wie eben Kollaps, Katastrophe, Scheitern?
Just to be clear: hier fragen mich Progressive, Linke, Grüne und andere Menschen, die auf Nachfrage mit Sicherheit sagen würden, dass sie in der Tradition der Aufklärung stehen, eines universalistischen Humanismus, der davon ausgeht, davon ausgehen muss, dass Menschen im Kern vernunftbegabt sind, weil nur so die Möglichkeit kollektiver ethischer Entscheidungen entsteht, die wir bräuchten (genauer: gebraucht hätten), wenn es darum geht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen... Also, diese progressiven Aufklärer*innen fragen mich allen Ernstes folgendes: “Tadzio, meinst Du wirklich, dass es eine gute Idee ist, den Menschen einfach so die Wahrheit zu sagen?”
Die Frage ist im gewissen Sinne schockierend, offenbart sie doch, wie weit auch wir und unsere Zusammenhänge uns davon entfernt haben, Menschen die sozialökologische Wahrheit zu sagen, wie sehr auch wir, auf links und grün, dazu beigetragen haben, diese ethisch abgefuckte Verdrängungsgesellschaft zu bauen. Zusatzbonus: die Annahme, Menschen könnten mit der Realität nicht umgehen, ist dermaßen elitär, dass sie sogar mir elitär-arrogantem alternden Sack sauer aufstößt.
Radikale Ehrlichkeit? Nicht im Wahlkampf bitte...
In den letzten Jahren, in den letzten Jahrzehnten hat keine politische Kraft in Deutschland die Realität über Klimaschutz (findet nicht statt) und Klimakatastrophe (ist viel da-er, als wir denken) wirklich ausgesprochen. Also zum Beispiel, dass Klimaschutz natürlich megaanstrengend sein wird, nicht für Alle profitabel, dass sich unsere Leben nicht einfach so weiterbewegen werden, wie bisher, und dass das jetzt gerade alles schon im Scheitern begriffen ist, und dass die Katastrophe auf dem Weg dahin ist, zum Dauerzustand zu werden. Nichts davon wird von relevanten politischen Akteuren offen artikuliert, und natürlich im Wahlkampf schon gar nicht.
Das schafft dann eine Situation, in der Akteure, die offen die Wahrheit über Scheitern, Kollaps und Dunkelheit aussprechen, dafür massiv abgestraft würden, gerade und besonders im Wahlkampf. Daher ist das, was ich hier vorschlage, natürlich keine Wahlkampfstrategie für Parteien, und vermutlich würde es gerade auch nicht viel bringen, als emergente Kollapsbewegung zu versuchen, Druck auf Parteien auszuüben, jetzt schon über Kollaps und Katastrophe zu reden. Die Kosten wären allenthalben zu hoch, da so ein diskursiver Move auch vorbereitet werden muss, da kann man nicht einfach ne 180Grad-Drehung machen, denn auch das Diskursspiel ist an die Regeln der Physik und Thermodynamik gebunden: wer schnell in eine Richtung fährt, kann nicht einfach komplett das Ruder rumreißen, denn das führt bei den Teilnehmer*innen des Diskurses dann zu einer Art ethisch-politischem Schleudertrauma.
Also: “radikale Ehrlichkeit” ist vermutlich keine besonders gute Wahlkampfstrategie, wenn es um ein Wahlvolk geht, dass von allen Parteien (einschließlich derer, die wir im linksökologischen Feld mit mehr oder minder zugehaltener Nase meist wählen) jahrzehntelang über den realen Zustand der Welt angelogen wurde, und deshalb auf die Konfrontation mit der Realität wahrscheinlich mit einer Mischung aus Dissoziation und Brutalität reagieren würde – zumindest würde es, vgl. das orwell'sche Kassandra-Zitat, auf jeden Fall diejenigen nicht wählen, die ihnen die Wahrheit sagen, nachdem sich bisher ALLE politischen Parteien im demokratischen Spektrum als Enabler unserer spätimperialen popularen Verdrängungsbedürfnisse betätigt haben.
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Is a dream a lie if it don't come true, or is it something worse? (Bruce Springsteen)
Aber: der Wahlkampf wird ja auch, inshallah!, in ein paar Monaten vorbei sein (auch wenn die Zeit bis dahin sich unglaublich lang anfühlen wird), und dann stellt sich die politische Frage: wer geht in diese Bresche rein, wer ist der Akteur, der sagt “Wir sind die ersten, die den Leuten die Wahrheit sagen!”?
If past performance is any guide werden es weder die Grünen sein (die schielen zu sehr auf Regierungsfähigkeit, aber wer eine Arschlochgesellschaft regiert, wird durch sie zum Arschloch, und wer eine Verdrängungsgesellschaft regiert... you get the idea), noch die LINKEN, die schielen zu sehr auf ihre imaginierte “Basis” bei den Industriearbeitenden, und reden zwar gerne vom Internationalismus, meinen aber immer “deutsche Arbeiter*innen”, wenn sie von der “Arbeiter*innenklasse” reden (das meine ich übrigens mit dem Vorwurf des “methodologischen Nationalismus”, den ich dem “democratic socialist”-Flügel der LINKEN gerne entgegenschleuder'). Bisher sieht es so aus, dass diese beiden formell progressiven, aufklärerischen Parteien sich ebenfalls dem Obskurantismus, der nationalen Verdrängung verschrieben haben.
On some level könnte mir das ja egal sein, Parteien machen halt Parteiensachen, ich rege mich ja auch nicht auf, wenn eine Firma mir in der Werbung erzählt, dass mich dieses oder jenes Aftershave in einen muskulösen Sexgott verwandelt, dem Männlein, Weiblein, und alle dazwischen und darüber hinaus auf der Straße hinterherstarren (bei mir war es “Davidoff: Cool Water”, die Werbung mit diesem unglaublich heißen, halbnackten Jeansträge (Öffnet in neuem Fenster)r). Aber Menschen nicht die Wahrheit über den katastrophalen Zustand der Welt zu erzählen mag zwar eine nachvollziehbare kurzfristige Strategie sein (“kurze Frist” im Kollaps: immer die Zeit bis zur nächsten klimakatastrophenbedingten Katastrophe), aber mittel- und langfristig ist es extrem gefährlich.
Denn: wenn wir nicht irgendwann anfangen, uns re: Kollaps usw ehrlich zu machen, werden die Menschen um uns herum, werden diejenigen, die “uns” zuhören, in ihrer Verdrängung zu Idiot*innen werden, oder solche bleiben. Und mit “uns” meine ich hier: diskursmächtige Akteure, denen, wie, wo, und warum auch immer von anderen zugehört wird – das stellt im politische Sinne eine Form von “leadership” dar, und leadership beinhaltet auch immer Verantwortung bei der leadership.
“Leadership” und Verantwortung
“Wir” haben eine Verantwortung, durch unser Sprechen nicht dazu beizutragen, dass Menschen zu Idiot*innen werden, sondern, unser politisches Sprechen sollte dazu beitragen, sie erweitert solidarisch handlungsfähig zu machen. Denn wer verdrängt, wie die Realität aussieht, wer es also nicht aktiv weiß, dass immer mehr Katastrophe auf uns zukommt, und dass diese Katastrophen unsere gesellschaftlichen Coping Fähigkeiten übersteigen werden, die wird, wenn konfontiert mit einer dauerhaft katastrophalen Realität, darauf total schockiert, irrational und potenziell faschistisch reagieren.
Stellt Euch mal vor, wie ein Land auf eine Katastrophe reagiert, dem niemand gesagt hat: “hey, die Katastrophe wird auf jeden Fall kommen, und sie wird auch auf jeden Fall Dich betreffen.” Das sind dann Situationen, auf die unvorbereitete Menschen zutiefst (im psychologischen Sinne) regressiv reagieren werden, und die emotionale, intellektuelle und psychologische Regression, die wir immer weiter verbreitet in unseren Gesellschaften erleben, ist natürlich eine der Kerntreiber der Faschisierung des Nordens: denn, infantile, nörgelige Kinder, die Angst haben, dass man etwas wegnehmen will, das ist glaube ich eine gute Beschreibung der meisten rechten Wähler*innen.
Das heißt: ehrliche Kommunikation ist nicht nur ethisch wichtig, im Sinne des Ethos der Aufklärung, sie ist auch politstrategisch wichtig und (ab nach der Wahl) richtig, weil wir uns ja rational auf die katastrophale Zukunft vorbereiten wollen, die auf uns zukommt, und das können wir nicht, wenn wir ständig die abstruse Erwartung der Verdrängungsgesellschaft füttern und belohnen, die von ihren “political leaders” keinen Real Talk erwartet und erhofft, sondern komfortable Lügen, um bis zum Exitus/Thanatos mit der komfortablen imperialen Lebens- und Produktionsweise weiterzumachen.
Zum Ende nochmal Kant: die Aufklärung, schrieb dieser berühmterweise, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wer nicht ehrlich kommuniziert, egal, wie gut die Intentionen dabei sind, trägt dazu bei, eine unmündige, dumme, und von Faschist*innen leicht manipulierbare Gesellschaft zu schaffen. Das halte ich nicht nur für eine ethische, sondern auch eine große polit-strategische Dummheit. Und “dumm”: das sind doch immer die anderen ;)
Mit vom Wahlkampf megagenervten Grüßen,
Euer Tadzio