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Solidarische Kollapspolitik 101: wie geht eigentlich “Nachbarschaft”?

Artwork: Olly Costello, www.ollycostello.com (Öffnet in neuem Fenster).

28/11/2024

Liebe Leute,

letzten Sonntag habe ich etwas für mich komplett Neues getan, etwas, das mich ziemlich große Überwindung gekostet, aber gleichzeitig enorm befriedigt hat: ich habe endlich alle meine Nachbar*innen kennengelernt. Wie ich das gemacht habe, und was dabei passiert ist, davon möchte Euch davon erzählen. Es wird in diesem Text um Nachbarschaft gehen, genauer, um meine allerersten babysteps auf dem Pfad der solidarischen nachbarschaftlichen Organisierung. Es wird um ein Thema gehen, über das immer wieder spreche, in dem ich aber das genaue Gegenteil eines “Experten” bin: in der Frage von mutual aid und community activism bin ich ein totaler Anfänger, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich da nicht der einzige bin. Daher dieser vielleicht etwas merkwürdige Text, der im Kern von nicht viel mehr handeln wird, als dass ich ein paar Stücke selbstgebackenes Bananenbrot (Öffnet in neuem Fenster) im Haus verteile, und darüber mit ein paar Menschen ins Gespräch komme. Nachbarschaft halt.

Auf manche von Euch wird der Beitrag albern wirken: wenn Ihr selbst in Eurem Haus/Eurem Kiez/Eurem Landstrich gut vernetzt seid, wenn “Nachbarschaft” für Euch nicht nur die Gegend ist, in der ihr wohnt, sondern eine alltägliche Praxis der Kommunikation mit den Menschen, mit denen ihr zusammen irgendwo lebt (anstatt: neben denen ihr lebt), dann werdet Ihr in einem Text, in dem ein bürgerlicher Sozialwissenschaftler Eure Alltagspraxis man- und outsidersplained, nur wenig Neues finden. Stattdessen werdet Ihr ultraverkopfte Endlossätze über Dinge lesen, die für Euch “ganz normal” sind (ausnahmsweise meine ich das Wort “normal” hier mal nicht abwertend), Eure Köpfe darüber schütteln, wie wahnsinnig entfremdet ich von meiner direkten Umgebung bin, und Euch fragen, warum Ihr Eure Zeit damit verschwendet, dass Euch jemand erklärt, wie fasziniert er war, rauszufinden, dass 2 + 2 = 4 ist. Wenn Ihr zu diesen Menschen gehört, seid ihr meine persönlichen Held*innen, und ja: dieser Text wird für Euch vermutlich nicht besonders erhellend sein. Danke, dass Ihr bis hierhin gelesen habt.

Real-existierende Nachbarschaft

Wenn ihr aber in dieser Frage ein bisschen so seid, wie ich, dann redet Ihr vielleicht gerne von “Nachbarschaft”, so, wie ältere Linke gerne vom “Arbeitsplatz” reden, als Ort, an dem wir uns mit anderen Menschen organisieren können, wo wir mit Menschen ins Gespräch kommen, die nicht zu unseren “Bubbles” gehören, wo handlungsfähige politische Subjekte entstehen können. So reden viele von uns vielleicht von “Nachbarschaft”, aber wir erleben sie oft vollkommen anders: ich erlebe meine Nachbar*innen meist nur als die Menschen, an denen ich vorbeihasten muss, weil sie langsamer als ich die Treppe im Wohnhaus erklimmen (es wird Euch vielleicht nicht total überraschen, dass ich Treppen immer nach oben renne – habt Ihr eine Ahnung, wie viel Zeit man beim Im-Gehtempo-Treppensteigen verschwendet?), oder als Lärmquelle, oder eben, im home-delivery-Kapitalismus sicherlich die häufigste Art der nachbarschaftlichen Interaktion, wenn sie Pakete abholen, die der Paketbote bei Euch gelassen hat.

Im Ernst: ich rede seit mindestens einem Jahr (seit meiner Zeit bei Pär Plüschke und seinen solidarischen Prepper*innen in Stockholm) von community activism und solidarischer Nachbarschaftshilfe, habe aber überhaupt keine Ahnung davon, keine praktische Erfahrung damit, wie Nachbarschaft als gelebte Praxis wirklich funktioniert.

Diese “Lücke” in meiner politischen (oder vielleicht sogar gesellschaftlichen) Sozialisation war mir schon lange unterbewusst bewusst, aber dass es mir so richtig deutlich auffiel, mit roten Warnleuchten und so, war, als ich das wundervolle Radiofeature “Wie man Nachbarn zu Katastrophenhelfern macht: Solidarisch Preppen (Öffnet in neuem Fenster)” von Fritz Tietz zum ersten Mal hörte. Tietz, freier Journalist im Norden Deutschlands, wurde von meiner Erzählung aus Schweden letztes Jahr inspiriert, meine Thesen zu solidarischer Nachbarschaftshilfe mal in seinem kleinen südhamburger Dorf in die Praxis umzusetzen, zu schauen, was da eigentlich an gesellschaftlicher Praxis möglich ist, jenseits der irgendwie (zumindest außerhalb depressiver Phasen) doch immer wieder ziemlich optimistischen Vorstellungswelt eines Berliner Kommunisten.

Dabei herausgekommen ist ein richtig schöner, reflektierter Beitrag, der vor allem eines nicht tut, was ich bisher zumindest implizit getan habe: er romantisiert “Nachbarschaft” nicht, sondern beginnt mit der real-existierenden Nachbarschaft, in der Tietz lebt (full disclosure: ich bin auch im Beitrag dabei, Tietz ludt mich zu einem gemeinsamen Pizzabacken-und-Kollaps-Besprechen-Event ein). Das hatte mich zunächst etwas überrascht, wohnt Tietz doch aufm Dorf, und in der städtischen Vorstellungswelt wird das Dorf ja als Ort der heilen Gesellschaft, der tief verwurzelten Subjekte, der intakten Nachbarschaftsbeziehungen konstruiert.

Aber wer in so einem Feature Dorfromantik erwartet, wird enttäuscht: Tietz erzählt ganz ehrlich davon, dass er seine meisten Nachbar*innen auch nach Jahrzehnten (!) des Nebeneinanderwohnens einfach nicht kennt, jenseits kürzester Interaktionen über die jeweiligen Gartenzäune. Er erinnert uns daran, dass solidarische gesellschaftliche Verhältnisse in der atomisierten Postpostmoderne des Schonvielzuspätkapitalismus nichts automatisches sind, dass wir seit Jahrzehnten nunmal immer wieder die Erfahrung machen, dass wir solche Beziehungen nicht brauchen. Konkretes Beispiel: wenn ich auch Sonntags im Späti Eier, Butter, Zucker, Saure Sahne und Mehl kaufen kann, muss ich, um die Morgenwaffeln zu backen, nicht nebenan klingeln, um die sprichwörtliche Tasse Zucker zu schnorren, ich kann einfach runter zum Späti hüpfen, und da mit viel weniger hassle Zucker kaufen.

Hell is other people”, oder: Gesellschaft ist anstrengend

Moment, inwiefern denn “weniger hassle”? Immerhin muss ich da ja aus dem Haus, auf die Straße, vielleicht muss ich sogar noch ein bis drei Straßenblocks gehen, bis ich beim sonntagsmorgenoffenen Späti (oder Kiosk, oder Trinkhalle, oder Wasserhäuschen, oder wie auch immer das bei Euch heißt) ankomme, außerdem kostet der Zucker da, etc., etc.

Naja, insofern, als wir in einer Gesellschaft leben, in der eines der Lieblingsklischees über junge Menschen ist, dass sie lieber einen Einlauf mit Chiliöl bekämen, als einen Telefonanruf zu machen, oder einen anzunehmen. In der das schlimmste ist, was ihr im Aufzug tun könnt, einen anderen Menschen anzusprechen (ähnlich ist es in Ubahnen). In der immer mehr kommerzielle Handlungen komplett ohne menschliche Interaktion auskommen. In der wir gelernt haben, dass andere Menschen anstrengend sind, oder es zumindest sehr leicht sein können, Quelle von Überforderung (emotional, ethisch oder praktisch), Quellen von zusätzlichem Stress, von Ansprüchen, von Bedürfnissen, eben von Menschlichkeit. And let's be honest, wir haben mit unserer eigenen bedürftigen Menschlichkeit und menschlichen Bedürftigkeit, und der unserer absolut nächsten schon genug zu tun, als dass wir uns allzu eng mit derjenigen der Menschen auseinandersetzen wollen, die im Endeffekt zufällig neben uns wohnen/Aufzug fahren/Ubahn fahren/an der Supermarktkasse anstehen.

In einer anderen Zeit, vor dem Neoliberalismus, schrieb Sartre im Theaterstück Geschlossene Gesellschaft den berühmten Satz “Die Hölle, das sind die Anderen”. Ich habe das Stück nie gelesen, aber wenn ich richtig gegoogelt habe, dann meint das eine spezifische Art der Präsenz der Anderen, nämlich die Konstitution (oder Zerstörung) der eigenen Subjektivität durch den objektivierenden, den urteilenden Blick, und damit die unglaubliche Macht des Anderen über mich. Im Neoliberalismus würde ich noch einen Schritt weitergehen, und hinzufügen, dass die bloße Präsenz des Anderen als reales Wesen mit echten Wünschen, Bedürfnissen und Fähigkeiten schon zur Hölle wird, weil auch ohne urteilenden Blick des Anderen wir uns gegenüber anderen immer-schon schlecht fühlen, weil ihre Gegenwart uns daran erinnert, wie unsolidarisch, wie überfordert-distanziert voneinander wir mittlerweile geworden sind.

Hell is other people, because their mere presence reminds us of how shit we've become. Weil sie Ansprüche stellen, weil sie kritisieren, weil sie verbessern, weil sie helfen, weil sie lieben, weil sie husten, atmen und lachen. Menschlichkeit macht uns schlecht fühlen, weil wir als Gesellschaft, und daher auch als Individuen in ihr, im Grunde so unmenschlich geworden sind, wenn wir “Verbunden-Sein” als Grundlage der conditio humana verstehen.

Und genau deswegen ist es leichter, ist es weniger hassle, den fehlenden Zucker für die Sonntagswaffeln beim Späti zu holen, als eine*n Nachbar*in darum zu fragen. Beim ersten kann man zahlen, beim zweiten muss man reden. Da ist in unserer Gesellschaft für die meisten klar, was leichter ist. Add to this soziologische Makrotrends wie Individualisierung von Lebensläufen, die Zersplitterung des politischen Feldes bis hin zu einer unorganisierbaren Aneinanderreihung kollektivitätsallergischer, vollatomisierter Subjekte, und es wird vielleicht ein bisschen klarer, warum so viele von uns damit strugglen, echte “Nachbarschaft” im substanziellen Sinne zu leben: weil wir sie bisher in den meisten Fällen weder brauchten, noch wollten.

Eine ganz kurze Verteidigung der Subkultur/Szene/Bubble

Ich treibe dieses “Menschen sind blöd / wir wollen mehrheitlich keine Nachbarschaftsbeziehungen” hier ein wenig auf die Spitze, um zu reflektieren warum es für so viele Menschen, mich eingeschlossen, so schwer ist, diesen so einfach erscheinenden Schritt zu gehen, einfach mal mit seinen Nachbar*innen zu sprechen. Nehmt Wolf und mich – beide links, beide schwul, in meinem Fall auch noch linksradikal. Wolf ist von uns beiden der, der weniger verdient, und trotzdem würde er lieber Sonntags den Zucker vom Späti holen, als zur Nachbarin zu gehen, weil er schüchtern ist, und ihr wisst, Norddeutsche und menschliche Kontakte und so. Ich bin der, der die ganze Zeit über Nachbarschaft redet, dessen gesamtes soziales Umfeld sich aber aus zwei Subkulturen rekrutiert, der schwulen und der linksradikalen. Unser beider Leben sind im Grunde so designed, dass wir außerhalb kommerzieller Interaktionen, wenn wir es nicht wollen, keinerlei direkten, verbalen Kontakt mit zum Beispiel rechten Heten haben müssen – und dass die so designed sind, ist kein Zufall.

I mean, warum gibt es denn in jeder Großstadt ein “queeres” Viertel – in Berlin Schöneberg, in Hamburg St. Georg, in Köln das “Bermuda Dreieck”? Wir wollen uns halt nicht in jeder Interaktion rechtfertigen müssen, hinterfragt und delegitimiert, oder gar bedroht fühlen. Für Linksradikale, für Feministinnen, für Klimaaktivist*innen gilt in Bezug auf Subkultur und Bubbles ähnliches, und ich merke sogar, dass ich mich aus der linksradikalen und der Klimabubble etwas zurückziehe, weil die mir nicht mehr “on message” genug sind, wenn's um Kollaps geht, und ich da schon zu viele Interaktionen mit Leuten habe, mit denen ich mich über ganz viel auseinandersetzen muss.

Und das ist der Kern: die Notwendigkeit der Auseinandersetzung. Ja, ich verstehe, dass einer der wichtigsten Skills, die wir uns im Kollaps aneignen können, die Fähigkeit ist, sich mit anderen auseinanderzusetzen, ohne, dass das gleich in Konflikt umschlägt, also die Fähigkeit, außerhalb der eigenen Bubbles zu kommunizieren. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Existenz von Bubbles, von Subkulturen, von Szenen, auch eine Reaktion darauf ist, dass manche Gruppen sich durch Interaktionen mit der Normalität, oft dem Normalwahnsinn der Mehrheitsgesellschaft gestresst und bedroht fühlen. Darauf, und etwas längerfristig gedacht auf das Verschwinden sozialer Millieus wie zum Beispiel Arbeiter*innensiedlungen, in denen widerständige Subjektivitäten produziert und reproduziert werden, wurde mit der Entwicklung “eigener” Räume reagiert, und diese Tatsache müssen wir ernst nehmen, anstatt sie einfach mit einem “hey, jetzt alle in die Nachbarschaften!” zu ignorieren. Sonst wird das wie die Sache mit den 70er Jahre linken Flugblättern vor den Fabriktoren...

Nachbarschaft: Erfahrungsbericht eines Laien

...wo die Linken sowohl sich selbst überforderten, als auch die Arbeiter*innen meist herzlich nervten. Mir geht es darum, realistische Handlungsangebote zu entwickeln, die in der Katastrophe handlungsfähig machen, nicht darum, Menschen mit noch mehr “das solltest Du auch noch tun” noch weiter zu überfordern. Nicht, weil es nicht richtig wäre, sondern, weil Menschen auf dauernde Überforderung halt so reagieren, wie wir es gerade gesamtgesellschaftlich erleben.

Also, trotz Subkultur und Neoliberalismus, trotz “keine Ahnung, wie” und “puuuh, das klingt ziemlich anstrengend” jetzt doch wieder: Nachbarschaft. Wie wenige von uns das real leben wurde mir bei einem Treffen in Berlin-Hellersdorf klar, auf dem es viel um solidarische Nachbarschaftshilfe und um Kiezarbeit ging, und am Ende klar wurde, das nur einer von uns tatsächlich schon in seinem ganzen Haus herumgelaufen war, und mit seinen Nachbar*innen gesprochen hatte. Wir feierten ihn wie unseren Helden, und neben Fritz Tietzs Radiofeature war es dieses Gespräch, das mich dazu motivierte, diesen Sonntag mit einem Bananenbrot durchs Haus zu laufen und an Türen zu klopfen.

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Die Überwindung, muss ich sagen, war enorm, unter anderem deswegen hatte ich bei einem Event und in den sozialen Medien schon mehrere Tage davor über diesen Plan gesprochen, um eine externe Erwartungshaltung aufzubauen, die mich dann im Zweifelsfall motivieren würde (which takes us back to hell ;)). Ich musste mich in mehrerlei Hinsicht vorbereiten:

  • das Bananenbrot (Öffnet in neuem Fenster): Essen ist immer ne gute Art und Weise, mit Menschen ins Gespräch zu kommen

  • einen Gesprächsleitfaden: nee, stimmt nicht, nur einen Einleitungssatz, der nicht mal besonders gut formuliert war. “Hi, ich bin Tadzio, ich wohn oben im 4. Stock mit meinem Ehemann. Warum ich bei Euch klingel? Naja, es passiert viel scheiße in der Welt, da ist's gut, wenn wir unsere Nachbar*innen kennen".

  • Einen Plan, wie's weitergehen kann: mit einer Einladung zu einem Glühweintrinken an einem noch unbestimmten Adventssonntag.

Ach ja, und wenn Ihr uns nicht in den sozialen Medien folgt, wisst Ihr nicht, dass wir jeden Sonntag, den wir zusammen verbringen, mit einem Irish Coffee anfangen, also war auch ein bisschen, ähm, emotionales Schmiermittel dabei, um die Gespräche zu erleichtern.

Ich war richtig nervös, und es dauerte ne ganze Zeitlang, bis ich mich motivieren konnte. Dann wusste ich nicht, wo ich anfangen soll: unten? Oben? I dunno, what's better? Endlich klingelte ich an die erste Tür, erstmal Pech – niemand zu Hause. Zweite Tür, andere Seite. Da macht eine junge Frau auf, die hier schon länger wohnt, wir kennen uns schon ein Bisschen (wie üblich meist vom Pakete austauschen). Sie wirkt zwar nicht besonders an einer langfristigen Katastrophenplanung interessiert, aber darum geht's ja zuerst mal nur sekundär. Hier geht es um den Aufbau von Kontakt, und als sie ihren beiden Söhnen zwei Stücke Bananenbrot gibt, und sagt, das sei jetzt deren Frühstück, dachte ich mir: sehr gut, da war das Bananenbrot tatsächlich hilfreich. Und Menschen, die Kinder mögen, sagen mir, dass man zu Eltern sehr gut über die Kinder Kontakt herstellen kann, though i wouldn't know where to start ;).

Dritte Tür: eine Amerikanerin macht auf, ich kenne sie nicht, aber Wolf hat mir schon von ihr erzählt. Sie ist noch müde (ich bin halt so'n fieser Früaufsteher), springt aber sofort auf den Gedanken der Vernetzung im Haus an. Als ich von “catastrophe is increasingly going to be a permanent state of affairs, and we should...” anfange, hält sie einfach nur die Hand hoch um meinen Redeschwall zu stoppen, und sagt nur “look, we just re-elected Trump, I get the point about permanent catastrophe”.

An der vierten Tür, die aufgemacht wird, merke ich gewisse subkulturelle Resonanzen. Die Wohnung fühlt sich ein bisschen gehoben-linksalternativ an, und als ich wieder mit meinem “die Katastrophe kommt” anfange, wird viel genickt, und der nette Nachbar, den ich noch nicht kannte, sagt den unvorsichtigen Satz: “Da bin ich mit Dir ganz auf einer Linie.” Hach, Genosse, wenn Du wüsstest, was Du Dir damit einkaufst ;)

Jetzt komm ich in den 4. und 5. Stock, in die oben liegenden Eigentumswohnungen. Hier ist die Reaktion eine ganz andere, hier wird eher abgewehrt. Einer meiner Nachbarn, witzigerweise der, mit dem ich den meisten Kontakt habe, erwähnt sogar Tietzs Radiofeature, fängt dann aber gleich an – in einer uncharakteristischen konservativer-alter-Mann-Performance – sich darüber zu beschweren, wie “wertend” und “ausgrenzend” der Beitrag gewesen sei, womit natürlich auch meine kleine Bananenbrotintervention gemeint war.

Eine ähnlich abweisende Reaktion bekam ich in der Dachloftwohnung, und es waren diese beiden, die mich auf Sartre brachten: wenn ich das richtig verstehe, fühlten die beiden sich von meinem Vorschlag, solidarische Gemeinschaft aufzubauen, im Grunde moralisch überfordert, fühlten, dass sie selbst zu Gemeinschaft gar nicht der Lage wären (die meisten Menschen, die sagen, die brauchen keine anderen Menschen, sind vor allem wahnsinnig schlecht im Umgang mit anderen Menschen), und reagieren deshalb auf den Vorschlag von Kollektivität abweisend und leicht aggressiv: “don't ask me to do something you know i'm not capable of!”

Ein paar Schlussgedanken

Puuh. Sehr langer Text, für mich kompliziertes Thema. Und ich wollte es wirklich so detailliert machen, weil ich den Eindruck habe, dass viele von Euch, wie ich halt auch, ein paar Hilfestellungen brauchen, bevor sie sich daran machen, endlich mal “Nachbarschaft” ein wenig zu leben. Ich hoffe, ich hab nicht zu viele verloren, mach jetzt auch schnell zu.

Erstens: während die Vorbereitung kompliziert und die Überwindung groß war, so war die tatsächliche Praxis, what I actually did, ziemlich banal. Ich bin zweimal durch's Haus gelaufen, hab an ca. 8 Türen geklopft, und 5 Gespräche geführt, keines davon besonders lang. Jetzt kenn ich alle, bald laden wir sie zum Glühweintrinken ein, dann geht's weiter im nächsten Orgaschritt: Hausgruppe bei WhatsApp oder Signal. D.h.: der Einstieg in die praktische Nachbarschaft braucht zwar viel Überwindung, ist aber gleichzeitig total einfach.

Zweitens: die ersten Gespräche in den unteren Stockwerken liefen positiv, die in den oberen eher negativ. Ich glaube, hier geht es weniger um objektive Klassenlage (Eigentümer*in/Mieter*in?), als um subjektive Einstellungen zu zum Beispiel Kollektivität. Die beiden, die kritisch reagiert haben, würde ich als Liberalkonservative bezeichnen, denen die bloße Idee von Gemeinschaft unangenehm ist. Solche Menschen sind schwer zu organisieren, die werden sich nur dann regen, wenn sie ein direktes Bedürfnis haben. Andere, denen beim Gedanken an Gemeinschaft nicht das Ethikzentrum schmilzt, sind in dieser Frage grundsätzlich organisierungsoffen.

Drittens: alle offenen Gesprächspartner*innen hatten selbst schon den Gedanken gehabt, etwas ähnliches zu tun. Auf diese Gemeinsamkeit hoffe ich, beim Glühweintrinken aufzubauen...

Womit ich zum Ende komme. Verzeiht mir die Überlänge, sie ist nicht meinem Wissen, sondern meinem Unwissen in dieser Frage geschuldet.

Mit nachbarschaftsoffenen Grüßen,

Euer Tadzio

Kategorie Klimakampf 2.0

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