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PositHIV im Kollaps: Act Up Again!

Die ikonische und emotional extrem direkte Bildsprache von Act Up! gehört zu den Ursachen ihrer Stärke, vor allem in den USA und Frankreich.

20.02.2025


Kurze Präambel aus gegebenem Anlass (es geht um die Causa Merz (Öffnet in neuem Fenster)), darunter geht es zum eigentlichen Text:

Als ich gestern in den Briefkasten schaute, fand ich darin 7! (in Worten: sieben!) Briefe von der Berliner Polizei, fünf davon von Fritze Merzens Anwält*innen, jeder davon ein schwächerer Versuch, mich durch eine Reihe von SLAPP-Klagen (strategic lawsuits against public participation) aus dem Diskursraum zu verdrängen, mich zu “silencen”, oder auch: der wahrscheinlich kommende Kanzler des Landes versucht sich gerade daran, mich zu mobben, to bully me. Aber, lieber Fritze: ich wurde in der Schule echt viel gebullied, hatte bis zum Ende der Mittelstufe manchmal akute Angst, zur Schule zu gehen, weil ich auf dem Schulweg eventuell von meinen Peinigern überrascht und gedemütigt oder verprügelt werden könnte. Nunja, heute werde ich nicht mehr bullied, ich hab mich irgendwann entschieden, dass ich das nicht mehr zulasse - auch und gerade nicht, wenn der, der es tut, bald der formal mächtigste Mann im Land sein wird.

Aber: jede solche Anzeige kostet in der Bearbeitung Geld, mein toller Anwalt Jannick Rienhoff hat bei jeder Anzeige Arbeitsaufwand, und natürlich stresst und nervt das immer - genau das soll es ja. Solltet Ihr mich in dieser Sache unterstützen wollen, hier der GoFundMe-Link:

https://www.gofundme.com/f/friedrich-merz-hat-mich-wegen-beleidigung-angezeigt?utm_medium=email&utm_source=product&utm_campaign=p_email%2Bhtml_summary_alert&utm_content=internal (Öffnet in neuem Fenster)

Liebe Leute,

heute geht es mal wieder um mein derzeitiges Lieblingsthema, nämlich: wie bereiten wir uns am besten auf Kollapsszenarien vor, wie werden wir innerhalb einer Katastrophe selbstwirksam, wie schaffen wir realistische Hoffnung durch die Verbindung von emotionaler Akzeptanz und praktischer Handlungsfähigkeit? Was auf den ersten Blick wie drei Fragen klingt, ist tatsächlich ein und die selbe, nur aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: what do we do when shit hits the fan?

Um diese Frage zu beantworten, habe ich seit Juni 2024 entweder relativ abstrakte Szenarien entwickelt (“Klimagerechtigkeit in der Katastrophe (Öffnet in neuem Fenster)”; “Solidarischer Katastrophenschutz (Öffnet in neuem Fenster)”; “Was tun in einer Hitzewelle? (Öffnet in neuem Fenster)”; “Katastrophe als strategischer Raum (Öffnet in neuem Fenster)”), oder aber ins Ausland, in die Geschichte, und vor allem nach rechts geschaut (hier (Öffnet in neuem Fenster) und hier (Öffnet in neuem Fenster)). Positive Beispiele linker, progressiver, solidarischer Kollapspolitik habe ich mit Ausnahme des immer wiederkehrenden Verweises auf “Occupy Sandy (Öffnet in neuem Fenster)” eigentlich kaum diskutiert, sondern, wie viele Kollapsis aus reichen Ländern das tun, vor allem darauf verwiesen, dass es uns an dieser Stelle gut zu Gesicht stehen würde, von Bewegungen im globalen Süden, vor allem von indigenen Bewegungen zu lernen, die zum Beispiel in Abya Yala (aka: the Americas) seit 1492 im Kollaps ihrer Welt existieren, und darin trotzdem immer wieder und immer weiter handlungsfähig sind.

Kollapspolitik der ersten Person

In all dem hatte ich aber einen Gedanken vergessen, den mir mein persönlicher “Solidarisches Preppen”-Guru Pär Plüschke vor 1,5 Jahren in Schweden vermittelte, als ich zum ersten Mal von Preppa Tillsammans (Öffnet in neuem Fenster) hörte, ein Gedanke, der für viele global justice-Linke vielleicht zuerst einmal kontraintuitiv klingt: dass solidarische Kollapspolitik nicht, wie linke Politik das nur allzu oft tut, von den imaginierten Bedürfnissen anderer ausgeht, sondern von den ganz ureigenen Bedürfnissen, und der Gemeinsamkeit, der Gemeinschaft, die entsteht, wenn man zusammen mit anderen versucht, genau diese Grundbedürfnisse für sich und für andere zu erfüllen. Das, was die alten Autonomen Anfang der 1980er (1981 fand der Tuwat Kongress (Öffnet in neuem Fenster) statt, einer der zentralen Gründungsmomente der Autonomen als Bewegung) “Politik der ersten Person” nannten, war kein Aufruf, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren, war keine linksradikale proto-FDP, sondern bezog sich auf eine nicht-entfremdete, auf eine authentische Form der Politik: mit echten Bedürfnissen anfangen, und zusammen mit anderen um deren Erfüllung zu ringen, anstatt mit irgendwelchen weirden ML-Flugblättern (ML: “marxistisch-leninistischen”) vor irgendwelchen Fabriktoren (Öffnet in neuem Fenster) zu stehen, und anderen Leuten zu sagen, was denn ihre wirklichen, ihre objektiven, ihre im Sinne des historischen und/oder dialektischen Materialismus “wahren” Bedürfnisse wären.

Also: von den eigenen Bedürfnissen ausgehen. Und was sind meine Bedürfnisse? Naja, die meisten davon unterscheiden sich nicht besonders von Euren – Essen, Schlafen, Atmen, etc. - aber es gibt eines, das die meisten von Euch nicht teilen werden, und in Bezug auf welches ich tatsächlich schon seit geraumer Zeit eine erhebliche Sorge, bordering on Angst verspüre, wenn es im Kollaps, in allerlei Katastrophensituationen nicht befriedigt werden kann: ich bin HIV-positiv, und muss jeden Tag eine Pille nehmen, damit die Infektion in meinem Körper nicht virulent wird, damit ich “unter der Nachweisgrenze” bin (ein “normaler” HIV-Test würde bei mir negativ zurückkommen, und ich bin unter keinen Umständen ansteckend), damit nicht irgendwann in den nächsten Monaten oder Jahren meine HIV-Infektion zu einer AIDS-Erkrankung wird. Ich brauche meine HIV-Medikamente, weil ich ohne sie in nicht allzu ferner Zukunft sterben würde. Das gleiche gilt für meinen Ehemann.

Von Medikamentenmangel zur Positivenbewegung

Soviel zum Bedürfnis. Jetzt zu seiner Befriedigung, oder eben Nichtbefriedigung. Anfang 2024 hatte ich ein schockierendes Erlebnis, das mir immer noch in den Knochen sitzt (Öffnet in neuem Fenster): ich ging zu meiner Apotheke, um mir, wie üblich, meinen drei-Monats-Vorrat an HIV-Medis zu holen, und bekam daraufhin zu hören, dass es bei den Wirkstoffen meines Medikaments gerade Lieferschwierigkeiten gäbe, dass sie mir nur ein Monatsdöschen geben könnten, und ich mich doch bitte in zwei Wochen nochmal melden sollte, dann würden sie vielleicht, hoffentlich wieder mehr auf Lager haben. Ihr könnt Euch meinen Schock vorstellen: zu dem Zeitpunkt redete ich schon seit mehreren Monaten über Kollaps und Kollapsvorbereitung, über solidarisches Preppen und eigene Bedürfnisse, und hatte trotzdem noch keine Sekunde damit verbracht, mein ureigenstes und (neben Wasser, Nahrung und einem Dach über dem Kopf) überlebenswichtigstes Bedürfnis ins Auge zu fassen. Mein unverhandelbares Bedürfnis nach HIV-Medikamenten.

Meine erste Reaktion darauf war, ehrlich gesagt, individualistischer, als es mir im Nachhinein lieb ist, anzuerkennen: ich fragte mich, ob Wolf und ich – wir nehmen leider unterschiedliche Medikamente – zu Hause Vorräte aufbauen könnten; ob und wie es vielleicht möglich wäre, die HIV-Patient*innen in meiner Arztpraxis (eine STI-/SüK-Schwerpunktpraxis) zu organisieren, aber da hatte ich keine guten Ideen, weil mir natürlich meine Ärzte keine Liste ihrer HIV-Patient*innen geben würden, und im Wartezimmer zu fragen: “und Du, bist Du auch wegen der Seuche hier?” wäre wohl auch nicht gerade die beste politische pick-up line. Ich hatte das Problem also erkannt, mir fielen zu seiner Bearbeitung aber nur individualistische und gleichzeitig unrealistische Ansätze zu seiner Bearbeitung ein – kennen wir glaube ich aus vielen Kollapsthemen, Klima allen voraus.

Ihr seht den Dreh vielleicht schon kommen, den ich jetzt machen will: wenn das individualistische unrealistisch ist, vielleicht ist dann das kollektive das rationale. Will sagen: allein wird's nicht klappen, sich auf das Problem adäquat vorzubereiten, es sei denn, man verfügt (vgl. megareiche “individuelle Prepper” über unendlich große ökonomische Ressourcen. Stattdessen, so argumentiert die neue “just collapse (Öffnet in neuem Fenster)”-Richtung auf der gesellschaftlichen Linken, liegt der beste Modus der rationalen Vorbereitung auf katastrophale Entwicklungen in kollektiven Bewegungsstrukturen, in der politischen Organisierung des menschlichen Drangs zur gemeinschaftlichen Nächstenhilfe in jeder Katastrophe (Öffnet in neuem Fenster).

Und jetzt kommt der Clou, der große Reveal, den ich vor einigen Wochen erlebte, als ich ein bisschen out of the blue zu einem Event eingeladen wurde, von dem ich bisher nur in Geschichten gehört hatte, an einem Ort, der für mich bisher nur in Legenden existierte: ich wurde zur (HIV-)“Positiven-Uni” im Waldschlösschen (Öffnet in neuem Fenster)eingeladen, dem Hauptquartier der deutschen Positivenbewegung, um dort einen zweitägigen Workshop zum Rechtsruck der deutschen Gesellschaft zu leiten, mit dem expliziten Fokus auf Praxis anstatt dauernden Analyse, auf Handlungsoptionen anstatt bloßem “kritischem Verständnis”. Der Reveal lag darin, dass ich daran erinnert wurde: ach ja, stimmt – es gibt die Positivenbewegung, und zwar seit ziemlich genau 40 Jahren.

Positivenbewegung und AIDS-Katastrophe

Als alter Bewegungsromantiker erfüllte mich die Einladung sofort mit einer gewissen Ehrfurcht – das Waldschlösschen ist für die deutsche Positivenbewegung in etwa das, was Rom für die katholische Kirche ist: fons et origo, heiliger Ort, Wallfahrtsstätte. Ursprung der Bewegung, die in Deutschland dazu beigetragen hat, dass heutzutage HIV-Positive aus allerlei Ländern der Welt nach Deutschland reisen, um sich die Supportstrukturen anzuschauen, die es hier gibt, und davon zu lernen. Sie erfüllte mich aber auch mit einer gewissen Scham: ich, der die ganze Zeit von Solidarität im Kollaps spricht, und sich schon Sorgen über die eigene Medikamentenversorgung macht, hatte sträflich übersehen, dass es in Deutschland eine – wenngleich derzeit nicht besonders schlagkräftige und etwas ermattete – soziale Bewegung HIV-positiver Menschen gibt. Genau die Art von Kontext, in der es möglich sein müsste, gemeinsam Strategien für wahrscheinliche Katastrophenszenarien zu erarbeiten, wie zum Beispiel Wegfall von Medikamenten wegen Lieferkettenschwierigkeiten, oder wegen politischen Drucks, oder sogar, im Extremfall, Deportationen unliebsamer Migrant*innen mit positivem HIV-Status (in etwa: “kranke Ausländer, die uns nur auf der Tasche liegen”).

Ich erwähnte oben übrigens den häufigen Blick ins Ausland oder nach rechts, um so effektive Katastrophenpolitikszenarien zu lernen, um jetzt sagen zu können: nach dem Wochenende im Waldschlösschen ist mir klar, dass ich auch hierzulande, und in der sehr nahen Vergangenheit – we're talking 1980s, meaning in living memory – Beispiele finden kann, wie Menschen sich in Katastrophen solidarisch organisierten. Denn die HIV-/AIDS-justice Bewegung, deren bekannteste Organisation die in den USA entstandene Gruppe Act Up! war, entstand in einer Situation, die von den Communities, die am stärksten von HIV-/AIDS betroffen waren – u.a. schwule Männer, MSM (men who have sex with men), intravenöse Drogennutzer*innen... - tatsächlich als Katastrophe wahrgenommen wurde. Mein erster und einziger sugar daddy, ein... ein paar Jahre älterer Mann, den ich in Brighton kennenlernte, erzählte mir mal von der bösen alten Zeit Anfang und Mitte der 1980er, als er zu mehr Begräbnissen ging, als auf Parties, als sein halbes Umfeld einfach wegstarb (nach einem oft ziemlich elendiglichen Siechtum), als die Gesellschaft voller Häme und Genugtuung auf die krepierenden “perversen Schwuchteln” schaute (Öffnet in neuem Fenster), und bezeichnete diese Phase als den “AIDS Holocaust”.

Verzeiht einem alternden Engländer diese Relativierung der Shoa, hängt Euch nicht an dem Begriff auf, sondern versucht, zu verstehen, was er damit ausdrücken, was er damit beschreiben wollte: eine Periode der dauernden Todesangst, der täglichen Angst vor Ansteckung, der täglichen Erfahrung von Ausgrenzung und Ablehnung, der Drohung tätlicher Gewalt oder staatlicher Repression – berühmterweise forderte der damals aufstrebende CSU Politiker Horst Seehofer mal die Internierung HIV-positiver in eigens dafür geschaffenen Lagern (er sprach tatsächlich davon, sie – uns – zu “konzentrieren (Öffnet in neuem Fenster)”). In dieser Situation entsteht in den USA, in Frankreich, in Deutschland und andernorts die Positivenbewegung, die einerseits politisch arbeitete, mit Demos und aufsehenerregenden Aktionen – es lässt sich durchaus argumentieren, dass viele der spektakulären Aktionsstunts, die wir als linke Bewegungen heute in Städten durchführen, auch auf den Erfindungsreichtum und die Radikalität von Act Up! Zurückgehen – andererseits aber auch eine kollektive Selbsthilfebewegung war. Zum Beispiel wurden illegale Medikamentenkauf-Genoss*innenschaften eingerichtet, sogenannte “Buyers' Clubs”, die u.U. In anderen Ländern schon zugelassene, oder deutlich billigere Medikamente in Länder importierte und verteilte, in denen sie nicht zugänglich oder zu teuer waren.

Beste Katastrophenkommunikation ever!

An dieser Stelle muss ich mein fast schon sträfliches Unwissen über diese für mich extrem wichtige Bewegung eingestehen, also werde ich hier den historischen Teil beenden, um Euch stattdessen vom “Rechtsruck”-Workshop zu berichten, der auf der Positiven Uni stattfand, und der für mich eines der besten Beispiele gelungener strategischer Bewegungsvorbereitung auf Katastrophenszenarien darstellt, das ich bisher erleben durfte, und das, obwohl ich vor dem Workshop an einigen Tagen so nervös war, dass ich Schnappatmung bekam. Trotzdem lief er nicht nur gut, er lief grandios, was, wie ich glaube, im Kern darauf zurückzuführen ist, dass die Positivenbewegung aus einer noch nicht sehr lang zurückliegenden Katastrophe entstand, und dass deshalb das, was bei vielen anderen Bewegungen noch sehr unterentwickelt ist, nämlich Akzeptanz der Möglichkeit oder gar der Wahrscheinlichkeit katastrophaler gesellschaftlicher Entwicklungen dort viel ausgeprägter ist, als in den meisten anderen Teilen der deutschen Gesellschaft. Ich möchte Euch die drei Elemente des Workshops beschreiben, weil ich glaube, genau diese Gespräche sollte jede*r mit seinem Umfeld, sollte jede Bewegung miteinander führen. I present to you: die drei Schritte effektiver Kollapsplanung.

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Ich finanziere meine politische Arbeit vor allem über diesen Blog, und wäre dankbar für Deine Unterstützung

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Erster Schritt: Akzeptanz

Warum war ich eigentlich vor diesem Workshop so nervös? Weil ich zwar queer und schwul bin, aber noch nie queer oder schwul “organisiert” war, queere Bewegungen im allgemeinen, und die Positivenbewegung im besonderen für mich kulturelles Neuland waren. Also war ich nervös, dass ich mit meinem “das Klima kollabiert, das treibt den Faschismus an, und wir müssen uns auf eine faschistische Machtübernahme, zumindest aber auf die mehrheitliche Arschlochisierung Deutschlands einstellen (Öffnet in neuem Fenster)” auf bürgerliche, antikommunistische, oder gar konservative Verdrängung und Ablehnung stoßen würde.

Stattdessen war die Runde im Waldschlösschen, außerhalb der nun entstehenden Kollapsbewegung, die Gruppe, die am schnellsten und mit am wenigsten emotionalen Anpassungsschwierigkeiten, in der Lage war, die neue Situation und die Gefahren in ihr realistisch anzuerkennen, und so einen gemeinsamen Ausgangspunkt für strategische Planungen zu erschaffen. Wir haben hier tatsächlich nur begrenzt über “Inhalte” geredet, und zuerst den Gefühlen Raum gegeben, die entstehen, wenn wir uns mit diesen möglichen dunklen Zukünften auseinandersetzen. Als es dann nochmal kurz um den Klimakollaps als Tatsache ging, sagte einer der Teilnehmer einfach nur “naja, der Drops ist halt gelutscht”, Alle nickten, und ich saß mit offenem Mund da, und fragte mich: wie kommt's, dass die so leicht die Realität akzeptieren können, während so viele, re: Klima meist besser informierte, das nicht können?

Ich will jetzt nicht die ganze Verdrängungsdebatte wieder aufmachen, mein Punkt an dieser Stelle ist, dass Bewegungen, wie alle Instutionen, auch eine Art historisches Gedächtnis darstellen, und die Erinnerung an die Katastrophe in der Positivenbewegung eben noch frisch ist. In Kombination mit der täglichen Erinnerung an die absolute Notwendigkeit unserer Medikamente, und der Tatsache, dass wir eben einerseits schon Lieferschwierigkeiten erleben, und es andererseits immer wieder politische Debatten darüber gibt, ob es zum Beispiel die PrEP – ein HIV-Medikament, das von Negativen genommen werden kann, und vollen Schutz vor HIV-Infektionen gibt – überhaupt auf Kasse geben sollte: es war diese Kombination historischer, materieller und politischer Bedingungen, die es erlaubte, so schnell zu einer gemeinsamen, realistischen Zukunftseinschätzung zu kommen, und das über große politische und kulturelle Differenzen hinweg. I was very impressed.

Zweiter Schritt: Szenarienentwicklung

Zugegebenermaßen war der erste Teil aber auch echt hart, weil, sich out of the blue zwei Stunden mit extrem dunklen Zukunftsszenarien zu befassen, auch für geübte Kollapsis schon ne Herausforderung ist, für Menschen, die sich nicht täglich damit befassen, natürlich noch mehr. Deswegen war es so wichtig, dass wir im nächsten Schritt die Stimmung wieder nach oben zogen: wir entwickelten mögliche Bedrohungsszenarien, wie zum Beispiel den Wegfall jeglicher staatlicher Förderung der AIDS-Hilfen, oder eben den Wegfall von Medikamenten, und gingen dann sofort über zum dritten Schritt: der Entwicklung von Taktikten und Strategien, um im Rahmen dieser Szenarien handlungsfähig zu werden.

Dritter Schritt: “wieder lernen, Sachen selbst zu machen”

Und das war dann der Teil, der so richtig kickte: auf Nachfrage wurde deutlich, dass der absolute Großteil der Institutionen im HIV-/AIDS-Feld fast vollkommen von staatlicher Förderung abhängig sind, und wir waren uns alle einig, dass es auch für einen konservativen Politiker (der müsste gar kein AfD-Fascho sein, ein Standard-CSU-Reaktionär würde da völlig ausreichen) ein einfaches wäre, alle Förderung von HIV-/AIDS-Arbeit einzustellen, weil, so würde der Staat ja perverses Verhalten belohnen, etc., yadayadayada...

Wie würde die mittlerweile ziemlich ermattete Positivenbewegung darauf reagieren? Die offensichtliche Antwort ist: mit der Entwicklung von Strukturen, die nicht auf staatliche Finanzierung angewiesen sind. Das wiederum würde bedeuten, private Gelder anzuzapfen, d.h., auf wohlhabende/reiche Positive zuzugehen, und denen klarzumachen, dass die Bewegung Geld braucht – das eigene Umfeld also aktivieren, ihm klarmachen, dass es bald wieder in die alte Auseinandersetzung gehen könnte, dass die Waffenruhe zwischen der konservativen Mehrheitsgesellschaft und den “perversen Positiven” bald aufgehoben werden könnte.

Aber eine Bewegung braucht noch etwas anderes, bevor sie Geld braucht: sie braucht eine Basis, sie braucht Bewegung. Die meisten HIV-Positiven, die in der Phase ihre Diagnose bekamen, in der HIV kein großes gesellschaftliches Thema mehr war, weil wegen der Medikamente eine Diagnose kein Todesurteil, sondern eher eine Quelle kleinerer Nervigkeiten war (einmal am Tag eine Pille nehmen, in meinem Fall muss ich dazu immer was essen, sonst kann der Wirkstoff nicht aufgenommen werden), schreiben diesem Teil ihrer Identität (“ich bin positiv”) keine große politische Bedeutung zu, und genau das muss sich ändern, wenn wir Positiven uns auf die kommende Zeit vorbereiten wollen. Wir müssen die lateralen sozialen Verbindungen wieder herstellen, auf denen Bewegung basiert, und die in Katastrophenszenarien genau das sind, was uns retten kann: solidarisches Preppen handelt nicht von Vorräten, sondern von Beziehungen. Wir Positiven müssen wieder als Positive auf die Straße gehen, z.B. auf CSDs oder bei antifaschistischen Demos sichtbar sein, wie es manche Genoss*innen in NRW schon tun, wenn sie mit “Helferzellen gegen Rechts”-Schildern gegen die AfD demonstrieren.

Wir sprachen noch über viel mehr, als nur Geld und Demos: wir sprachen, in der perfekten Zusammenfassung eines Teilnehmers, davon, zu lernen, “Sachen wieder selbst zu machen” - was mich dann doch ein wenig an die alten Autonomen erinnerte, und ein wenig an unser kommendes Kollapscamp (Öffnet in neuem Fenster). Wir sprachen über die Möglichkeit von Genoss*innenschaften, um Medikamente zu kaufen; Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, die von Medikamentenmangel betroffen sind. Wir sprachen von “politischer Selbstverteidigung” gegen rechte Kürzungsorgien, und der Notwendigkeit der Vernetzung der Positiven- mit anderen Bewegungen. Wir sprachen, in short, von einer neuen Positivenbewegung im katastrophalen Rechtsruck, und das Gespräch machte uns nicht traurig, es lähmte uns nicht, sondern es gab uns Kraft, Energie und Zuversicht, dass in der Katastrophe echt was zu reißen ist – und wir wissen das, weil wir es schon einmal gemacht haben, und das war gar nicht so lange her.

So, das wurde schon wieder alles recht lang, hier höre ich mal auf. Ich danke dem Waldschlösschen, der Positivenuni, und all den tollen Menschen, die mir gezeigt haben, wie effektive Kollapskommunikation und -Planung miteinander funktionieren sollte, und wie megageil ermächtigend sie sich anfühlen kann. Und dass das auch außerhalb unserer kleinen “Kollapsbewegung” möglich ist.

In dem Sinne sollten wir ALLE uns ein Beispiel an der Positivenbewegung nehmen. Von uns Positiven lernen heißt, überleben in schwierigen Zeiten lernen. That can't possibly be a bad idea.

Mit positHIVen Grüßen,

Euer Tadzio

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