„NIE, NIE“...
SACHBUCH-KRITIK
...wollte Hannelore Kraft (SPD) Bundeskanzlerin werden. Sieben Jahre lang war sie Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, aber diese Aussage war der Anfang ihres politischen Endes. Wer als Chef*in des bevölkerungsreichsten Bundeslandes die strategische Ambiguität aufgibt, das höchste Regierungsamt übernehmen zu können oder zu wollen, wird fortan nicht mehr ernstgenommen.

Ihr Nachfolger Armin Laschet (CDU) war umgekehrt in einer Art Zugzwang und „musste“ die Kanzlerschaft fast schon anstreben. Das Ergebnis ist bekannt , Laschet nun in der zweiten Wahlperiode eher ein Hinterbänkler im Bundestag.
„Recht früh“?
Deutlich präsenter ist nun Laschets Nachfolger Hendrik Wüst, ebenfalls CDU. Der junge Ministerpräsident zählt zur engsten Führungsreserve seiner Partei, hat Friedrich Merz de facto zum Kanzlerkandidaten ausgerufen und hält mit seinen Ambitionen scheinbar strategisch zurück. Macht und Einfluss vereint er in seinem Bundesland und darbüer hinaus dennoch ohne Frage auf sich – siehe letzten Satz.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/98ecf004-a901-48a0-a78c-d953579fa7b0 (Öffnet in neuem Fenster)Der Machtwandler heißt somit recht treffend und gleichzeitig doch etwas obskur die Biografie, die die beiden Journalisten Tobias Blasius und Moritz Küpper über den Düsseldorfer Landesfürsten geschrieben haben. Bereits im Oktober 2023 erschien sie mit dem Untertitel Karriere und Kalkül im Essener Klartext Verlag - „recht früh“ (in seiner Karriere), wie der Portraitierte im Prolog zu Protokoll gibt.
Die Leiden des jungen W.
Ob das so ist, müssen die Leser*innen später selbst beantworten. Zumindest reicht es für mehr als 200 Seiten oder acht Kapitel, die jeweils einen besonderen Fokus auf eine Eigenschaft oder Phase im Leben des Hendrik W. beleuchten, im Wesentlichen aber doch chronologisch angeordnet sind. In „Der Geprägte“ und „Der Suchende“ finden wir Informationen zu Herkunft und früher Sozialisation Wüsts, politisch wie nicht-politisch.
Frühe Positionierungen gibt es in „Der Konservative“ und „Der General“, bevor es mit „Der Gestürzte“ und „Der Unvermeidliche“ an die Illustration von Wüsts Aufstieg geht, der ihn in seine aktuelle Position als „Der Ministerpräsident“ – das letzte Kapitel – führen sollte. Ähnlich wie bei Armin Laschet, den Blasius und Küpper bereits 2020 portraitierten, also eine klassische Politikerbiografie, die die wesentlichen Stationen des Schattenmannes nachzeichnet.
Handwerker
Die beiden Journalisten – Blasius bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, Küpper beim Deutschlandfunk – spielen hier erneut ihr journalistisches Handwerkszeug aus. Sie sprechen mit Weggefährt*innen und (früheren) Gegner*innen, besuchen Archive, stöbern durch analoge und digitale Medien und haben natürlich auch mit dem Objekt der Begierde selbst – Hendrik Wüst – Gespräche geführt.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/e1cc816c-b41a-4772-9031-e7f7dd2a2118 (Öffnet in neuem Fenster)Die Recherche zwischen Staatskanzlei und Junger Union ist also durchaus umfangreich und vielschichtig. Was daraus entsteht, ist das Bild eines Mannes, der sein Land nach einem akribischen Aufstieg und nicht ohne Rückschläge nun unangefochten regiert. Und das mag durchaus etwas heißen, denn, wir erinnern uns, Nordrhein-Westfalen war über Jahrzehnte die „Herzkammer der Sozialdemokratie“.
Ein machtversessener Karrierist?
Dass diese generell einen Niedergang erfährt, dürfte Wüsts Aufstieg ebenso begünstigt haben wie sein individueller Ehrgeiz. Denn, das verrät nicht nur der etwas merkwürdige Buchtitel (bei Laschet war das Wortspiel Der Machtmenschliche noch witzig und tiefsinnig, bei Wüst fühlt es sich eher gezwungen an), die beiden Autoren zeichnen nach und nach das Bild eines kühlen Strategen und fast schon machtversessenen Karrieristen, der jeden Schachzug im Voraus plant oder aber, wenn es die Situation erforderlich macht, auch spontan zu seinen Gunsten entscheidet.
Möglich, dass Hendrik Wüst genau so tickt – zu einem sehr wesentlichen Teil braucht es in Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auch genau jene Persönlichkeitsmerkmale – und dennoch zeichnen die beiden Journalisten doch ein verhältnismäßig einseitiges Bild von Wüst oder auch von ihren Gesprächspartner*innen.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/55a71840-6e3d-4dbf-bfac-17b0aed76701 (Öffnet in neuem Fenster)An einigen Stellen ordnen sie die ihnen vorliegenden Informationen klug ein und ziehen ihre Schlussfolgerungen. Oft genug sind es jedoch eher Mutmaßungen, die eher mit ein wenig zu viel Überzeugung transportiert werden. Unsere eigenen Recherchen und Erfahrungen mit einigen der hier zitierten Informanten legen jedenfalls nahe, dass viele der Schlussfolgerungen durchaus korrekt sein dürften, sich aber auch oft genug zumindest in einem Graubereich bewegen.
Grau und getrübt
Was sich eindeutig nicht im Graubereich bewegt, sondern deutlich unter dem Erwartbaren liegt, ist die Anzahl der Tipp- und Grammatikfehler. Wir erwarten von Politiker*innen, dass sie sauber arbeiten, von Jorunalist*innen in Zeiten von Fake News noch umso mehr. Nun verändern Grammatikfehler den Inhalt nicht automatisch zum Negativen, aber dennoch sind sie unschön und gerade in einer Biografie über einen Politiker, der sich anschickt noch mehr Einfluss zu üben, sollte doch eine gewisse Sorgfalt an den Tag gelegt werden.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/029bcdfd-6b1b-4fde-b4f3-7d68a910ce62 (Öffnet in neuem Fenster)Natürlich ist es nachvollziehbar, dass Formulierungen in einem Manuskript nachträglich angepasst werden und dass Fragmente übrigbleiben, die danach keinen Sinn mehr ergeben. Aber dann ist es die Aufgabe eines sorgfältigen Lektorats und Korrektorats im Verlag, solche Passagen zu eliminieren. Das ist bei Hendrik Wüst – Der Machtwandler erkennbar oft nicht gelungen und trübt somit das Leseerlebnis.
Nicht zu früh (freuen)
Inhalltich ist die Biografie von Tobias Blasius und Moritz Küpper jedoch sehr aufschlussreich, selbst wenn sie, wie erwähnt, ein eher einseitiges Bild zeichnet. Durchaus denkbar, dass dieses Bild korrekt ist. Zu jemandem wie Wüst, der die Karriereleiter noch nicht bis nach ganz oben erklommen hat, entsprechende Ambitionen jedoch erkennen lässt, passt eine solche Einschätzung durchaus.
https://steadyhq.com/de/thelittlequeerreview/posts/5b96b567-c073-430c-8f0c-d6b281960b32 (Öffnet in neuem Fenster)Dann aber ist dieses Buch umso mehr eine lohnende Lektüre, denn wer Hendrik Wüst nicht so sehr kennt, kann hier eine spannende Biografie von Aufstieg, Scheitern und Wiederaufstieg lesen. Und er und „sein Umfeld“, wie es so schön heißt, können dies als Anlass nehmen, um weiter am Image des Strahlemanns aus dem Münsterland zu feilen. Dass es also „zu früh“ gewesen sei, eine Biografie über Hendrik Wüst zu schreiben und zu veröffentlichen, dürfte nun niemandem mehr in den Sinn kommen, oder?
HMS
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Tobias Blasius, Moritz Küpper: Hendrik Wüst - Der Machtwandler. Karriere und Kalkül (Öffnet in neuem Fenster); September 2023; 224 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-8375-2584-7; 22,00 €