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„Wie kann eine Pflanze illegal sein?“

BILDBAND-KRITIK

Dies fragt die Professorin und Inhaberin des Forschungslehrstuhls "History of Health & Social Justice" an der Universität Saskatchewan in Kanada Erik Dyck zu Beginn ihres (ein- und er-)leuchtenden Bandes „RAUSCH – Eine Kulturgeschichte der Psychedelika“. Erschienen ist das gut zweihundertseitige, reich bebilderte Werk im Herbst 2024 im Schweizer Haupt Verlag.

Auf die erläuternde Einleitung „Was sind Psychedelika“ folgen acht Kapitel, die die so interessante wie wechselvolle Geschichte von Psychedelika und Umgang, Genuss und Verteufelung thematisieren. Zum Ende des von Wiebke Krabbe ins Deutsche übertragenen Buches fragt Erika Dyck: „Eine psychedelische Renaissance?“

Heiliger Rausch

Zu Beginn erfahren die geneigten Leser*innen prompt, dass Psychedelika in Form von Pilzen bereits im alten Ägypten konsumiert wurden. Zwar nur von Königen, doch immerhin. Auch im weiteren Verlauf der frühen Geschichte fanden „Pflanzenlehrer, Entheogene, Empathogene, Halluzinogene und Entaktogene, heilige Pflanzen und Pflanzen der Götter“ Anklang und Verwendung. (Der Begriff „Psychedelika“ wurde erst durch einen Austausch zwischen Aldous Huxley und dem britischen Psychiater und Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Kanada, Humphry Osmond, im Jahr 1956 geprägt.)

© Erika Dyck / Haupt Verlag 2024

Dyck betont ausführlich und kenntnisreich die Verehrung heiliger Pflanzen, wie der „teuflischen Wurzel“ des Peyote-Kaktus und erläutert anhand von heiligen Ayahuasca-Zeremonien nicht nur die indigenen, pflanzlichen Ursprünge, sondern auch die kulturelle Vereinnahmung (wenn auch viele Anthropolog*innen und Ethnobotaniker*innen in der Tat lernen und wertschätzen wollten) und die Einflüsse von Imperialismus und Kolonialismus. Bis heute! So lesen wir in den Kapiteln „Untergrund“ und „Einfach Nein sagen“, dass nicht nur die amerikanische (Anti-)Drogenpolitik der späten 1960er- bis ... nun im Grunde heute, auch rassistisch geprägt war/ist, sich auf bestimmte Gruppen fokussiert und vor allem bis in die 1980er-Jahre auf Segregation ausgelegt war

Kokain und tote Kinder

Wir erkennen auch ganz nüchtern, dass eine Kulturgeschichte der Psychedelika nicht ohne Politik und Forschung erzählt werden kann. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird bspw. die stimulierende Wirkung von MDMA festgestellt und schon 1885 wird mit den „Cocaine Toothache Drops“ den Zahnschmerzen von Kindern entgegengewirkt oder sie sollen mit „Mrs. Winslows Soothing Syrupe“, der ebenfalls Kokain enthielt, beruhigt werden. Dass mensch hier mehr hätte forschen sollen, wird klar, als doch das eine oder andere Kind nach zu hoher Dosierung stirbt. Hoppala.

Der Peyote-Kaktus mitsamt Wurzel und indigene Kunstwerke von Tutukila Carrillo Sandoval und Juan Rios Martinez // © Erika Dyck / Haupt Verlag 2024

Doch bevor schließlich vor allem ab den 1950er-Jahren mehr und mehr geforscht wird, wird zunächst in den Pariser Salons sowie mancher Opiumhöhle in China, Frankreich und England experimentiert. Hier dienen die bewusstseinsverändernden Substanzen, gern in Kombination mit Absinth, nicht mehr der Bewusstseinserweiterung im Sinne eines Erkenntnisgewinns und einer spirituellen und/oder religiösen Erfahrung, sondern vor allem dem Eigennutz. Kreativität soll gefördert und dem Hedonismus gefrönt werden. Das Ganze wird sich in den 1960er-Jahren nicht nur in der Bay Area in San Francisco so ähnlich wiederholen, wenn auch in er Linie mit LSD.

Damals jedenfalls wurden vorrangig Opium, Alkohol, Tabak und Haschisch konsumiert. Eine der ersten ausführlichen Aufzeichnungen verdanken wir dem amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Fitz Hugh Ludlow (1836 – 1870), der „sich schon früh zu Rauschmitteln hingezogen“ fühlte und „vor allem durch seinen autobiografischen Bericht über seine Selbstversuche mit großen Mengen des Cannabisextrakts Haschisch bekannt“ wurde. Siehste mal.

Kleinteiliger Rausche

Nun soll dieser Text sich nicht im Klein-Klein ergehen. Naja, vielleicht doch ein wenig...

Wir lesen, dass auch das Okkulte für manch Konsument*in eine Rolle spielen sollte. Etwas, das u. a. auch in der Netflix-Serie „Freud“ thematisiert wurde. Eine prominente Stimme war in diesem Zusammenhang die eng mit den Huxleys verbundene Eileen Garrett (1893 – 1970), die mit „Tomorrow“ gar ein Magazin veröffentlichte, das parapsychologische Themen mit aktuellen Ereignissen und literarischen Beiträgen verknüpfte. Was arg spannend klingt.

Mehr und mehr entdeckt die Medizin vor allem LSD „für sich“. So erschienen zwischen „den 1940er-Jahren bis zu den Anfängen des Verbots psychedelischer Substanzen in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre [...] mehr als tausend Artikel über diese Substanzen in wissenschaftlichen und medizinischen Zeitschriften.“ Es kommt zu einer Art „Deinstitutionalisierung“. Weg von den finsteren Verwahranstalten à la AMERICAN HORROR STORY: ASYLUM oder RATCHED, hin zu menschenwürdigen Behandlungen. Oder anders: Statt Lobotomie lieber LSD.

Begleitet – und ggf. auch befördert – werden derlei Entwicklungen von Büchern wie etwa Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“. Kesey sollte mit seinem bunt bemalten Bus „Further“, den „Merry Pranksters“ und seinen „Acid Tests“ sowie der engen Verknüpfung zu den Beatniks einer der Vorreiter einer amerikanischen Gegenkultur werden. (Überhaupt entstanden viele Magazine, Bücher, Musikstücke, usw. usf.) Freie Entfaltung und Liebe, jede*r nach ihrer*seiner Façon und so. Dass dabei dennoch alte Rollenmuster festgeschrieben blieben, wurde lange hingenommen oder ignoriert. (Die Kommunen der 1960er- und 70er-Jahre der alten Bundesrepublik lassen grüßen.)

Mit Gras gegen Nixon?

Etwas, das auch die „Acid Queen“ Grace Slick, Frontfrau von Jefferson Airplane, in ihrer Autobiografie 1999 thematisierte. Wie überhaupt eine allzu dünne, optimistische Schicht, die psychedelisches Erleben ermöglichte. Nonkonformismus (einer größtenteils weißen aus der Mittelschicht stammenden Generation) hin oder her: Das Leben blieb eben dennoch das Leben, die Welt, die Welt. Kurzum und etwas abgewandelt: Der Gedanke, Kreativität, ein paar gute Bücher und Songs könnten „den gesamten genetischen Code der Aggression“ verändern, sei zwar edelmütig, aber doch naiv.

"Drop Acid Not Bombs": Bewegungen (teils aus dem Untergrund) gegen die sog. Drogenpolitik - die auch aus Angst vor Anarchie rigoros gegen Teile der Bevölkerung geführt wurde // © Erika Dyck / Haupt Verlag 2024

So verändern also weder Allen Ginsbergs „Howl and Other Poems“, das illegal im ersten reinen Taschenbuchladen Amerikas, Lawrence Ferlinghettis City Light, vertrieben wurde, noch Songs und musikalische Happenings von Grateful Dead oder den ebenfalls mit Psychedelika arbeitenden Beatles oder Rolling Stones nichts.

Dafür schicken sich Richard Nixon und später Ronald und Nancy Reagan („Just Say No“) an, einiges zu verändern und nicht nur „harte“ Drogen wie Kokain und Heroin zu kriminalisieren, sondern auch psychedelische Drogen wie LSD, Meskalin, MDMA und Co. In einem „Übereinkommen über psychotrope Substanzen“ werden diese mit den zuvor genannten über einen Kamm geschoren. Nun wird zwischen „weißen Drogen“ wie Tabak, Alkohol und Arzneimittel und „schwarzen Drogen“ unterschieden.

Diskriminierungskultur

Dass die „guten“ Drogen bei unsachgemäßer Einnahme nicht weniger gefährlich sind als viele andere, bleibt unbeachtet. Was mitunter zu abstrusen Ereignissen führt. Nicht weniger ironisch ist, dass der Versuch die Bevölkerung (oder insbesondere einzelne Teile wie BiPocs, Queers/Homosexuelle, Linke und Sozialisten, ...) zu kontrollieren, zu mehr politischen Bewegungen und einer wachsenden Kritik an den Zuständen in den USA führt. Nicht zuletzt sicherlich auch, da viel mit „Fake News“ und Desinformation, Panik und Angst agitiert wird. Und die CIA fleißig weiter mit LSD und Co. experimentierte bzw. Experimente, die an Menschen ohne deren Wissen durchgeführt wurden, finanzierte.

Kreative LSD-Blotter // © Erika Dyck / Haupt Verlag 2024

Doch scheint sich in den letzten paar Jahren weltweit etwas zu verändern, so Dyck. Wissenschaftler*innen und somit diverse wissenschaftliche Publikationen beginnen sich wieder vermehrt für psychedelische Drogen zu interessieren. Die Wahrnehmung, es handele sich um „Aussteigerdrogen“ aus dem Mainstream, wandelt sich wieder dahin, dass sie als therapeutische Hilfsmittel, etwa zur Behandlung von PTSD o. ä. genutzt werden könnten. Dabei mahnt Dyck, dass das in den letzten 50 bis 70 Jahren teils in Randgruppen und in der Illegalität gewonnene kompetente Wissen (etwa jenes von Sasha Shulgin) nicht vernachlässigt werden dürfe. Ebenso seien es vor allem persönliche Erfahrungen gewesen, die die Leute, die Psychedelika erforschten mit einfließen ließen. Heute geht es vor allem um Objektivität und Kontrollvariablen.

Rauschhafte Reise

Recht hat die Autorin. Auch wenn sie erwähnt, dass Risiken zwar benannt, nicht aber künstlich skandalisiert werden sollten. Wie überhaupt die gesamte Betrachtung und eine mögliche „Medikalisierung“ durch Politisierung Schaden erführe. Dem ist nur zuzustimmen. In Deutschland reicht am heutigen Welt-Cannabis-Tag, dem 20.4. - 4-20, ein Blick auf die Debatte um die bürokratische Teillegalisierung eben dieser (b)rauchbaren Pflanze.

Diese nun doch viel zu lange Rezension zeigt also: Der „RAUSCH“ ist ein informatives Erlebnis von vorn bis hinten, oben bis unten. Eingerahmt werden die Informationen von krassen Fotografien und Schriftstücken, Gemälden und Skulpturen, Buch- und Albencovern (inkl. lesenswerter Bildtexte). Eine eindrückliche, wunderbar aufgemachte Reise ins Innere einer Gegenkultur, die Forschung und Fortschritt, Politik und Pop, Geschichte und Genuss perfekt verknüpft.

AS

Eine Leseprobe findet ihr hier (Öffnet in neuem Fenster).

Erika Dyck: RAUSCH – Eine Kulturgeschichte der Psychedelika (Öffnet in neuem Fenster); Aus dem Englischen von Wiebke Krabbe; Oktober 2024; 224 Seiten, durchgehend vierfarbig; Hardcover, gebunden; Format: 19 x 24,6 cm; ISBN: 978-3-258-08375-9; Haupt Verlag; 36,00 €

Kategorie Sachbuch

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