Die Entdeckung der Anti-Dystopie
Ich habe eine Reise gemacht auf der Suche nach der Utopie der Zukunft. Und habe die Anti-Dystopie entdeckt. Die Reise ging zu «Wir bauen Zukunft» zwischen Berlin und Hamburg. Zehn Hektaren Wald. Vor zwanzig Jahren von einem Biologen gepflanzt. Es ist erstaunlich, wie schnell sich Landschaft ändern kann. Auf dem Gelände gibt es ein Seminarhaus an einem kleinen See. Dort trafen sich gegen die fünfzig Menschen.
Eingeladen durch «Reinventing Society». Die Organisation steht hinter dem Buch «Zukunftsbilder 2045». Wie die Macher:innen aber meinen, fühlt sich ihre Realutopie mit den aktuellen Krisen nicht mehr ganz so stimmig an. So suchten wir zusammen nach einer stimmigeren Wahrheit. Und nach Gemeinschaft und Verbindungen. Dem könnte in der aktuellen Krise eine wichtige Rolle zukommen.
Erst verbrachte ich aber einige Tage in Berlin. Und entdeckte dort, wie nahe Utopie und Dystopie beieinander liegen. Respektive, wie unterschiedlich Menschen mit eigentlich ähnlichem Hintergrund ihre Stadt wahrnehmen können. Kreative Utopien in Neukölln einerseits und die Krise der staatlichen Institutionen andererseits – verschiedene Realitäten legten sich übereinander.
In der Buchhandlung «Otherland» entdeckte ich das Buch «Zukunft ohne Angst» von Isabella Herrman. Die Berliner Wissenschaftlerin, die zu Science-Fiction forscht, macht sich Gedanken dazu, wie Anti-Dystopien neue Perspektiven eröffnen können. Sie beschreibt verschiedene Beispiele auf der Populärkultur: Filme, Serien und Bücher.
Eine Anti-Dystopie ist eine Reaktion auf eine düstere und bedrohliche Zukunft. Die Dystopie bedeutet nicht komplette Zerstörung, sondern auch die Auflösung von Sicherheit und Gewissheiten. Die Utopie hingegen skizziert eine ideale Zukunft ohne Zerstörung und Verwerfungen. Utopien sind aber nicht wirklich angesagt. Weder in der Populärkultur noch in der Politik. Dies sieht, wer nach Hollywood schaut. Ich würde dies aber auch behaupten, weil wir uns selbst mit Realutopien auseinandergesetzt haben. Damit erreichte man in den letzten zwanzig Jahren nur eine sehr spezifische Zielgruppe innerhalb der Linken.
Sich zu überlegen, was die Potentiale von Anti-Dystopien sind, finde ich daher sehr spannend. Ich vermute, dass dies den Zeitgeist besser treffen könnte, weil es als weniger naiv erscheint in Anbetracht der Weltsituation. So brachte ich dieses Thema auch bei dem Summit von Reinventing Society ein. Auch einige andere wurden davon stark umgetrieben.
Als spannend empfand ich in dem von mir initiierten Workshop, der Zeitanalyse und mögliche Zukunfts-Szenarien umfasste, besonders eines. In unserer Reise in die Zukunft, fühlten sich Selbstwirksamkeit und soziale Bindungen, die durch Handeln entstehen so kraftvoll an, dass es zweitrangig wurde, ob das Handeln selbst wirkungsvoll ist. Nur schon ins Handeln zu kommen, schafft sofort eine andere Wirklichkeit. Was nicht bedeuten soll, dass es nicht auch Sinn macht, im eigenen Handeln reflektiert zu sein und sich nichts vorzumachen, wie ich in meinem letzten Beitrag (Abre numa nova janela) einforderte.
Suffizienz und Verzicht, von den Grünen und insbesondere der Postwachstumsbewegung häufig gefordert, sind kaum ein mehrheitsfähiges Narrativ. Darüber habe ich bereits öfters geschrieben in meinen Blogbeiträgen. Wer darüber schreibt, dass aber ganze Nationen mit Narrativen von Selbstbeschränkung überzeugt werden können, ist Paul Collier in seinem Buch „Aufstieg der Abgehängten. Wie vernachlässigte Regionen wieder erfolgreich werden können“. Dieses Buch war meine zweite Lektüre auf dieser Reise. Der englische Ökonom analysiert verschiedene Beispiele. Wichtig ist, dass dies nur dann gelingen kann, wenn bereits eine wirtschaftliche Krise da ist. Es geht um eine gemeinsame Anstrengung, damit es einem in der Zukunft besser geht. Mit den aktuellen Krisen werden die Voraussetzungen dafür besser. Auch wichtig: Die Glaubwürdigkeit derjenigen, die ein entsprechendes Narrativ entwickeln. Man kann nicht im Luxus schwelgen und Verzicht einfordern.
Meine Reise ging weiter nach Hamburg. Dort verbrachte ich zwar nur einen einzigen Tag und zwei Abende. Doch passend zu meinem Reiseschwerpunkt fanden in den grössten Kulturhäusern zwei Veranstaltungen mit anti-dystopischen Elementen statt. Bei «Superzart», einer queeren Utopie im Schauspielhaus, ging es stark auch um aktuelle, queerfeindliche Tendenzen und wie man darauf reagieren könnte. Der Abend umfasste sehr unterschiedliche musikalische Darbietungen, Comedy, Tanz und Gesprächsrunden. Der Aktivist und Journalist Arne Semsrott stellte sein Konzept «Prepping for Future» vor, bei dem es darum geht, zusammen zu kommen, sich zu organisieren, lokale Strukturen und Verbindungen untereinander zu schaffen. Bingo! Das passte gut zu dem, was ich gerade erlebt hatte. Einer der Organisatoren des Summits erzählte von persönlichen Erfahrungen und für wie wichtig er es hält, in guten Zeiten Support-Netzwerke aufzubauen. Für persönliche, aber auch gesellschaftliche Krisen.
Und bei dem Community-Projekt «Futur X – Wann ist Morgen?» des Internationalen Musikfestes Hamburg, bei dem Inhalte partizipativ unter Einbezug vielen Laien entwickelt wurden, hiess es bei der Aufführung in der Elbphilharmonie: «Die apokalyptischen Reiter:innen haben versagt! Fehlanzeige, die Zukunft ist immer noch da.» Die Zukunft überlebt also die Apokalypse. Hey Leute, dies sind positive Nachrichten! Und was heisst dies für uns Menschen? Mehrere Mal wiederholte sich während der Vorführung die Textzeile «Reparieren, improvisieren, fantasieren» als ein Leitmotiv. Wäre dies ein antidystopisches Narrativ, auf das wir uns einigen können? Dabei müssen wir nicht alle jeden Teil dieses Dreiklangs gleich gut können, wenn wir uns verbinden und uns zusammen für die Zukunft einsetzen.
Noch eine Überlegung zum Abschluss: Ich möchte nicht empfehlen, gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit von Anti-Dystopien zu sprechen. Der Begriff ist vermutlich etwas zu sperrig und zu wenig selbsterklärend. Es ginge eher darum, die Utopie, respektive utopisches Denken, als Reaktion auf die aktuellen Entwicklungen zu propagieren. Die beiden sehr gut besuchten Veranstaltungen in Hamburg unterstützen mich in dieser These. Vielleicht besteht durch den Zeitgeist bald viel mehr Raum für Utopien. Wir können bereits jetzt die Texte, Filme, Theaterstücke und partizipative Veranstaltungen entwickeln, die Begegnung und Austausch ermöglichen, ermutigen und verbinden.
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Literaturhinweise
Isabella Hermann: Zukunft ohne Angst - Wie Anti-Dystopien neue Perspektiven eröffnen. Science-, Social- und Climate-Fiction als Mutmacher für Veränderung und gesellschaftlichen Wandel. oekom, 2025
Paul Collier: Aufstieg der Abgehängten. Wie vernachlässigte Regionen wieder erfolgreich werden. Siedler, 2024
Bild Schauspielhaus Hamburg: Manuel Lehmann