Jens Spahn, die Union und das Demokratiewashing der AfD

Bildquelle: https://www.fr.de/meinung/abstand-zur-afd-unheilvolles-buendnis-in-sicht-es-braucht-mehr-93681634.html.
Disclaimer: sorry, dass ich Euch morgens schon diese Fressen in die Timeline haue. Is wichtich.
17.04.2025
Liebe Leute,
eigentlich wollte ich heute mal Blogpause machen, weil es zwischen Lesenreisen, Kollapscamporga, und der Übersetzung meines Buchs ins Englische bei mir zeitlich gerade ein bisschen eng wird. Aber die nach Alice Weidel (Abre numa nova janela) zweitschrecklichste homosexuelle Person in diesem Land hat mir leider einen Strich durch die Rechnung gemacht: ich spreche natürlich von Jens Spahn, der in einem vielbeachteten Interview vorschlug, mit der zunehmend auch für die verbleibende “Mitte” offensichtlich faschistisch agierenden AfD umzugehen, “wie mit jeder anderen Oppositionspartei (Abre numa nova janela)” auch.
Jobgesuch und Enttabuisierung in einem
Klar, irgendwie kann man diese Aussage auch erstmal als Bewerbungsschreiben verstehen. In etwa: “Liebe AfD, hiermit bewerbe ich mich auf den Posten des Vizekanzlers in einer braun-schwarzen Reichs-, äh, Bundesregierung. Mit hoffnungsvollen Grüßen, Euer Volksgenosse, Jens Spahn.”
Aber es geht hier natürlich um sehr viel mehr: es geht um den Versuch des Demokratiewashings der AfD. Es geht um das endgültige Einreißen dessen, was manche immer noch sehr optimistisch als “Brandmauer” bezeichnen. Es geht darum, faschistische Parteien und ihre Politiken ganz offiziell zum ganz normalen Teil Deutschlands zu machen. Es geht darum, den Faschismus als gesellschaftliche Kraft vollständig zu rehabilitieren. Es geht darum, dem deutschen Konservatismus einen möglichen Bündnispartner zur rechten Seite zu stellen, damit man sich nicht mehr so “über den Tisch ziehen” lassen muss, wie das in der Unionsmythologie die SPD gerade getan hat. Und all dies wird begründet damit, dass die AfD ja nunmal demokratisch gewählt ist.
Es geht also um die Enttabuisierung des Faschismus, und darauf gerichtet sagt Spahn nur etwas deutlicher das, was dieser zentristische “neeee, eine 20-Prozent-Partei kann man nicht verbieten”-Diskurs auch irgendwie impliziert: “der Faschismus ist Teil Deutschlands, er wird gewählt, und deswegen muss man mit ihm auch ganz normal umgehen.”
Deutschland und der Faschismus
To be sure, mit dem ersten Teil seiner Aussage hat Spahn völlig recht: der Faschismus ist Teil Deutschlands, der ist nie weggegangen, und vielen von uns wird erst in den letzten Jahren klar, wie wenig der Faschismus jemals wirklich “weg” war. Ok, check: der Faschismus gehört zu Deutschland, genau, wie white supremacy zu den USA und das Patriarchat zum Katholizismus.
However: weil (Nazi-)Deutschland halt den Krieg verlor, und die Altnazis dann nochmal gegen die '68er verloren (bis sie dann im deutschen Herbst und der geistig-moralischen Wende zurückschlugen), entstand im Laufe der Zeit in der BRD ein zwar sehr oberflächlicher, aber zeitweise trotzdem belastbarer Grundkonsens, der da lautete: Faschismus ist eine politische Position, die hier keine Berechtigung mehr hat, die nicht einmal das Recht hat, artikuliert zu werden. Dieser “Grundkonsens” (ich hadere mit dem Begriff, aber mir fällt gerade kein besserer ein) drückt sich dementsprechend in Gesetzgebung und Rechtsprechung, aber auch in anderen gesellschaftlichen Formen wie ehedem der “Brandmauer”, in schulischen Lehrplänen oder auf großen Demos in Slogans wie “Alle Zusammen Gegen den Faschismus!” aus.
Dieser “Grundkonsens” bedeutet, dass Sätze wie “ab 20 (o.ä.) Prozent darf man eine Partei nicht mehr verbieten, das ist undemokratisch” zwar aus demokratietheoretischer Perspektive nicht völlig falsch sind, aber wir leben nunmal nicht in einer theoretischen Demokratie, sondern in einem Land mit einer realen faschistischen Geschichte, die sich auf gar keinen Fall wiederholen darf, weshalb “Antifaschismus” in Deutschland nicht unterhalb der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern neben ihnen steht, und im Zweifelsfall (im antifaschistischen Verteidigungsfall) auch über ihnen. Wenn halt “nie wieder” getriggered wird.
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Unionsstrategien
Warum will Spahn diesen Konsens jetzt aufbrechen? Naja, weil das Land – wie die Welt – gerade hart nach rechts zieht (“Arschlochisierung” / Faschisierung), und zwar auf der molekularen, auf der gesellschaftlichen Basisebene. Dadurch, dass die Union (außer in Bayern) bisher keinen akzeptablen Koalitionspartner rechts von sich hat, müssen sie immer etwas weiter links regieren, als sie, ihre sich zunehmend arschlochisierende Basis und die rechtsrückende Gesellschaft eigentlich wollen, und wie es ihnen ein Land ohne Brandmauerreste auch ermöglichen würde. Dadurch, glaubt die Union (and I'm tempted to agree), verliert sie weiterhin Leute an die AfD, denn die Union hat einen viel rechteren Wahlkampf gemacht, als sie nun wahrscheinlich regieren wird, und das könnte enttäuschte rechte Konservative durchaus in die Arme der AfD treiben.
Also wird die Union versuchen müssen, so hart rechts wie möglich zu regieren, was wiederum bedeutet, dass die Koalition wohl kaum vier Jahre lang halten wird, es sei denn, eine sich selbst sarrazinierende SPD ließe das mit sich machen. Und in der Situation, die dann entsteht: Auflösung des Bundestags, Wahlkampf, neue Regierungsbildung, muss die AfD für die Union koalitionsfähig sein, oder zumindest: ausreichend koalitionsfähig, dass mit der Drohung einer schwarz-braunen (eventuell auch braun-schwarzen) Regierung andere mögliche Koalitionspartner*innen unter Druck gesetzt werden können – denn genau dieses Potenzial hat die Union gerade nicht, so versteht sie auch ihren scheinbaren Nichtdurchmarsch bei den Koalitionsverhandlungen. Deswegen wird die Union die AfD aus strategischen Gründen normalisieren, sie geht damit jetzt schon in die Daueroffensive (vgl. hier Wadephul zu AfD-Bundestagsausschussvorsitzenden (Abre numa nova janela)).
What's my point?
Mein Punkt ist, dass wir uns auf folgendes Szenario vorbereiten müssen: irgendwann zwischen 2027 und 2029 wird eine Wahl stattfinden, in der ein schwarz-braunes oder braun-schwarzes Bündnis die wahrscheinlichste Regierungsoption ist. Wer sich auf so etwas nicht vorbereitet, denkt vielleicht: naja, wenn die an die Macht kämen, bliebe ja bestimmt noch viel Zeit, um abzuhauen, um Notfallpläne zu machen, um „Widerstand“ zu organisieren, um, um, um... Das dachte sich Kilmar Ábregon García vielleicht auch, der sich legal in den USA aufhielt, dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von ICE-Agent*innen verhaftet und in Trumps extraterritorialen salvadorischen Gulag verfrachtet wurde, und jetzt dort sitzt, ohne eine realistische Chance, da bald raus, oder gar wieder zurück nach hause in die USA zu kommen.
Wenn der Faschismus kommt, kommt er oft schneller, als wir es erwartet haben, weil beim Faschismus die selben Verdrängungsdynamiken im Spiel sind, wie bei der Klimakatastrophe. Ich schlage vor: fangt an, davon auszugehen, dass Deutschland more likely than not spätestens 2029 von der AfD (mit-)regiert wird. Denn wenn Ihr Euch diese Annahme vergegenwärtigt und sie wirklich akzeptiert, werdet ihr sehr schnell sehen, dass das sowohl politische wie persönliche Strategien vollkommen verändert. Und es zeigt: solidarisches Katastrophenprepping muss ein absolut zentrales Element nicht nur der neuen Klimagerechtigkeits-, sondern auch neuer antifaschistischer Politik sein.
Wer glaubt, das sei alles wie so oft bei mir etwas zu dunkel, die sei daran erinnert: Deutschland braucht eine AfD, die es als nicht „faschistisch“ wahrnehmen kann, es muss sich einen Weg dahin bauen, die AfD NICHT als faschistisch framen zu müssen. Denn die unappetitliche Alternative wäre: anzuerkennen, dass der Faschismus organisch zu Deutschland gehört, dass er Pluralitäten, evtl sogar demokratische Mehrheiten organisieren kann, und dass die Möglichkeit seiner Machtergreifung besteht. Und das wäre dann einfach zu viel Scheitern, das kann die Gesellschaft nicht anerkennen. Also wird sie sich die AfD eher schönsaufen, als sie so zu bekämpfen, wie es einer faschistischen Partei gebührt: By. Any. Means. Necessary (Abre numa nova janela).
Denn gegen den Faschismus muss auch und gerade dann gekämpft werden, wenn er die gesellschaftliche Machtfrage stellt. Wie er es gerade im Moment tut. Auch dank solcher Volksgenossen wie Jens Spahn.
Miti antifaschistischen Grüßen,
Euer Tadzio