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Wenn die Feder zu Fehde wird: Über kulturelle Aneignung

Ich wollte eigentlich etwas über kulturelle Aneignung (cultural appropriation) schreiben – aber es ist mir zu kompliziert. Hintergrund ist natürlich der „Indianer-Eklat“ im Ravensburger Verlag. Die haben die fast schon ruhmreiche Aktion geschafft, einen doppelten Shitstorm abzubekommen (wissenschaftlich: Feces duplici).

Erst wird kritisiert, dass sie ein Buch über Winnetou, den jungen Indianerhäuptling veröffentlichen möchten. Dann, freilich von einer anderen Seite, dass sie das Buch nun doch nicht mehr herausbringen wollen. Niemand darf es erblicken. Besser versteckt als der Schatz im Silbersee soll es fortan werden. Dabei ist es nicht ganz unerheblich, dass den Verlag dazu niemand gezwungen hat, sondern Ravensburger nach der Kritik selbst diesen Schritt gegangen ist. Man sei zu unsensibel gewesen. Recht unsensibel reagieren darauf natürlich die üblichen Verdächtigen in den sozialen Netzwerken und finden das alles dann ein bisschen ZU sensibel UND LASSEN SICH IHREN KARL MAY NICHT VERBIETEN!!!!1!!!!! Und über all dem schwebt wie ein Adler in der Prärie der Begriff „kulturelle Aneignung“.

Was ist denn noch mal genau kulturelle Aneignung? Wikipedia sagt:

Im engeren Sinn wird als „kulturelle Aneignung“ angesehen, wenn Träger einer „dominanteren Kultur“ Kulturelemente einer „Minderheitskultur“ übernehmen und sie ohne Genehmigung, Anerkennung oder Entschädigung in einen anderen Kontext stellen.

Dabei wird meines Wissens noch mal deutlich schärfer geurteilt, wenn diese Aneignung kommerziellen Interessen dient.

Noch mal kurz zum Verständnis: Pizza ist zum Beispiel keine kulturelle Aneignung, weil die Italiener keine unterdrückte Minderheit sind. Carbonara mit Kochschinken und Sahne ebenfalls nicht – auch wenn da viele Italiener protestieren würden. Wenn aber die Modefirma Chanel einen Bumerang für 1250 Euro auf den Markt bringt, wie sie es 2017 idiotischerweise tat, sieht es schon etwas anders aus. Hier wird die Errungenschaft einer unterdrückten Minderheit (Aborigines) ganz klar kommerzialisiert. Aber leider ist es nicht immer so leicht wie in diesem Fall. Stichwort: Kinder spielen „Indianer“.

Ich vertrete in dieser Debatte mal wieder einen heutzutage kaum noch denkbaren, radikalen Standpunkt: Ich weiß ja auch nicht so genau. Ich glaube, ich bin vor allem verwirrt, weil ich nicht weiß: Wo fängt es an, wo hört es auf – und vor allem – wer bestimmt diese Grenzen. Aktuell habe ich das Gefühl, die Grenzen werden hauptsächlich von Internet-Aktivisten*innen bestimmt, die sich viel häufiger als die wirklich Betroffenen zu Wort melden. Vielleicht sollten wir genau dort in Zukunft viel besser zuhören.

Bis dahin bleibe ich leicht verwirrt. Einerseits kann ich schon verstehen, dass man als Angehöriger der indigenen Völker Amerikas jetzt nicht unbedingt begeistert ist, wenn jemand zum Karneval als „Sexy Pocahontas“ erscheint oder Alexander „Superstar“ Klaws bei den Karl-May-Spiele in Bad Segeberg mit sieben Kilo Schminke im Gesicht im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht, den Winnetou zu mimen.
Andererseits scheint es mir auch übertrieben, das Kriegsbeil auszugraben, nur weil beim Kita-Fasching der vierjährige Häuptling Ole-Sören vom Stamm der Helikopter sich zwei Federn in das verlauste Haar stecken lässt. Man muss ja nicht aus jeder Feder eine Fehde machen.

Anderes Beispiel: Der Musiker Gentleman darf anscheinend seit Jahrzenten Reggae spielen, weil er keine Rastas trägt. Würde er sich diese hingegen solche wachsen lassen, wobei ich bezweifeln würde, dass er das noch kann, wäre das möglicherweise kulturelle Aneignung und ihm drohen Konzertabsagen wegen Haupthaar – so wie neulich erst einer Schweizer Reggae-Band. Da hatte die Rastafahndung hart zugeschlagen.

Gut, Konzertverbot für Gentleman würde ich persönlich sehr unterstützen. Wegen mir auch wegen Rastas. Aber ist seine Musik nicht allein schon kulturelle Aneignung? Er hat eine Menge Geld verdient mit dem, was Jamaikaner erfunden haben.

Und was ist mit Rap? Waren die fantastischen Vier, die käseweißestens Schwaben, die man sich überhaupt vorstellen kann, überhaupt berechtigt, HipHop in Deutschland zu kommerzialisieren? Apropos „käseweiß“: Das erste Nummer-Eins-Album des amerikanischen Rap im Jahr 1987 war noch mal von wem? Genau, Beastie Boys. Vom Teint her auch eher nicht die klassischen Afro-Amerikaner.

Und was wäre zum Beispiel, wenn 75 Prozent der Jamaikaner folgender Aussage zustimmen würden: Jeder auf der Welt darf Reggae spielen und sogar damit Geld verdienen.

  • Erste Frage: Darf das jeder Jamaikaner entscheiden oder nur die, die Reggae spielen?

  • Zweite Frage: Hätte ein weißer Mensch damit das Recht, Reggae zu spielen oder würde er sich gegen den Willen von 25 Prozent der Jamaikaner stellen?

  • Dritte Frage: Darf sich eine Mehrheit von 75 Prozent der Jamaikaner überhaupt über die anderen 25 Prozent hinwegsetzen?

  • Vierte Frage: Was wäre, wenn nur ein Jamaikaner etwas dagegen hat, alle anderen aber nicht?

  • Fünfte Frage: Wie können wir denn nun endlich die furchtbare Musik von Gentleman für immer verbieten?

Klingt ein wenig, als würde ich mich über das Thema lächerlich machen. Das mache ich nicht. Ich finde es nur ausgesprochen kompliziert. Was ist, wenn eine Minderheit ausdrücklich sagt, dass ihr Kulturgut um die Welt reisen soll und benutzt werden darf – und wer entscheidet das?

Es gibt durchaus wichtige Errungenschaften in dieser Debatte. Außer den üblichen Verdächtigen wie Oliver Pocher würde heute kaum noch jemand auf die Idee kommen, sich das Gesicht schwarz anzumalen. Andererseits: Was macht eine Schulklasse, die Shakespeares Othello spielen möchte und nur picklige, weiße Jungs im Angebot hat? Gut, vermutlich vielleicht einfach ein anderes Stück wählen. Der gute William hat ja noch zwei, drei andere geschrieben. Romeo und Julia, Hamlet, Herr der Ringe … usw.

Ich will nur sagen: Es ist nicht ganz einfach. Ich verstehe, dass Kulturen auf ihre Errungenschaften stolz sind und verstimmt reagieren, wenn andere daraus Kapital schlagen. Ich verstehe aber auch, dass Kultur seit Jahrtausenden davon lebt, dass sie durchmischt und immer wieder geremixed wird.

Als Aborigine hätte ich auch wenig Verständnis für den Chanel-Bumerang. Als Vater hingegen freue ich mich, mit meinem Kind vielleicht irgendwann mal einen Bumerang zu werfen. Und vielleicht kaufe ich den einfach nicht bei Chanel, wie meine bisherigen Bumerangs, sondern bei einem Online-Versand von australischen Ureinwohnern. Schon jetzt keinen Bock auf das Porto – aber trotzdem! Einen Bumerang kann man ja notfalls auch immer zurückschicken. Lol.

Die Hauptsache ist doch, dass wir es irgendwie schaffen, weltweit gut, wertschätzend, fair und zufrieden zusammenzuleben – und dass Gentleman möglichst wenig Musik macht. Im Zweifel müssen wir halt auf das hören, was die unterdrückte Minderheit zu diesem Thema sagt. Und nicht auf das, was Walter aus München empört auf Facebook kommentiert.

Nun habe ich doch noch etwas über cultural appropriation geschrieben. Ich fürchte fast, ich habe mir das Thema angeeignet. Aber immerhin habe ich keinen Reggae-Song daraus gemacht.

Inna di morrows

Peter

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