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Es gibt eine Entwicklung, die ich in der deutschen Geschichte nie verstanden habe: Warum wurde unserem Land damals so schnell „verziehen“? Vielleicht ist „verzeihen“ auch das falsche Wort. „Vergessen“ ist definitiv das falsche Wort. Aber es ging nach dem Ende des zweiten Weltkrieges alles relativ schnell relativ normal weiter. Nicht in den ersten fünf Jahren. Aber so ungefähr ab Mitte der Fünfziger Jahre.

Wenn ich recht erinnere, hat man uns das in der Schule auch ungefähr so beigebracht. Es gab zumindest in meinen Geschichtsstunden eine recht intensive Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Weimarer Republik, Machtergreifung, Reichskristallnacht, Judenverfolgung, Blitzkrieg, zweiter Weltkrieg,  Konzentrationslager, Alliierte, Selbstmord, Kapitulation.

Danach dann eine Phase der Verwirrung. Zerstörung, Hunger, Kriegsverbrecher-Prozesse, Wiederaufbau, Trümmerfrauen, Marshall-Plan, Kriegsrückkehrer, Gründung der BRD.

Aber dann auch ganz schnell: Wirtschaftswunder, Ludwig Erhard und vor allem: Das Wunder von Bern. 1954. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Toooor. Deutschland ist Weltmeister. Wir sind wieder wer!

„Die Deutschen berappelten sich, ihr Selbstwertgefühl, nach Nazi-Greuelzeit und Weltkriegsniederlage auf dem Tiefpunkt, bekam Auftrieb.“ (Spiegel online (Öffnet in neuem Fenster))

Die industrielle Vernichtung von Millionen Menschen war keine zehn Jahre vorbei. Aber ab diesem Zeitpunkt war anscheinend wieder einiges okay. Toast Hawaii auf dem Teller, mit dem Käfer nach Italien und aus dem Hintergrund müsste Caterina Valente „Ganz Paris träumt von der Liebe“ singen. Da machten ehemals hohe Nazis in wichtigen Ämtern doch nicht so viel aus.

Die Welt hatte Deutschland nicht verziehen, aber das Land war anscheinend „too big to fail“. Genau das habe ich nie verstanden. Nach einem so unfassbaren Verbrechen wie dem Holocaust. Ich hatte immer Verständnis für den „Morgenthau-Plan“. Also das Vorhaben des US-amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau, Deutschlands in einen Agrarstaat umzuwandeln, so dass es nie wieder einen Angriffskrieg führen könne.

Es kam bekanntlich alles anders.

Doch an diesen Teil der deutschen Geschichte denke ich manchmal, wenn ich an Russland denke. Natürlich will ich nicht den Krieg in der Ukraine mit dem zweiten Weltkrieg vergleichen. Wie auch lässt sich das deutsche Gräuel mit irgendetwas vergleichen? Aber wie wir alle wissen, führt Russland einen unbarmherzigen Angriffskrieg mitsamt schwerer Kriegsverbrechen.

Ich frage mich, welchen Platz wird Russland nach dem Krieg in der Welt finden?
Wenn dieser Krieg überhaupt endet. Und wenn er endet, wird natürlich viel davon abhängen, wer ihn „gewonnen“ hat.

Aber unabhängig davon: Wie werden wir ihn fünf, zehn oder zwanzig Jahren auf Russland blicken? Ebenfalls too big to fail? Werden sich die Beziehungen wieder „normalisieren“? Werden wir sagen, dass war das Putin-Russland, das neue Russland ist anders? Oder wird Russland auf sehr lange Zeit eine Persona non grata bleiben? Wird Zeit meines Lebens etwas mitschwingen, wenn ich das Wort "Russland" höre.

Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es nicht.

Ich besitze ein „Tagebuch der Tagebücher (Öffnet in neuem Fenster)“. Eine Sammlung von Einträgen diverser berühmter Menschen über mehrere Jahrhunderte. Es hat mich immer irritiert, wie merkwürdig es klingt, wenn dort „vom Krieg“ gesprochen wurde, der irgendwo in der Nähe herschte. Menschen kämpften dort um ihr Leben,  während andere eben Tagebuch schrieben und Abends zum Dinner ausgingen. Nun klingt es nicht mehr so irritierend. Fast normal. Guten Abend. Hier ist die Tagesschau. Das Geschehen in der Ukraine … die Inflation ... die Corona-Zahlen … Fussball … und nun zum Wetter.  

Ich konnte mir diesen Krieg nicht vorstellen – und nun kann ich mir nicht vorstellen, wie es nach diesem Krieg sein wird.

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