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Die Erzählung vom Volkswillen

Eine skandierende Menge hält Schilder hoch, auf denen der Satz steht: "Wir sind das Volk".

Hallöchen,

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Pünktlich zum Start hat der Verfassungsschutz den Landesverband der AfD Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Der Spiegel schreibt dazu: “Führende Vertreter bedienten sich einer dämonisierenden Wortwahl, indem sie Migranten beispielsweise als ‘Invasoren’, ‘Eindringlinge’ oder ‘kulturfremde Versorgungsmigranten’ diffamierten.”

Bleib achtsam! 💪

Johannes & Maria

Ein Banner, der als Text-Trenner fungiert. Er zeigt die Worte des Folgeabschnitts: "Worte, Narrative, Kontext"

Das ist der aktuelle Part unseren Newsletters: Hier erklären wir jede Woche das Narrativ hinter einem aktuellen Zitat.

Worum geht’s diesmal?

“Unsere Welt in Unordnung und wir mittendrin.“ So beginnt das sogenannte “Bild-Manifest (Öffnet in neuem Fenster)”. Es ist eine Reaktion der Zeitung auf eine „neue Dimension des Hasses auf Deutschland“. Der sei bei pro-palästinensischen Demonstrationen auf die Straße getreten und zeige, dass es hierzulande viele Menschen gebe, die „unsere Art zu leben bekämpfen“.

Wie diese Art zu leben genau aussieht, hat die Bild in 50 Punkten aufgeschrieben. Sie sollen zeigen, wie “wir” sind und was “wir” wollen, was unsere Gesellschaft also im Kern ausmacht und zusammenhält.

Wer spricht da?

Im “Bild-Manifest” werden keine einzelnen Sprecher:innen benannt. Die ganze Redaktion dieser Eindruck soll anscheinend erweckt werden – steht dahinter. Aber nicht nur. Die Bild formuliert ihre Punkte in einem vereinnahmenden “wir”, so als würde sie im Namen aller Deutschen sprechen und sich dabei an eine andere Gruppe richten – an wen, wird allerdings nicht gesagt.

Nun kann man uns fragen: Warum nehmt ihr euch die Bild vor? Warum gebt ihr der Zeitung auch noch Reichweite? Warum durchschaut ihr nicht, dass dieses Medium nur eins will: verkaufen?

Die Fragen sind berechtigt und trotzdem ist es wichtig, die Bild nicht als irrelevant, als “ist ja klar, dass die sowas schreiben” abzutun und zu glauben, dass das, was sie schreiben, nicht gelesen oder nicht unterstützt wird.

Die Bild hat eine Auflage von über 1 Million (Öffnet in neuem Fenster) jeden Tag von Montag bis Samstag und eine Reichweite von 6,9 Millionen. Das heißt, jede:r 12. Deutsche liest Bild – in Print-Form. Die Anzahl der Visits von bild.de lagen im September bei knapp 500 Millionen (Öffnet in neuem Fenster) (die Zahlen für Oktober liegen nocht nicht vor.)

Das Narrativ dahinter

Viele Medienschaffende haben sich in den vergangenen Tagen mit dem sogenannten “Manifest” auseinandergesetzt (Öffnet in neuem Fenster), die Punkte debattengecheckt (Öffnet in neuem Fenster), enthaltene Widersprüche und Doppelmoral offengelegt (Öffnet in neuem Fenster).

Auch wir nehmen uns das “Manifest” vor, weil darin ein rhetorischer Taschenspielertrick (Öffnet in neuem Fenster) steckt: der Erzählung vom einheitlichen Willen des Volkes.

Das ist die Idee, alle Menschen einer Nation hätten bei einer Frage nur einen Willen und ein klar zu bestimmendes Interesse, sie teilten dieselben Werte und Überzeugungen.

Was ist gut? Was ist böse? Was richtig? Und was falsch?

Dabei gibt in Deutschland eine Instanz viele Antworten auf solche Fragen: das Grundgesetz. Und ja, darauf bezieht sich auch die Bild in ihrem “Manifest”, indem sie ihre 50-Punkte-Liste mit Artikel 1 des Grundgesetzes beginnt:

“Die Würde des Menschen ist unantastbar.”

Nur folgen danach viele Punkte, die eben nicht juristisch geregelt sind, sondern vielmehr kulturell ausdiskutiert werden müssen – die also keineswegs festgelegt sind einer vielfältigen Gesellschaft.

Doch laut Bild ist Deutschland ein Land der Griller und Schweinefleischesser (gegendert wird bei Bild nicht), in dem es keine Ungläubigen gibt, in dem die Menschen nach dem Picknick im Park ihren Müll wieder mitnehmen, keine Messer in ihren Hosentaschen tragen, sich aber die Hand reichen.

Die Bild gibt also vor, genau zu wissen, was “uns” ausmacht und wie “unser” Zusammenleben organisiert sein muss, damit es keine Unordnung gibt.

Warum macht sie das? Um Identität zu stiften: Die Bild will sich als Teil des Volkes darstellen. Denn den Volkswillen kann nur formulieren, wer dazugehört. Damit begibt sie sich in Gesellschaft der AfD, die ebenfalls regelmäßig von sich behauptet, genau zu wissen, was das Volk möchte.

“Rechtspopulisten verkaufen sich selbst als Teil des ‘Wir’, das den ‘anderen’ gegenübergestellt wird. Sie ernennen sich zum Sprachrohr des Volkes und zu Vertretern seiner wahren Interessen.”

Das schreiben Thomas Niehr und Jana Reissen-Kosch in ihrem Buch “Volkes Stimme”. Die AfD bemüht regelmäßig die Erzählung vom Volkswillen, beispielsweise auf der Webseite des Landesverbands NRW. Dort steht:

“Deutschland braucht Politiker, die den Volkswillen erfüllen! (Öffnet in neuem Fenster)

In dieser Aussage steckt: Der Volkswille wird derzeit nicht erfüllt.

Daraus folgt: Die regierenden Politiker:innen handeln “gegen das Volk”.

Sehr viel genauer hat das der Sprachforscher David Lanius herausgearbeitet. Er nahm sich dafür das Wahlprogramm der AfD 2017 vor und fand darin einen argumentativen Dreiklang, der immer wieder mit anderen Worten bedient wird:

  1. Deutschland steht vor dem Untergang.

  2. Es kann nur gerettet werden, wenn der Volkswille verwirklicht wird.

  3. Nur wenn die AfD an die Macht kommt, wird der Volkswille verwirklicht.

Die logische Konsequenz daraus wäre, dass die Gesellschaft nur gerettet werden könne mit einer AfD an der Macht.

Dass allein die AfD den Willen des Volkes zu kennen vorgibt und nur sie ihn auch verwirklichen will – im Gegensatz zu allen anderen Parteien – das ist ein “Alleinvertretungsanspruch”. Und der ist mit einer pluralistischen Demokratie schlicht nicht kompatibel (Öffnet in neuem Fenster).

Der Germanist Ekkehard Felder nennt den Volkswillen deshalb eine „Anmaßungsvokabel (Öffnet in neuem Fenster)“. Weil sie einen Zustand in Aussicht stellt, den es in der versprochenen Form gar nicht gibt – dass eben alle Menschen eines Volkes in einer Sachfrage nur einen Willen hätten, dieser Wille ermittelt und zuletzt auch erfüllt werden könnte.

Der sogenannte Volkswille ist ein Kernthema des “Bild-Manifests”. Indem sich die Zeitung dieser populistischen Erzählung anschließt, auch wenn sie sie nicht ausspricht, hilft sie extremen Kräften das Narrativ zu normalisieren und es argumentativ zu stärken.

Auf diesem Trenn-Banner steht "Was andere tun"

In diesem Abschnitt stellen wir euch Institutionen, Verbände oder Vereine vor, die sich mit der Arbeit gegen Rechts beschäftigen und die ihr natürlich unterstützen könnt. Um den Newsletter nicht zu überfrachten, kommt dieser Teil in Zukunft im Wechsel mit unseren Empfehlungen. 👇

Für unseren ersten Newsletter hat uns Anna-Lisa Apprecht, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit & Social Media bei der VBRG (Öffnet in neuem Fenster), geantwortet. 🙏

Das Logo des Vereins VBRG, Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V.

WRR: Was zeichnet eure Arbeit beim VBRG besonders aus?

Anna-Lisa Apprecht: Der VBRG besteht aus einem breiten Netzwerk mit 17 Beratungsstellen in ganz Deutschland, die langjährige Erfahrungen mitbringen. Sie unterstützen die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vor Ort und begleiten sie dabei, die Folgen eines Angriffs zu überwinden. Dabei stehen wir parteilich an ihrer Seite und stellen ihre Perspektiven bei unserer Arbeit an erste Stelle. Außerdem veröffentlichen wir jedes Jahr eine unabhängige Statistik, die das umfassendere Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sichtbar macht.

WRR: Worin besteht deiner Meinung nach die größte Gefahr von Rechts? 

Apprecht: Eine große Gefahr ist die deutliche gesellschaftliche und politische Diskursverschiebung nach rechts. Sie trägt dazu bei, dass rechte, rassistische und antisemitische Ideologien normalisiert und verharmlost werden. Eine solche Normalisierung macht das Leben vieler Menschen unsicherer, denn sie bereitet einen Nährboden für Gewalttaten. Auch mangelnde Konsequenzen für Täter:innen – bis hin zur Straflosigkeit – führen zu einer gefährlichen Normalisierung rechter Gewalt.

WRR: Welche Unterstützung wünscht ihr euch? 

Apprecht: Wir wünschen uns, dass die Stimmen und Erfahrungen Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt immer Mittelpunkt stehen – in der Öffentlichkeit, bei Behörden und Politiker:innen. Es ist wichtig, dass jede:r einzelne im Alltag Solidarität zeigt und sich Gewalt und rechten Diskursen entgegenstellt. Außerdem braucht es dringend Spenden für Menschen, die bereits angegriffen wurden. Dafür haben wir den Opferhilfefonds eingerichtet:

👉 verband-brg.de/opferhilfefonds (Öffnet in neuem Fenster)

Ein Banner, der als Text-Trenner fungiert. Er zeigt die Worte des Folgeabschnitts: "Wer mehr will"

Wer mehr will – mehr Information, mehr Inspiration, mehr Social Media-Empfehlungen – bekommt hier im Wechsel mit der Vorstellung der Vereine, Verbände, Institutionen von uns noch ein Extra.

Im ersten Newsletter wollen wir euch Susan Beneschs “Dangerous Speech Project” (Öffnet in neuem Fenster) ans Herz legen. Benesch arbeitet an der Harvard University und befasst sich dort mit Gefährlicher Sprache – auch in Abgrenzung zur bekannteren Hassrede. Beneschs These: Gefährliche Sprache erhöht die Wahrscheinlichkeit für physische Gewalt. Das hat sie auch an historischen Gewaltausbrüchen in unterschiedlichen Ländern analysiert und überprüft. Für weitere Infos – hört in den Audio-Beitrag rein. ⤵️

Auf diesem Trenn-Banner steht: Wir haben Fragen.

Wir wollen mit euch ins Gespräch kommen und uns stetig verbessern.

Deshalb hier zwei konkrete Fragen:

👉 Wir denken darüber nach, den Newsletter als Audio-Datei einzulesen, um ihn für unterwegs konsumierbar zu machen. Was haltet ihr von der Idee? Welches Format würde euch da eher ansprechen: ein lockeres Gespräch oder den Newsletter 1:1 eingelesen? Was ganz anderes?

👉 Ihr kennt Vereine in eurer Gemeinde, eurem Dorf, eurer Stadt oder sonstwo in Deutschland, die sich gegen Rechts engagieren? Wir würden sie gern vorstellen. Über eure Empfehlungen freuen wir uns!

Ihr habt andere Anmerkungen, Fragen, Wünsche, Ideen - meldet euch: wierechtereden@proton.me (Öffnet in neuem Fenster) lautet unsere E-Mail-Adresse.

Schön, dass du dabei bist! Danke fürs Lesen!

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