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Gleichheit und Individualismus

Oft werden die beiden Werte als Widerspruch gehandelt. Dabei sind sie untrennbar verbunden.

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Die Einschätzung der Gleichheit ist wahrscheinlich das wesentliche Unterscheidungscharakteristikum zwischen „Rechts“ und „Links“, zwischen Konservativen und Progressiven. Die Konservativen sehen die Gesellschaft als hierarchische Ordnung, mit einer Elite an der Spitze, der „Eigenschaften zugeschrieben werden, die für die Rechtfertigung ihrer Macht eine Rolle spielen“ (Ted Honderich) . Wenn das Bildungssystem krankt, dann wollen sie Eliteförderung – als würde dies die Ausbildungschancen für die große Mehrzahl der Gesellschaft irgendwie verbessern. Wenn der Wirtschaftsmotor stottert, dann sind sie gewiss, dass die Anreize und Belohnungssysteme für die „Tüchtigen“ nicht gut genug funktionieren. Kurzum: Eine in Macht, Einkommen und Chancen scharf different strukturierte Gesellschaft ist in ihren Augen gerechter und funktionstüchtiger. Progressive dagegen sind Egalitarier. Das heißt nicht, dass sie eine Gesellschaft anstreben, „in der alle Individuen in allem gleich sind“, bemerkte der italienische Philosoph Norberto Bobbio in seiner berühmte Studie „Rechts und Links“, aber dass sie danach streben, „die Ungleichen etwas gleicher werden zu lassen“. Bobbio: „Der Egalitarier geht von der Überzeugung aus, dass der größte Teil der Ungleichheiten, die ihn empören und die er verschwinden lassen möchte, sozialer Art und als solche auch ausmerzbar sind.“ Auch wenn Progressive nicht alle Ungleichheiten einebnen wollen, so war „das Ideal der Gleichheit immer der Polarstern“ für die Linke, „den sie angeschaut hat und weiterhin anschaut.“

Dass der Frontalangriff der Gleichheitsfeinde in den vergangenen fünfunddreißig Jahren so erfolgreich sein konnte, ist durchaus erstaunlich. Denn grundsätzlich ist das Gleichheitsideal allgemein anerkannt. Die allermeisten Menschen wollen nicht ungleich behandelt werden und haben einen wachen Instinkt für Ungerechtigkeiten. Der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin hat das vor vielen Jahren mit einer eindringlichen Metapher illustriert: „Die Behauptung ist, dass Gleichheit keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn ich einen Kuchen besitze und es zehn Personen gibt, unter denen ich aufteilen will, dann entsteht nicht automatisch ein Rechtfertigungsbedarf, wenn ich jeder Person einen Zehntel des Kuchens zukommen lasse. Wenn ich jedoch von diesem Grundsatz der Gleichverteilung abrücke, wird von mir erwartet, besondere Gründe dafür anzugeben.“ Das heißt nicht, sich ungleiche Verteilung nicht rechtfertigen ließe: der kräftige Papa soll mehr bekommen, weil er mehr körperliche Arbeit vollbringt, mehr für die Familie leistet; oder, umgekehrt, dem schwächsten Mitglied der Tischgesellschaft gebührt ein besonders großes Stück, damit es zu Kräften kommt. Aber es braucht für die Ungleichverteilung eben besondere Argumente – die Gleichverteilung benötigt diese nicht. Dass sie gerecht ist, versteht sich von selbst.

Nun lässt sich nur schwer behaupten, dass das Gleichheitsideal an Überzeugungskraft verloren hat. Eher das Gegenteil ist der Fall: Vor hundert, zweihundert Jahren, als die Menschen noch in ihren traditionellen Gesellschaften lebten, mit Königen, Fürsten, Aristokraten oben, den einfachen Leuten unten, waren die Bürger seit Generationen darauf trainiert, diese Ordnung anzuerkennen. Es kam zwar zu Rebellionen und Revolutionen, wenn die Lage der Unterprivilegierten allzu drückend war, aber ganz generell war die hierarchische Ordnung eher respektiert. Heute ist das nicht mehr der Fall. „Meiner Ansicht nach“, schreibt etwa die Londoner Philosophieprofessorin Anne Phillips, „ist den Menschen die Frage der Gleichheit eher wichtiger geworden. Sie bestehen nachdrücklicher darauf, als Gleiche behandelt zu werden (,Wieso glaubt er, etwas besseres zu sein als ich?’; ‚Woher nimmt er das Recht, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe?’), sie sind weniger bereit, eine untergeordnete Position zu akzeptieren.“

Dennoch ist „Gleichheit“ verpönt. Schon das Wort sorgt heute für einen seltsamen Widerwillen. Klar: Differenz ist spannend, Gleichheit fad. Mainstream, also genauso wie die anderen, will keiner sein, jeder pocht auf seine Einzigartigkeit als Subjekt. Nicht nur die westeuropäischen Sozialdemokratien haben ihr Gleichheitsideal deshalb verschämt in den Keller geräumt, auch unter hipperen Progressiven hat die Gleichheit einen schlechten Stand: Im weiten Feld unorthodoxer Gesellschaftskritik, der Blase aus Postmarxisten, Kulturlinken und postmoderner Diskursjockeys, beschäftigt man sich seit zwanzig Jahren vornehmlich mit Phänomenen von Differenz, Culture Jam, mit Gender und distinkten Identitäten, dem Zusammenprall und auch der fröhlichen Vermischung von Unterschiedlichkeiten. Der Verteidigung des Gleichheitsideals ist das nicht nur förderlich, auch wenn in diesen Kreisen natürlich der Fluchtpunkt der Differenzkultur lautet, dass allen in ihrer Unterschiedlichkeit gleicher Respekt gebührt. Aber auch in diesen Milieus ist man durchaus empfänglich für das Argument, dass das Gleichheitsprinzip in einer Spannung zum Freiheitsprinzip steht: der Freiheit, seine Differenz leben zu dürfen, ohne in ein Gehäuse der Konformität gepresst zu werden. Die zeitgenössischen Debatten, die die avancierte Sozialwissenschaft über „Gerechtigkeit“ führt, nehmen diese Probleme auf und versucht Gerechtigkeitsprinzipien zu formulieren, die dies in Rechnung stellen. Gerecht sei eine Gesellschaft, die allen ein gutes Leben garantiert, unabhängig davon, wie dieses Leben in Relation zu anderen Leben steht, lautet ein solches Prinzip. Ungleichheit sei dann zu rechtfertigen, so das berühmte „Differenzprinzip“ des Sozialphilosophen John Rawls, wenn sie die absolute Position der am schlechtesten Gestellten anhebt. Also: Wenn mehr Gleichheit die Reichen ärmer, die Armen aber nicht reicher mache, dann müsse die Ungleichheit favorisiert werden. Sehr modern ist auch folgende These: Die Ungleichheiten der Chancen, so eine neuerdings unverzichtbare Wendung in sozialdemokratischen Sonntagsreden, sollten ausgeräumt werden, und zwar so weit wie möglich ohne Ungleichheiten im Ergebnis nachträglich zu korrigieren. Einfach deshalb, weil die nachträgliche Bekämpfung der Ungleichheit nur durch Umverteilung zu haben sei und die stoße nicht nur auf den Widerstand der Begüterten, sie demotiviere einerseits die Erfolgreichen, motiviere dagegen aber nicht die Erfolglosen, etwas gegen ihre Lage zu unternehmen, da sie ja ohnehin mit sozialstaatlichen Transferleistungen bedacht werden. „Begrenzte Ungleichheit“ solle akzeptiert werden, oder, anders gesagt, es gehe um „komplexe Gleichheit“, so der Sozialphilosoph Michael Walzer, denn schließlich könne und wolle man die Menschen nicht nur in einem existentiellen Sinn nicht gleich machen, man müsse auch von ungleichen Präferenzen, von einer Differenz in der Lebensphilosophie ausgehen, und die führe ja nicht nur zu unterschiedlichen Charaktereigenschaften, sondern auch zu einer distinkten Einkommenssituation. Soweit die von den Menschen bewusst gewählt ist, könne man sie schwer als ungerecht kritisieren. Kurzum: „Die Gerechtigkeitskultur ist so kompliziert wie das Leben selbst“ (Angelika Krebs).

Dass jemand, der sich dem Berufswunsch des Gedichteschreibers verschreibt, weniger Einkommen haben wird, als ein Investmentbanker, wusste der Betreffende schließlich schon, als er sich für die Dichterlaufbahn entschied.

Im Gleichheitsideal der Progressiven gibt es also, ebenso wie im Ungleichheitsprinzip der Konservativen übrigens, eine ganze Reihe von Widersprüchlichkeiten. Die Progressiven sind für Gleichheit, aber auch für Respekt vor der Differenz, die Konservativen für Ungleichheit, fordern aber gleichzeitig die Assimilation von Einwanderern an die „Leitkultur“ der Mehrheitsgesellschaft. Man könnte in beide Richtungen fragen: Wie, verdammt noch mal, geht das zusammen? Dennoch scheint mir das Egalitätsprinzip in jeder Hinsicht tragfähiger. Zunächst ist es ein moralischer Wert, was vor dem Hintergrund des konservativen Insistierens auf die „Werteorientierung“ nicht unerheblich ist. Wie denn, bitte schön, könne man die Ungleichheit mit dem zynischen Hinweis auf ihre soziale Funktionalität oder auf den Umstand, dass sie einfach nicht auszurotten ist, mit dieser Werteorientierung verbinden? Wenn man sich als von Werten geleitet versteht, dann muss ein moralisches Prinzip doch wohl auch hoch gehalten werden, selbst wenn es sich in der sozialen Wirklichkeit manchmal als schwierig zu realisieren erweist. Zynismus oder der kühle Hinweis auf die „Realität“ passt kaum zum Wertejargon. Es zeigt sich auch hier wieder einmal das taktische Verhältnis der Konservativen zu „Werten“, die sie nur solange hoch halten, so lange sie ihnen nützen. Also, damit das nicht in Vergessenheit gerät: Die Gleichheit, zumindest die weitgehende Gleichheit elementarer Lebenschancen, ist ein hoher ethischer Wert, der nicht so schnell am Altar der Nützlichkeit geopfert werden kann.

Aber sie ist mehr als das: Denn die Ungleichheit ist, anders als die konservativen Prediger uns Glauben machen wollen, keineswegs nützlich. Relative Gleichheit hat sich historisch als durchaus funktional erwiesen – funktionaler als grobe Ungleichheiten. Seinerzeit, als die Ungleichheiten nach und nach geringer wurden, entstand ein breiter Mittelstand, konnten Familien ihren Kindern eine bessere Ausbildung garantieren, als sie sie selber noch genießen durften, es wuchs die gesellschaftliche Nachfrage nach Gütern, es stiegen die Fertigkeiten der breiten Masse, was sich als Voraussetzung für eine wissensbasierte Ökonomie erwies. Resultat: Die Wirtschaft brummte, die Wachstumsraten waren kontinuierlich stabil. Niedrige Löhne für die Schwachen, sinkende Steuern für die Reichen und die Unternehmen führen eben nicht zu mehr Prosperität, sondern erzeugen soziale Kosten. Gerade relative Gleichheit ist die Voraussetzung für die Mobilität, die dynamische Gemeinwesen benötigen. Ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit und Teilhabe am Reichtum ist Voraussetzung dafür, dass jemand Risiken eingehen oder einfach seine Talente entwickeln kann, argumentiert der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel: „Kann ein Arbeiter, von dem man Flexibilität erwartet, vielseitige Einsatzbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein, Eigeninitiative und die Fähigkeit, sich ständig an Veränderungen anzupassen, all dies ohne ein Mindestmaß an Absicherung überhaupt leisten?“, fragt Castel. Die Erosion des Wohlfahrtsstaates und die Ausbreitung von prekären Lebenssituationen führt eben nicht zu „weniger Kollektivismus“ und „mehr Individualismus“, wie uns die neuen Konservativen Glauben machen wollen. Und umgekehrt war auch der Sozialstaat die Vorbedingung für die zeitgenössische Individualisierung, wenn man so will, für eine „Massenindividualität“, wie Robert Castel in Anlehnung an Marcel Gauchet ausführt: „So wie der klassische Wohlfahrtsstaat einen Klassenkompromiß bewerkstelligt, genauso treibt er zugleich auch die Individualisierung voran. Wenn man die Individuen mit einem so vorzüglichen Fallschirm ausstattet, wie ihn die Gewissheit der Fürsorge darstellt, dann ermöglicht man ihnen, sich in allen erdenklichen Lebenssituationen von den Gemeinschaften, allen möglichen Zugehörigkeiten, angefangen bei den elementaren Solidaritäten der Nachbarschaft, abzunabeln; aufgrund der Sozialversicherung habe ich ja die Hilfe meines Treppennachbarn nicht mehr nötig. Der Wohlfahrtsstatt ist ein mächtiger Faktor des Individualismus.“ Es ist, fügt Castel hinzu, durchaus „paradox … Man lebt und erlebt seine eigene Individualität um so leichter, wenn sie sich auf objektive Ressourcen und kollektive Sicherheiten stützt“.

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