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Die Rhetorik der Reaktion

Der große Albert O. Hirschman über die ewig gleichen Muster konservativer Argumente.

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Ein zentraler Standard der Rhetoriken der Reaktion ist, dass Maßnahmen, die für alle offenkundig gute Resultate zeitigen, in Wirklichkeit negative Folgeeffekte zeigen, die dann das gewünschte Gute in ihr Gegenteil verkehren. Heute begegnen wir diesen Argumentationsmustern wieder an allen Ecken, vor allem dann, wenn gefordert wird, dass in die inflationäre Preisbildung eingegriffen wird oder etwas gegen die Verarmung der Menschen unternommen werden solle.

Wird die Erhöhung des Arbeitslosengeldes und der Mindestsicherung gefordert oder auch nur Armutsbekämpfung für Kinder, dann wird erwidert, das würde die Faulheit begünstigen und den Druck reduzieren, sich Arbeit zu suchen. Würde man Kindern helfen, wäre das eine Belohnung für verantwortungslose Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern. Würde man Preise regulieren, dann wären die wichtigen Preissignale auf den Märkten sistiert, und damit würden etwa Investitionen nicht automatisch in jene Unternehmen oder Sektoren fließen, die am Besten und Effizientesten wirtschaften. Würde man Mindestlöhne erhöhen, dann würden Niedrigqualifizierte keine Arbeit mehr finden, die Arbeitslosigkeit würde steigen und am Ende habe man den armen Schluckern mehr geschadet als genützt. Würde man Mieten regulieren und eine Wohnkostenbremse einziehen, dann würden weniger Wohnungen gebaut und es gäbe erst recht Wohnungsnot und in Folge dann noch höhere Mietpreise. Man kann eine ewig lange Liste aufzählen an Argumenten mit einer hohen Schlagseite ins Schlaumeierhafte, mit der Konservative, Rechte und Neoliberale begründen, warum man in einer x-beliebigen Situation nichts tun solle, was normalen Menschen helfen und Profitmöglichkeiten der Gewinnertypen und Geldleute begrenzen könnte.

Das gehört seit jeher zum Standard in der „Rhetorik der Reaktion“: Dass die Programme der Sozialfürsorge etwa die Armut verbreiten, „statt sie zu vermindern“, dass jeder Schuss nach hinten los geht. Der US-Soziologe und Ökonom Albert O. Hirschman hat schon mehr als vierzig Jahren diese argumentativen Muster seziert und zerlegt.

Ja, jener Hirschman, der lange Zeit vergessen war, und in jüngster Zeit durch die Netflix-Soap „Transaltlantic“ berühmt geworden war, jener Serie, die zeigte, wie Intellektuelle – André Breton, Victor Serge, Peggy Guggenheim, Marcel Duchamp – durch klandestine Widerstandsnetze aus dem nazibesetzten Frankreich in die USA geschmuggelt wurden. Hirschman, später ein großer Gelehrter in den USA, war als Widerstandkämpfer in Italien und im spanischen Bürgerkrieg und engagierte sich dann in den Rettungsnetzwerken im Untergrund, bevor er selbst ausreiste.

In seinem grandiosen Buch „Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion“ zeigt er, wie Konservative seit Jahrhunderten alle denkbaren Verrenkungen anstellen, um zu beweisen, dass man am ungerechten Gang der Welt am besten gar nichts ändere. Alle wohlfahrtsstaatlichen Leistungen habe man stets abgelehnt, heute wissen wir, dass diese einen ungeheuren Beitrag zur Stabilisierung der Ökonomie und zum Aufstieg der Unterprivilegierten und damit auch zur Zunahme des allgemeinen Qualifikationsniveaus leisteten; dass sie also nicht nur mehr Gerechtigkeit schufen, sondern zur ökonomischen Wohlfahrt und Prosperität von Volkswirtschaften beitragen. Dasselbe gilt für staatliche Planung, die etwa Investitionen in Zukunftstechnologien anschiebt, von der Eisenbahn über die Raumfahrt bis zum Internet. Und auch Preisregulierungen können die verheerenden Wirkungen von Preis-Schocks dämpfen, die sonst zu Pleitewellen führen würden.

Manche der von den Konservativen beklagten „unintendierten Nebenfolge“ sind übrigens ja auch durchaus wünschenswert. So wurde von den Konservativen immer angeführt, wohlfahrtsstaatliche Leistungen hätten einen Anteil am Zerfall von Familien. Weil man nicht ausweglos in unglücklichen Familien eingepfercht sei. Was ist, fragt Hirschman, so verdammenswürdig, wenn es einer „mittellosen Frau heute möglich ist, sich aus einer Ehe zu befreien, in der sie körperlich drangsaliert oder auf andere Weise misshandelt wird“?

Das zentrale Muster der reaktionären Rhetorik ist seit jeher, dass alle Versuche zur Weltverbesserung zur Weltverschlechterung führen. Konservative, erläutert Hirschman, haben dafür drei Thesen im Arsenal: die Sinnverkehrungsthese, die Vergeblichkeitsthese und die Gefährdungsthese.

„Der Sinnverkehrungsthese zufolge dient alles absichtsvolle Handeln mit dem Ziel, bestimmte Gegebenheiten der politischen, sozialen oder ökonomischen Ordnung zu verbessern, nur zur Verschlimmerung der Lage, die man bessern wollte. Die Vergeblichkeitsthese besagt, dass alle Anstrengungen zur Umgestaltung der Gesellschaft umsonst sind, dass sie einfach ‚nichts bewegen’. Die Gefährdungsthese schließlich unterstellt, dass Reformvorhaben oder Veränderungen des bestehenden Zustands … kostbare Errungenschaften gefährden, die ihnen vorausgegangen sind.“ Affirmative Action, also die behutsame Förderung von Menschen unterprivilegierter Schichten, führe nur dazu, dass deren Aufstieg abgewertet wird und diese sich nicht als Individuen, sondern ihren Gemeinschaften verpflichtet fühlen; Integration von Kindern aus bildungsfernen Schichten in gute Schulen führe nur dazu, dass deren Niveau sinkt; Förderung von Frauen im Berufsleben führe nur zum Sinken der Fertilitätsrate; die Einführung eines Mindestlohns führe entweder zum Bankrott von Firmen oder dazu, dass die teuren Mitarbeiter wegrationalisiert werden. „Sucht man nach Anschauungsmaterial dafür, dass die Folgen einer Maßnahme exakt beim Gegenteil dessen liegen können, was in der Absicht der Wohlmeinenden lag, die sich für sie eingesetzt haben, so lässt sich kein besseres Beispiel nennen, als das des gesetzlichen Mindestlohns“, erklärte etwa Milton Friedman, der Säulenheilige aller Neoliberalen (es gibt, dies nur nebenbei, kaum einen stichhaltigen empirischen Beleg für diese These). Eine fortschrittliche Arbeitslosenversicherung führe nur dazu, dass Menschen Arbeiten nicht annehmen, von denen sie finden, sie seien unter ihrem Niveau – was nur zum Steigen der Arbeitslosigkeit beiträgt. Eine Erhöhung der Steuersätze führe nur zu einem Boom bei der Steuerhinterziehung usw. Gewiss, nicht jedes dieser Exempel ist vollständig falsch. Aber es ist leicht einsichtig, was die Absicht einer solchen Argumentationsweise ist: die Verteidigung des Status quo. Dass alles exakt so bleibt, wie es ist. Dass die Reichen von heute auch die Reichen von morgen sind und die Armen von heute die Armen von morgen.

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