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Wie man Kulturkämpfe gewinnt

Niemand ist von Moralfragen und Identitätspolitik so besessen wie die Rechten. Die Linke wird diesem Kampf nicht ausweichen können.

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Eine der schrägsten, bizarrsten, deswegen aber nicht minder verbreiteten Thesen ist: die Linken würden heute viel zu viel Identitätspolitik machen. Oder: Statt sich um Klasse zu kümmern, kümmern sie sich zu sehr um Identitätsfragen, um Diskriminierungen wegen Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung. Auf diesem Feld der „Kulturkriege“ würden die Rechten gewinnen, zumindest aber hätten sie leichteres Spiel. Also: Die Linken laufen den Rechten ins Messer. Figuren wie Sahra Wagenknecht garnieren die fragwürdige These noch mit der denunziatorischen Behauptung, dieses seien vor allem Themen einer saturierten „Lifestyle“-Linken, von Leuten mit dickem Bankkonto und schlechtem Gewissen. Ulkigerweise hat sie mit der Verbreitung dieser These im vergangenen Jahr 750.000 Euro eingenommen.

Ein Blick auf die reale Welt zeigt: Niemand ist so sehr auf Identitätspolitik fixiert wie die Rechtsparteien. Niemand ist so sehr besessen davon, jede x-beliebige Sachfrage in eine quasi religiösisierte Gefühls- und Lebensstil-Angelegenheit zu verwandeln. Die Parteien der extremen Rechten haben es kultiviert, die der gemäßigten Rechten haben sich mittlerweile in einen Überbietungswettbewerb Richtung närrischer Identitätspolitik begeben.

Schon werden Demonstrationen gegen „die Heizungsideologie“ organisiert, bei denen es nicht nur um praktische Aspekte und Förderungsrichtlinien geht, sondern bei denen die Liebe zur Gas- und Ölheizung in eine Art Lebensstil-Marker verwandelt wird. Demnächst beten sie wahrscheinlich auch noch einen Öltank an. Folgerichtig nur, dass Friedrich Merz und Markus Söder ostentativ zwei Würstchen in die Fotokamera halten. Dieses ist, ähnlich wie der Öltank und der stinkende Dieselmotor längst ein Identitäts-Attribut, Ausweis des „Normalen“. Wer normal sein will, muss gegrillte Würstchen essen, schon die Salatbeilage steht im Wokeness-Verdacht. Was mit einem Konservatismus geschieht, der ins Fahrwasser der Radikalisierung gerät, kann man längst in Österreich beobachten. So werden in Niederösterreichs Gemeinden jetzt gastronomische Nahversorger gefördert, aber nur wenn sie überwiegend lokale Speisen auf der Karte haben: Schweinsbraten rein, Pizza und Tiramisu raus. Die Konservativen beteuern, ihre Ultrarechts-Koalition sei eine Allianz für alle „Normaldenkenden“, und folgerichtig wurde jetzt auch für alle direkten und mittelbaren Landesinstitutionen das Gendern verboten.

Das Lustigste ist, dass sie bei der nächsten Bierzeltrede wohl gegen die „linksgrüne Verbotspolitik“ und deren „Tugendterror“ wettern werden.

Es ist diese Geistesverwirrung, die auch Friedrich Merz dazu bringt, in den Grünen „den Hauptfeind“ zu sehen, statt in den Demokratiefeinden der AfD. „Feindbilder werden erfunden, Ideologien aus den USA importiert und über die sozialen Medien verbreitet“, beschrieb Nils Minkmar diese Politik der Paranoia unlängst in der „Süddeutschen Zeitung“. Er sieht bei den konservativen Akteuren „fehlenden Ernst“ und „die Bearbeitung mehr oder weniger erfundener Probleme“.

Konservative im Wettbewerb mit den Rechtsradikalen schaffen einen Echoraum und Verstärkungskammern, die immer den Radikalen nützen.

Dass jede sachpolitische Frage in eine Lebensstil- und Identitätsfrage verwandelt wird, ist aber längst nicht das Ende vom Lied. Die jeweilige rechte Position wird in einem Prozess des Framings als die „normale“ Ansicht des sprichwörtlichen „kleinen Mannes“ behauptet. Dem säßen liberalen Eliten im Nacken, die ihn verachten und deswegen umerziehen wollen. Ihm wird von den Rechten gesagt: Es ist okay, wie du bist. Das ist zentral in dieser Strategie der „Verkulturkampfisierung“, wie Nils Markwardt in der „Zeit“ angemerkt hat. Der Rechtsradikalismus und Krawallkonservatismus bespaßt breite Bevölkerungsteile mit antielitärem Unsinn, um hintenherum dieselben Bevölkerungsteile zum Vorteil der neoliberalen Eliten bequem ausplündern zu können.

Der Reflex vieler Linker ist, das Feld der Kulturkämpfe zu meiden, weil man sich damit auf das Terrain der rechten Radikalen begeben würde. Sowohl die Framing-Theorien als auch Heerscharen von Polit-Beratern haben schließlich gelehrt, dass man nicht das Spiel nach den Regeln des Gegners spielen, sondern möglichst sein eigenes Spiel machen sollte. Motto: Wenn die über Gendersterne reden, reden wir über Mieten und leistbares Wohnen. Wenn die über Migration reden, reden wir über Arbeitsmarkt und Mindestlohn. Eine Linke, die selbst von „kulturellen“ Fragen, von Gender-, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Diskriminierung, Trans-, kurzum: von „Diverstität“ usw. besessen ist, die liefere genau „jene Art der Linken, die die Rechte wünscht“ (Walter Benn Michaels), lautet die Kritik.

Diese Guidelinie ist nicht falsch, hat aber auch ihre Schwächen. Erstens: Die Kulturkämpfe gehen nicht weg, wenn man sie nicht führt. Die Rechten können, wie wir sehen, alles in ein Identitätsthema verwandeln, sogar die klammheimliche Sympathie mit einem Verbrecher wie Wladimir Putin. Als Politiker:in kann man sich noch so fest vornehmen, sich nicht auf dieses Terrain zwingen zu lassen, aber man wird von Journalist:innen danach gefragt, in Streitgesprächen damit konfrontiert, und da ist Schweigen keine praktikable Option. Zweitens: Rechter Gefühlspolitik wird man nicht mit alleiniger linker Sachpolitik beikommen können. Identitätspolitik stiftet starke Gemeinsamkeitsgefühle und damit Identifizierung. Drittens: Alleine der Reflex des Ausweichens ist ein Symptom von Schwäche, da er von der Annahme getragen ist, dass progressive Überzeugungen und Werte so hoffnungslos minoritär seien, dass man eine öffentliche Auseinandersetzung darüber niemals gewinnen würde.

Was aber, wenn diese Annahmen zu pessimistisch und von falschen Vorannahmen getragen sind? Langfristige Wertestudien haben den paradoxen Sachverhalt zutage befördert, dass die heutigen Gesellschaften immer progressiver und liberaler werden, und dass gerade dieser Umstand zu einem Backlash führt, zu einer Gegenreaktion. Simpel gesagt: Weil progressive Werte allmählich majoritär werden, fühlen sich Menschen mit konservativen und konventionellen Ansichten an den Rand gedrängt.

Auch sozialdemokratische und andere Linksparteien performen bei Wahlen dann am besten, wenn sie in ökonomischen Fragen markant links sind (also einen schützenden Staat präferieren und die Sackgasse des „Dritten Weges“ hinter sich lassen), und in gesellschaftspolitisch-kulturellen Fragen links-progressiv. Von nichtkonventionellen Lebensstilen über Fragen der sexuellen Orientierung, aber auch in Hinblick auf die multikulturelle Realität unserer Gesellschaften ist es ja längst nicht mehr so, dass linke und progressive Werte automatisch in der Minderheit sind. Forderungen, die vor vierzig Jahren nur „verrückte Emanzen“ vertreten haben, sind heute Konsens.

Respekt für jeden, dass man niemanden diskriminieren soll, dieses tolerante „Leben und leben lassen“ – alles heute Mainstream und weitgehend akzeptiert. Das Problem der Linken ist also sicherlich nicht „Identitätspolitik“, sondern allenfalls eine Identitätspolitik, die spaltet. Nicht die Themen sind das Problem, die heute so üblicherweise mit dem Label Wokeness versehen werden, sondern die sektiererische Weise, in der sie manchmal vertreten werden. Wer die Latte für Übereinstimmung so hoch legt, dass nur eine kleine Minderheit zustimmt, und dann alle anderen als Halbfaschisten beschimpft, wird wahrscheinlich keine breite gesellschaftliche Allianz hinbekommen.

Die Kulturkämpfe sind zu gewinnen, wenn man die Konfliktlinien richtig definiert und potentielle Alliierte nicht ins Lager der Gegner treibt.

Die Linke war immer dann erfolgreich, wenn sie soziale und materielle Forderungen, Wohlfahrt und Fortschritt für die arbeitendenden Klassen mit Forderungen nach mehr Demokratie, Liberalität und Modernität verband. Genauer: Wenn sie auch eine Art von Gefühlspolitik betrieb. Wenn sie ein Bild einer künftigen Welt zeichnete, in der alle ein besseres Leben führen, in der das kulturelle und geistige Niveau aller gehoben ist, in der Emanzipation verwirklicht ist und alle ihre Talente entwickeln können. In der die Kinder mit Liebe und Zuneigung erzogen werden statt mit Drohungen, autoritärem Getue und Rohrstock.

Was für die Vergangenheit galt, gilt auch heute: Es ist keineswegs aussichtslos, für die eigenen Werte einzutreten und sie kämpferisch zu verteidigen. Im Gegenteil: Es ist absurd, zu glauben, man könne sich davonstehlen, die eigenen Werte nicht verteidigen und hoffen, sich zu Mehrheiten zu schwindeln.

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