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Liebe & Hass

Zur Gegenwart zweier ganz großer Gefühle

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Es gibt die Fakten und den gesellschaftlichen Wandel und die sich ändernden sozialen Umstände, und dann gibt es uns Menschen, in denen dann doch viel an atavistischer Unveränderlichkeit steckt. So sehen das viele. So formuliert man das ja so manchmal salopp. Dass dann am Ende doch etwas unverwandelbar wäre an uns. Unsere Instinkte. Unser Gefühlsleben. Vor allem die ganz großen Gefühle. Liebe. Oder Hass. Das ist immer da, das war immer da. Das Gefühlbrausen, vielleicht gehört auch das Bedürfnis nach Rache dazu, das nur so oberflächlich gezähmt sei, durch ein paar angelernte zivilisatorische Konventionen, die aber leicht vergessen werden, wenn die Gefühle angstachelt werden. Die Firnis der Zivilisation ist dünn, so formulierte das einstmals Norbert Elias. Alles nicht ganz falsch. Aber auch alles nicht ganz richtig. Denn auch die Liebe ist von den je zeitgenössischen Verkehrsformen (ha, Wortspiel) geprägt, beispielsweise vom dominanten emotionalen Stil einer Epoche, auch von einer Ausdifferenzierung emotionaler Stile (sodass von einem hegemonialen gar nicht mehr gesprochen werden kann). Die menschliche Psyche ist das eine, wir verstehen sie, selbst wenn sie sich nicht ändert, durch den wissenschaftlichen Fortschritt, etwa der Gehirnforschung, auch anders in den früheren Epochen, und zugleich kommt sie nicht nur aus dem Ich, aus den Individuen, sondern auch aus der Gesellschaft. Unsere Psyche ist durch die Umstände gemacht. Es ist nicht kompliziert, aber komplex, also nicht simpel.

Seyda Kurt, die deutsche Autorin, hat jetzt beispielsweise ein Buch über den „Hass“ geschrieben, der ja bekanntlich eher einen schlechten Ruf hat, was sie so aber nicht stehen lassen will. Er ist auch ein widerständiges Gefühl. Der Hass auf kritikwürdige Verhältnisse kann zur Veränderung dieser Verhältnisse beitragen. Das Buch kommt zwei Jahre nach ihrem ersten Bestseller, bei dem sie sich nicht dem „Hass“, sondern der „Liebe“ zuwandte, „radikale Zärtlichkeit“ hieß es, und beschäftigte sich sowohl mit der Verkrüppelung von Liebe durch Kapitalismus, Statusdifferenz, Rassismus usw., als auch mit dem utopischen Gehalt von Liebe.

Suhrkamp hat unlängst auch einen alten Text von Niklas Luhmann aufgelegt – „Liebe. Eine Übung“ –, ursprüngliche Versionen trugen den Titel „Liebe als Passion“. Jetzt gibt es das kleine, schlanke Westentaschenformat für das flüchtige Leseerlebnis (wer dabei an flüchtige Liebeserlebnisse denkt, hat vielleicht schon eine Analogie entdeckt, was weiß ich denn…). In dem Bändchen heißt es:

„Seit langem gehört es zum Wissensbestand der Soziologie, dass Fühlen und Handeln in Intimbeziehungen an kulturellen Imperativen orientiert sind und dass selbst sexuelle Beziehungen in Phantasie und Praxis diesem Einfluss Einschränkung und Steigerung verdanken. Die semantischen Codes, die diesen Einfluss steuern, unterliegen ihrerseits einem historischen Wandel. In einer gut dreihundertjährigen Entwicklung reagiert die Form der Liebessemantik auf eine zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung personaler, privater Intimität. Sie entwickelt sich von Idealisierung über Paradoxierung zur heutigen Problemorientierung“.

Es ist wohl keine allzu gewagte Unterstellung, wenn man behauptet, dass die allermeisten Menschen in Zusammenhang mit der romantischen Liebe von sich sagen würden, dass sie da keineswegs nüchterner Kosten-Nutzen-Rechnung oder kühler Nutzenmaximierung folgen, auch nicht der banalen Logik von Sensation und Attraktion wie etwa in der Konsumwelt, sondern dass es bei der Liebe nun einmal um das Echte, das Tiefe ginge, um das wahre Interesse, nicht nur um das oberflächliche Begehren. Es ist aber ebenso wahrscheinlich keine allzu gewagte Unterstellung, wenn man behauptet, dass an sehr vielen Menschen der Verdacht nagt, ob das denn wirklich so sei, denn schließlich seien wir doch alle, das haben wir gelernt, Produkte der Zeit, unserer Kultur, unserer Umwelt, von Mama und Papa neurotisiert, von den Medien ummontiert, von Pornos und Tinder versaut, sodass noch dem, der sich am Echtesten dünkt, die Ahnung anpirscht, er oder sie könnte vielleicht doch auch in diesem privatesten, intimsten Revier der Liebe weniger Herr seiner oder Frau ihrer Selbst sein, als man hoffen würde.

In meinem Buch „Liebe in Zeiten des Kapitalismus“ habe ich seinerzeit geschrieben:

Möglicherweise kommt alles noch dicker, wenn man beginnt, die Dinge ein wenig durchzudenken. Gefühle, Romantik und unsere Vorstellungen von Liebe, die Bilder, die wir im Kopf haben, sind von der Warenästhetik, der Konsumwelt und den damit verbundenen medialen Apparaturen nur schwer zu trennen. Diese verstörende Tatsache hat uns die israelische Soziologin Eva Illouz in einigen spektakulären Büchern enthüllt. „Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus“, heißt eines davon. „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“, ein anderes. „Der Kapitalismus ist unerbittlich in die privatesten Nischen unseres zwischenmenschlichen und emotionalen Lebens eingedrungen“, schreibt Illouz. Das gilt schon für die unverfänglichsten Bilder, die vor unserem Kopf ablaufen, wenn wir uns eine romantische Situation vorstellen.

Um das an einem Exempel zu verdeutlichen. Nehmen wir an, Sie haben von sich das Selbstbild, ein „romantischer Typ“ zu sein. Das heißt, sie mögen Candle-Light-Dinners, oder Sie schenken, wenn Sie ein Mann sind, ihrer Freundin gern eine rote Rose oder Sie träumen davon, mit ihrem Lover nach Venedig zu fahren. Oder nach Paris. Oder von einer gemeinsamen zärtlichen halben Stunde in der Badewanne mit Schimmerlicht und Rosenblättern am Wannenrand. Oder was auch immer. Aber woher wissen Sie eigentlich, dass Candle-Light-Dinners, Rosen und Venedig Träger des Attributs Romantik sind? Kommt diese Idee aus Ihrem Inneren? Oder kommt sie aus den Filmen, die Sie gesehen haben, haben Sie das irgendwo gelesen, oder schöne Fotos davon in Hochglanzmagazinen gesehen? Fotos, ohne die Sie nicht einmal wüssten, dass es so etwas wie Romantik gibt. Erschreckend, oder? Andererseits: Das romantische Candle-Light-Dinner kann ja trotzdem schön sein, auch wenn sie nicht einmal wüssten, dass es Candle-Light-Dinners gibt und diese Romantik repräsentieren, wenn die Kulturindustrie es Ihnen nicht eingeredet hätte. Wir tun alle dauernd Dinge, die wir uns nicht selbst ausgedacht haben, sondern wir folgen bis in die kleinste Geste hinein kulturellen Skripts, aber das trübt doch keineswegs die Freude am Leben.

Diese Vorstellungen von romantischer Liebe, die durch kulturindustriell produzierte Bilder geformt sind, verbinden die Liebe mit Schönheit, Jugend, Charme, Glanz und verführerischer Kraft. Die Werbung arbeitet damit und „assoziiert Liebesromantik ... systematisch mit den Motiven Jugend und Schönheit, Kreativität und Spontanität“. Liebe und Romantik sind also engstens mit einer Ästhetik verbunden, die aus der Konsumkultur stammt.

Damit nicht genug, wird natürlich eine bestimmte Form der Romantik zu einem Rollenmodell: Fast immer die der weißen Upper- und Mittelklasse des Westens. Diejenigen, die dieser Kultur angehören, erkennen sich in diesen Phantasiebildern wider, aber auch alle anderen wachsen in dieser Bilderwelt auf, ohne in ihr repräsentiert zu sein. Natürlich gibt es auch andere Bildsprache (etwa die der Bollywood-Filme in Indien), aber die dominante Bildsprache des globalen Kulturkapitalismus ist schon die der weißen Upper-Class des Westens und natürlich dominiert die heterosexuelle Liebe.

Sex sells - das ist eine Wahrheit, die längst so banal ist, dass man sie kaum auszusprechen wagt. Willst du ein Auto verkaufen, pappe eine halbnackte Frau auf den Katalog. Aber das sind ja nur die Oberflächenphänomene. Im Kulturkapitalismus gehen zeitgenössische ökonomische Muster und jahrtausendealtes Patriarchat die verwirrendsten Bündnisse ein. Mädchen bekommen von früh an eingeimpft, dass ihr sozialer Status mit ihrer sexuellen Attraktivität zusammen hängt. „Der Spätkapitalismus brandet ziemlich buchstäblich die Körper von Frauen“, schreibt Laurie Penny, die junge britische Pop-Feministin in ihrem Buch „Fleischmarkt“. „Feminität selbst wurde zu so einer Marke, eine enge Formel von Warenidentität.“ Feminität kann man kaufen, mit Hilfe der Waren und sonstiger Dienstleistungen, die der unendliche Markt bieten. Rollenbildern ist nachzueifern, bei Strafe des Untergangs im Wettbewerb. Geschlechterrollen die älter als der Kapitalismus sind, werden gleichsam neu durchkodiert und kapitalistisch eingefärbt. Wenn soziale Beziehungen generell mit dem Ungeist der Konkurrenz vergiftet werden, bleiben auch die Geschlechterrollen nicht davon unberührt. Macht und Prestige haben immer noch in der Mehrzahl Männer, und daher gibt es kaum irgendwelchen gesellschaftlichen Verkehr, der nicht von diesem Umstand mit geprägt ist, genauso wie die Selbstwahrnehmung von Männern und Frauen. Frauen müssen dafür kämpfen, gehört zu werden, Männer gehen oft wie selbstverständlich davon aus, dass ihnen Aufmerksamkeit zusteht. Das beste Beispiel sind die Heerscharen völlig uninteressanter Manager, die, als Folge aufgeblasenen Egos, gleich glauben, jeder müsse sich für ihre Meinungen zur modernen Kunst und zur Quantenphysik interessieren. Dieser weitverbreitete Charakter wird in Fachkreisen „SABTA“-Typ genannt („sicheres Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit“).

Die Männerklüngel bilden ihre eigene Kultur, Mädchen und Frauen machen die Erfahrung, dass sie eher wahrgenommen werden, wenn sie den Bildern femininer Attraktivität entsprechen und nach den Regeln des Spiels spielen. „Sexuelle Performance“ als ein wesentliches Element des Arbeitslebens, nennt das Laurie Penny, stets begleitet vom Versuch der Selbstperfektionierung. Und natürlich gibt es dagegen Rebellionen, und erst recht gegen die ärgsten Auswirkungen, wie zuletzt bei der #metoo-Bewegung, aber sie sind doch im Augenblick noch Auflehnungen gegen ein dominantes Setting - und nicht die Aufhebung dieses Settings.

Aber noch in vieler anderer Hinsicht infizieren die Muster der Konsumkultur unser Beziehungsleben. Man denke nur an die Gier nach Neuem. Es ist nicht schwer, die strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Sucht nach immer neuen Produkten und dem Hunger etwa nach Liebeserlebnissen auszumachen, beruht doch, wie Eva Illouz schreibt, der „Konsum auf dem Drang nach Erregung, denn der Kauf und die Erfahrung neuer Waren sind eine Quelle der Freude, und die Affäre befriedigt mit all der Erregung eines neuen Liebhabers diesen Drang ebenso“. Das Neueste schlägt das Neue. Das klingt jetzt etwas erschreckend, ist es aber nur zu einem gewissen Grad. Dass die Neuheit selbst schon eine Attraktivität hat, ist ja nicht die schlechteste Charaktereigenschaft des modernen Menschen, denn die Neugierde ist sicherlich ein sympathischerer Zug als die Ignoranz oder das Desinteresse an Veränderung.

Aber die (kommerz-)kulturellen Umstände prägen unseren emotionalen Stil und es ist anzunehmen, dass sie ihn, wenn sie sich ändern, auch verändern. Der zeitgenössische Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er von grenzenloser Auswahl geprägt ist. Und die Praxen der Liebe gleichen sich dem an. Es fällt uns schwer, uns zu entscheiden. Partnerschaften schieben wir auf, oder zumindest eine tiefe Verbindlichkeit wird gerne durch das Ungefähre ersetzt. Es fällt ja schwer, sich im Ozean der Auswahl zu entscheiden, und wer mag sich schon zu einem Partner bekennen, wenn übermorgen um die nächste Ecke ein noch besserer Partner kommen kann.

Dass die Grenzenlosigkeit potentieller Erlebnisse, die Technologietools von Parship bis Tinder versprechen, hier noch einiges dazu tun, versteht sich von selbst. In diesen Technologien wird der Geist des Konsumismus eklatant, der in unserem sozialen Verkehr längst drinnen steckt, den wir aber zugleich verschämt zu ignorieren versuchen. Die Auswahl ist grenzenlos. Der oder die Bessere ist nur einen Klick weit entfernt. Man kann auch sagen: Hier wird der Gemütszustand, dass man niemals mit dem, was man hat, zufrieden ist, zu Technologie für Sozialverkehr. Willhaben, mit Menschen im Angebot. Tinder ist nicht der Ursprung davon. Tinder und andere Apps sind Resultat eines neuen Mindsets und zugleich dessen Verschärfung. Sie hacken unser Leben.

Die Liebe ist eingekerkert, so könnte man das lesen, in die normativen Praxen des Konsumkapitalismus, aber doch auch immer das große Andere zu diesem, gewissermaßen ein „antikapitalistisches Gefühl“. Alain Badiou oder auch Srecko Horvat („Die Radikalität der Liebe“) meinen, die Liebe sei der Einbruch, das Ereignis schlechthin, das den Trott der Welt aufbricht, „ein Riss in der Welt, im gewohnten Ablauf der Dinge“ (Horvat). Noch das konsumistische Bewusstsein träumt von den schicksalhaften Begegnungen, den Blicken, dem einen Augenkontakt, der das Leben verändert. Dem Risiko, das mit dem Sich-Verlieben verbunden ist, denn es gibt keine existienziellen Begegnungen ohne Risiko. Liebe ist die private Revolution, die die Welt aus den Angeln hebt und keinen Stein auf den anderen lässt. „Fall in Love“, wie es im Englischen heißt, ein Sturz, Absturz. „Brenne durch mit dem Fremden“, schreibt Horvat. Aber genau das ist auch die Gefahr für die Liebe, sie ist durch die Maximen des zeitgenössischen Kapitalismus gefährdet, wie Badiou beklagt, dann nämlich wenn sie „als eine Variante des allgemeinen Hedonismus, als eine Variante der Formen des Genießens“ behandelt wird. Zur achtlosen Wegwerf-Liebe wird.

Auch der Hass ist nicht einfach da, ein atavistisches Gefühl, sondern er wird produziert, verstärkt, durch Hass- und Blödmaschinen vervielfältigt. Der Hass ist voll in Mode. Hassen ist total in. Wo man hinschaut, Hass. Welches Postingforum zu welchem Thema man aufmacht, nichts als Hass.

Und Sie, sind Sie auch ein bisserl so? Fragen Sie sich das mal in einer ruhigen Minute. Weil, täusch ich mich oder sind wir heute alle zusammen recht schnell mit dem Hassen?

Die Beispiele sind ja Legion, ich hab einmal ein ganz unverfängliches Exempel zur Illustration gewählt, und das ist jetzt auch schon wieder elf Jahre her, und seither wurde bekanntlich die Sache nicht besser, sondern eher schlimmer:

„Ein anderes Beispiel, ein ganz anderes Beispiel, das mir sehr unangenehm aufstößt seit Tagen schon. Der Fall des deutschen Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff. Über den sich jetzt Häme und Hass ergießt, der zur Unperson stilisiert wird. Ja, klar, er war geblendet von der Welt der Reichen und wollte auch in diesem Jet-Set-Leben mitspielen. Hat sich mutmaßlich einladen lassen, zu Reisen, auf ein Wochenende ins Hotel. Vorteilnahme, ein paar hundert Euro. Und die Sache mit dem Privatkredit, um sein 700.000 Euro Haus zu finanzieren. Damit hat er ein bisserl Zinsen gespart, alles in allem rund 7.000 Euro. Unsauber. Aber auch nicht die ganz große Korruption. Aber unsauber, ja. Und deshalb hat er ja zurücktreten müssen. Jetzt ist er ja eh schon zurückgetreten. Jetzt ist seine Karriere eh schon ruiniert, und, ja, nennen wir‘s so altväterlich, seine Ehre eh auch schon ruiniert. Muss man da jetzt noch ewig nachtreten? Nein, irgendwann ist es auch wieder genug. Aber wenn der Hass in seinem Lauf ist, dann ist es überhaupt nicht mehr genug! Dann ist der Herr Wulff ein Unmensch und dann muss er zum absolute Bösling, zum Gierwulff gemacht werden, auf den alle eintreten. Seine ehrenwerten Vorgänger sind nicht zu seinem Abschiedszapfenstreich gegangen, damit man sieht, sie sind ehrenwert, sie streifen nicht an an so einem ehrlosen Gesellen. Wie mutig! Wie ehrenhaft!“

Trotzdem, was bringt diese Kleinlichkeit? Macht sie die Luft besser? Verzerrt sie nicht auch unsere Züge? Immer wieder fällt mir da, wenn ich diesen gutgemeinten Hass begegne, dieses Gedicht vom alten Bertolt Brecht ein, der hat da auf seine alten Tage geschrieben, etwas sehr Weises hat der geschrieben:

Auch der Hass gegen die Niedrigkeit

Verzerrt die Züge

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein.

Heute aber führen all die medialen Aufschaukelungszusammenhänge, so scheint es mir, noch ein Stück mehr dazu, dass uns die Fähigkeit abhanden kommt, die einfachsten Sachen auseinander zu differenzieren.

Ja, da hat einer Fehler gemacht. Vielleicht vertritt der sogar Auffassungen, die ich nicht teile, die ich ablehne. Aber kann der, der andere Auffassungen hat, und Fehler gemacht hat, integre Seiten haben, einen Charakter, dem meine Achtung gebührt? Natürlich kann er das.

Mehr noch: Es gibt Menschen, die haben einen Charakterfehler. Eigentlich hat fast jeder Mensch einen kleinen Charakterfehler. Aber deswegen sind sie nicht als Ganzes ein Charakterfehler. Sondern können auch ganz liebe Leute sein.

Aber das fällt uns heute schwer zu akzeptieren. Ja, ich sag auch manchmal: Der hat keinen Charakterfehler, der ist ein Charakterfehler. Aber ich sag das halt so salopp und halb ironisch. Aber Hand aufs Herz, wie viele Leute gibt’s, bei denen das wirklich in seiner bitteren Ernsthaftigkeit stimmt?

Diese Fähigkeit, ruhig die Dinge abzuwägen und dann zu einem maßvollen Urteil zu kommen, na, die ist heute ein Luxus.

Und das hat viel mit medialen Aufschaukelungszusammenhängen zu tun. Die Aufschaukelungszusammenhänge gab es in den alten, klassischen Medien auch, klar. Aber die hatten einen anderen Taktschlag. Eine Zeitung erscheint nur einmal am Tag. Ein Magazin einmal die Woche. Und selbst Boulevardmedien sehen sich doch gelegentlich dem Anspruch ausgesetzt, ihre Urteile auch zu begründen. Aber das Netz hat hier etwas verändert. Der 140 Zeichen Tweet verlangt nicht nach Begründung, sondern nach Zuspitzung. Und der nächste, der einen Tweet absetzt, muss noch schärfer formulieren, wenn er wahrgenommen werden will. Und all das zusammen ergibt ein Hintergrundrauschen anschwellender Aufgeregtheit, in dem alle Proportionen verrutschen, das dann wieder auf die klassischen Medien zurückwirkt. Und da haben wir das vorsätzliche Hassschüren durch Trollfarmen und Polarisierungsprofis und Fake-News-Schleudern noch gar nicht dazu gedacht.

Und da sag ich: Es gibt Leute, die vertreten Dinge, die ich nicht vertrete, ich bin vielleicht sogar fundamental weltanschaulich anderer Meinung als sie. Aber sie können trotzdem anständige Leute sein, mit einem anständigen Charakter, und sie können trotzdem Bedenkenswertes zu Sagen haben. Ja, warum soll ich die denn hassen?

Sie hassen ja nicht, sagen Sie jetzt. Ihr Zorn ist ja nicht blind, sondern gerecht. Er richtet sich ja gegen echte Missstände, sagen sie. Ja, mag schon sein, aber hat nicht sogar dieser wutbürgerliche Zorn, der jetzt so modisch ist, seine dunklen Seiten, gibt’s da nicht auch eine Art von Maßlosigkeit, oder sagen wir, die Gefahr einer Art von Maßlosigkeit? Ist der nicht billig, und ist es nicht allzu billig, wie sich manche Leute diesen Zorn zunutze machen, gar nicht heißblütig, sondern kühl kalkulierend?

Also, ich fühl mich unwohl mit all dem, und nicht zuletzt deshalb, weil ich ja viele der Mißstände, die da beklagt werden, auch teile. Und vieles an der Kritik an denen, über die sich die Häme ergießt.

Aber wenn ich diese Kritik anbringe, dann doch auch deshalb, weil ich denke, dass man all das besser machen kann. Dass man die beklagenswerten Zustände ändern und eine bessere Gesellschaft vielleicht hinkriegen kann. Eine, die gerechter ist oder demokratischer, oder was weiß ich, mit besseren Politikern, was Sie mögen. Und mit mehr Intelligenz in der Regierung und auch in der Opposition.

Aber fragen wir uns einfach mal einen Augenblick, wie sollen wir das denn hinkriegen, mit Bürgern, mit immer mehr Bürgern, die vollgefüllt sind mit Hass, voll mit Hass, bis Oberkante Unterlippe? Eine Gesellschaft, die auch nur eine Prise lebenswerter ist, hinkriegen, mit Leuten, die vollgefüllt sind mit Hass?

Na, das wird schwer. Und die Krux ist ja: Diese Hasser sehen ja in allen anderen das Problem. Alle anderen sind schuld, nur sie nicht. Dabei sind aber sie selber das Problem. Ich hoffe, Sie hassen mich jetzt nicht zu sehr.

I Love You Too.

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