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Westlicher Selbsthass

Die bittere Wahrheit: Mit der Phrase vom „globalen Süden“ kann man auch Putin zum antikolonialen Widerstandskämpfer adeln. 

Debatten werden heute sehr oft mit viel Erregung geführt, mit Gereiztheit, mit der Entschlossenheit, den Anderen maximal misszuverstehen. Häufig spürt man die verbissene Absicht, irgendeinen Halbsatz zu finden, den man möglichst fies und krass verdrehen kann, um diesen Anderen als menschliches Scheusal darzustellen. 

Das macht Debatten heute oft so unerfreulich, aber auch unergiebig. Ich merke an mir selbst, dass ich vermeide, mich an solchen Debatten zu beteiligen, und da ich annehme, dass es sehr vielen nachdenklichen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ähnlich geht, führt das im Umkehrschluss dazu, dass sich nur die weniger Nachdenklichen beteiligen, die das ganze dann in eine platte, plumpe, dumme Richtung drehen.

Ich merke auch: Bei erschreckend vielen Debatten wähle ich mittlerweile diesen Modus der Vermeidung.  

Apropos Selbstbeobachtung: Ich empfinde gelegentlich, dass mir meine eigenen Meinungen unsympathisch werden, nur, weil diese Meinungen von unsympathischen Menschen auf unsympathische Weise vertreten werden. Und das ist natürlich auch wiederum verrückt. 

Diese Haudrauf-Debatten, bei denen es primär um die öffentliche Diskreditierung der Gegenseite geht, haben aber eben auch die Eigenart, dass die wirklich interessanten Fragen gar nicht mehr zur Sprache kommen, weil schon vorher alles in den Schauplatz einer Schlammschlacht verwandelt worden ist. 

Eine solche Debatte war die über die über die diesjährige Documenta, bei der getrommelt wurde, das Kuratorenkollektiv Ruangrupa bestünde aus Antisemiten, würde Antisemiten einladen, hätte irgendwann schon mit irgendwem zusammen gearbeitet, der jemanden kennt, der die israelische Besatzungspolitik „einseitig“ kritisiere (das einseitige Kritisieren sei antisemitisch). Ich weiß gar nicht, wie man anders als „einseitig“ kritisieren kann, ich meine, wenn ich beispielsweise die Politik von Sebastian Kurz kritisierte, habe ich ja auch nicht immer zugleich auch die von Donald Trump, die von Wladimir Putin und die von irgendjemanden anderen kritisiert. Sich mal auf die, mal auf jene Sache zu konzentrieren, ist ja nicht unbedingt einseitig. 

Von der Gegenseite wurde dann gelegentlich eingewandt, im „globalen Süden“ sehe man die Sache einfach anders, denn erstens würde aus südlicher Perspektive Israel als eine „westliche Kolonialmacht“ angesehen, und angesichts des Charakters als jüdischen Staat greife man da eben unbedachter zu Stereotypisierungen, da man im „globalen Süden“ nicht die lange, schreckliche Geschichte antisemitischer Verbrechen habe, daher auch nicht so sensibilisiert sei wie wir. 

In schöner Phrasenhaftigkeit wurde dann auch angemerkt, das Fantastische an dieser Documenta sei nun eben, dass der „globale Süden“ uns hier im „globalen Norden“ seine Sicht präsentiere. 

Das Gekeppel entgleiste vollends, als auf einem zwanzig Jahre alten Wimmelbild im Murals-Style unter hunderten Motiven auch zwei Motive zu finden waren, auf denen tatsächlich antisemitische Bildsprachen benutzt wurden. Das Kuratorenteam und die Verantwortlichen schienen also auf frischer Tat ertappt. Das Bild wurde verhangen, womit es natürlich an Sichtbarkeit nicht einbüßte, sondern als Dokument eigentlich nur sichtbarer wurde, worauf Medientheoretiker hinwiesen, die wissen, dass unsere Aufmerksamkeit dann steigt, wenn etwas unsere Sehgewohnheit entzogen wird. 

Warum ein Dokument der Straßenkunst, mag es ästhetisch schlecht, politisch plump, ethisch im Detail sogar verwerflich und Produkt einer Schwarz-Weiß-Logik des Agitprop sein, unbedingt verdeckt oder abgenommen werden muss, fragte da schon keiner mehr. Persönlich habe ich ja nicht den Anspruch, dass alles, was mir nicht passt oder auch nur schlecht oder bloß nur halbgut ist, verboten gehört, dass alles, was eine fragwürdige Botschaft sendet, meinen Augen entzogen gehört. Wenn Kunst alles darf, dann darf sie auch plump und misslungen sein.

Weder mich noch sonst irgendjemanden muss man vor skandalösen Anblicken schützen, und schon gar nicht im Bereich der Kunst. Kunstkritik und Diskurse sind ja gerade dazu da, in solchen Fällen beißende Kritik zu üben, keineswegs ist es ihre Aufgabe, uns als Betrachter vor den Anblick dessen zu schützen, was beißende Kritik verdient. Ich habe in meinem Leben verdammt viel von Ernst Jünger oder Carl Schmitt gelesen, auch vom paranoiden rechten Wut-Konservativen wie Michel Houellebecq, von Celine, auch von Brechts Buddy Arnolt Bronnen, der erst ein linksradikaler Expressionist war und später ganz nach Rechts wanderte. Schlechterer Mensch bin ich ob dieser Lektüre nicht geworden. Was ich sagen will: Man kann diese Dinge heftig kritisieren, dass wir aber heute dazu neigen, sofort „verbieten“ oder „abnehmen“ zu schreien, ist eher eine zeitgenössische Pathologie als Ausdruck emanzipatorischer Achtsamkeit. Zumindest sollte man da immer eher zwei Mal nachdenken, bevor man „weg damit“ schreit. 

Noch ärger: Klug formulierte und durchdachte Abhandlungen, die meinen eigenen Auffassungen zuwiderlaufen, sind mir hundertmal lieber als dumm vorgetragene Meinungen, sogar dann, wenn ich diese Meinungen teile. 

Aber ich schweife ab, was – nebenbei angemerkt – sowieso selten eine schlechte Sache ist, denn Abschweifungen sind meist freie Assoziationen, ein Gedanken- und Bewusstseinstrom, der einem beim Nachdenken so dahin weht, so ein Flow, der einen von einem Ausgangspunkt irgendwo hintreiben lässt. Wüsste man vorher schon, wohin einem das Denken wehen wird, könnte man es sich ja gleich sparen. Die Abschweifung ist daher in aller Regel produktiv. Der Abschweifung erstmals ein Ende setzend, komme ich auf den Ausgangspunkt zurück: die Vertrotteltheit der hyperregten Debatten führt nicht selten zur Erschöpfung, bevor es richtig interessant wird. 

Der „globale Süden“ – auch nur eine Phrase

Der Blick des „globalen Süden“, wird also gesagt, soll die Phrasenhaftigkeiten und Engstirnigkeiten westlicher Diskurse aufbrechen, aber beim genaueren Hinsehen stellen wir fest, dass dieser „Blick des globalen Süden“ auch nichts anderes als eine Phrase ist, eine simplifizierende, nichtssagende Leerformel. Allerdings eine, die mit dem Adel des Dissens daher kommt, eine Phrase, die sich emanzipatorisch oder fortschrittlich oder sonst etwas lobenswertes wähnt. Doch was soll dieser „Blick des globalen Südens“ eigentlich sein? Der Blick der Hamas, oder eher der von Frantz Fanon? Der des wuchtigen Arbeiterführers Lula da Silva oder der des rechtsradikalen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro? Der Blick von Frauen und Männern, die in Borneo gegen die Abholzung der Urwälder kämpfen, oder der eines faschistischen Hindu-Nationalisten wie des indischen Präsidenten Narendra Damodardas Modi? Der Blick eines Dschihad-Vordenkers wie Sayyid Qutb (quasi der Lenin des radikalen Islams), oder der eines säkularen nationalistischen Antikolonialismus, wie ihn einstmals Präsident Nasser in Ägypten repräsentierte, der genau diesen Qutb aufknüpfen ließ? Vorkämpfer für Demokratie und Menschenrechte von Indonesien bis Peru, oder doch der Blick autoritärer Machtpolitiker und Warlords, die die Menschenrechte mit Füßen treten? Die Erben Lumumbas oder die Nachgänger Khomeinis? Maduro oder doch eher Arundhaty Roy? 

Die rhetorische Figur vom „globalen Süden“ wird ganz schnell fragwürdig, wenn wir nur einen Augenblick nachdenken. Womöglich ist gerade das die Problematik der diesjährigen Documenta, dass sie den „globalen Süden“ als Perspektive setzt, ohne dieses Konzept selbst zu hinterfragen. Vielleicht aber ist umgekehrt auch genau das ihre Leistung: dass sie uns die Fragwürdigkeit dieses Konzepts vor Augen führt. Höchstwahrscheinlich entgegen der Intentionen der verantwortlichen Protagonist*innen. 

Auch die Grundannahmen der „postkolonialen Theorie“, die in den vergangenen Jahrzehnten so hip wurden, stehen plötzlich auf wackeligen Beinen. Dass der Westen die globalen Bildsprachen dominiert, immer noch von seiner selbstverständlichen Hegemonie ausgeht, ausbeuterische Strukturen via Globalisierung stabilisiert hat, unverändert den herablassenden, kolonialistischen, rassistischen Blick auf nicht-westliche Nationen und Kulturen pflegt, dass sein ganzes Gerede von Demokratie und Diversität nichts als leeres, betrügerisches Wortgekringel sei, quasi die Soft Power, der der Westen im Notfall Marschflugkörper folgen lasse, diese ganzen Gedankengänge sind so unabweisbar wie allgemein anerkannt, aber wir sehen heute mit Schrecken, dass sich Autokratien, Despotien und Menschenschinder dieser Rhetoriken bemächtigen. „Wenn Putins Ideologen die Dekolonialisierung Russlands von einer Art westlich-jüdischem Liberalismus fordern, dann ist dieser Begriff Dekolonialisierung stark korrumpiert worden, und das bestimmt nicht zum ersten Mal“, formuliert Hito Steyerl, übrigens eine der prominentesten an der diesjährigen Documenta beteiligten Künstlerinnen. 

Die postkoloniale Theorie dekonstruierte die westlichen Lebenslügen und bequemen Selbstverständlichkeiten – wird aber jetzt selbst stückweise zerlegt.

Die Beiträge der postkolonialen Theorie zum zeitgenössischen Denken sind heute unverzichtbar und mittlerweile auch in den weit verbreiteten Alltagsverstand diffundiert und herabgesickert. Der Weiße mit seinen Stereotypisierungen und Bildproduktionen erschafft erst den Schwarzen, äußerte Frantz Fanon schon vor fünfzig Jahren, und darin lebt noch nach der Befreiung der Kolonien das kolonialistische Arrangement fort. Die antikoloniale Revolution müsse daher die Kolonisierten „von dem Arsenal an Komplexen .. befreien, das sich im Schoß der kolonialen Situation herausgebildet hat“. Fanon: „Das kolonisierte Ding wird Mensch.“ Noch in den unverfänglichsten Zuschreibungen lebt der rassistische Blick fort, etwa wenn Schwarze als „unbekümmert, gesellig, redselig, körperlich entspannt...“ verstanden werden, enthüllte uns der schwarze Revolutionär und Psychiater, und in multiethischen Gesellschaften sind die Minderheiten die inneren Kolonisierten, quasi. Schon vor hundert Jahren hat übrigens der brillante afroamerikanische US-Denker William E. D. Du Bois all diese Dinge in seinem bahnbrechenden Werk „Die Seelen der Schwarzen“ analysiert, ein Buch, das Generationen von Bürgerrechtskämpferinnen und -kämpfern inspirieren sollte, von Martin Luther King bis Malcom X oder den Boxer Muhammed Ali. Einer der wichtigsten Texte dieser Schule stammt aus der Feder des palästinensischen Denkers Edward Said, dessen Buchtitel „Orientalismus“ zu einem geflügelten Wort geworden ist. Für ihn leitet Orientalismus den westlichen Blick, das vom Westen produzierte „Bild“ des „Anderen“, in dem Fall des Orients. Der westliche Blick ist stets getragen von der „Vorstellung einer allen anderen Völkern und Kulturen überlegenen europäischen Identität“. Gelehrte wie der britisch-jamaikanische Kulturwissenschaftler Stuart Hall haben später viele produktive Überlegungen, etwa über die Hybridität zeitgenössischer Identitäten angefügt, ebenso Leute wie die indisch-amerikanische Forscherin Gayatri Chakravorty Spivak oder ihr Kollege Homi Bhabha. 

In den Alltagsverstand herabgesickert, lässt sich mit den Gedankenbruchstücken der Postcolonial Studies natürlich alles mögliche und sein genaues Gegenteil begründen. Einerseits die Hybridität und Fluidität moderner Identitäten, genauso aber ein Antagonismus westlicher versus nicht-westlicher Kulturen, quasi ein essentialistisches Gegeneinander, ein Wir-versus-Sie, wie es die Putins und Höckes auch schätzen. Dass selbst der wohlwollendste Westler einen herablassenden Blick hat, praktisch jeder ein Rassist sei, genauso. Einer postnationalen Konstellation, in der unterschiedliche Kulturen wechselseitig aufeinander einwirken, kann man mit Hilfe dieser Gedankengänge genauso das Wort reden, wie einer Vorstellung vom „Kampf der Kulturen“, bei der aber dann aus antiimperialistischer Perspektive der Westen immer schon auf der moralisch fragwürdigen Position sitzt und quasi die Arschkarte gezogen hat, so wie das weiße Mittelschichtskind in der Zwei-Zimmer-Wohnung mit Zentralheizung, dem erklärt wird, es solle seine „Privilegien checken“.

Das Problem: Ein paar Slogans, Phrasen und dümmliche Versimpelungen vermischt, und schon ist Wladimir Putin nicht ein kriegsgeiler Killer, der in imperialer Manier ein kleines Nachtbarland überfällt, sondern einer, der sich gegen die Machtarroganz einer unipolaren, westlichen Welt wehrt, und von der bösen, aggressiven Nato so gekränkt wurde, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb als beim Büttel des Westens – der Ukraine – einzumarschieren. Der Imperialist als Antiimperialist, flupps, so schnell kann es gehen, bis die Wahrheit in Lüge und die Wirklichkeit in Haluzinationen verwandelt ist.

Nun sind gewiss beinahe alle Ideen missbrauchbar – die Frage ist freilich, ob diese Missbrauchsanfälligkeit in einer Weltbetrachtung dieser Art schon eingeschrieben ist, wenn solcher Missbrauch häufig auftritt. Dass der Westen die Eigenheiten der Anderen nicht achtet, darauf können sich Taliban und iranische Mullahs schnell einigen. Auch Herr Maduro wird den betrügerischen Westen anklagen, wenn er Demonstranten niederknüppeln lässt, die Demokratie einfordern. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Und das wird uns dann als Blick des „globalen Südens“ verkauft. Die postkolonialen Theorien waren ursprünglich getragen von einem Geist des Emanzipatorischen, können aber, wie wir sehen, ganz bequem in ihr Gegenteil verkehrt werden. 

Westlicher Selbsthass

Ein alltägliches, aber dennoch bemerkenswertes Phänomen, das mit all dem einher geht, ist westlicher Selbsthass. Wladimir Putin ist ja ein Meister in dessen Instrumentalisierung, und schafft locker das Kunststück, einerseits der Pate aller Rechtsextremisten zu sein, die jubeln, wenn er erklärt, dass „Gayropa“ und der Westen mit seiner Diversität und lebenskulturellen Liberalität dekadent sei, und andererseits von regressiven Linksradikalen und sonstigen Wagenknechten bewundert wird, weil er immerhin gegen die globale Dominanz von Nato, USA, Brüssel, Wallstreet, Soros und was weiß ich wen alles aufstünde. Das Problem sind aber nicht irgendwelche durchgeknallten Spinner, Trolls und Sektierer an den Rändern, sondern dass viele Menschen auch außerhalb dieser Milieus zumindest einige dieser Postulate und Glaubenssätze „kaufen“. Wir sind schnell bereit, anzunehmen, dass wir irgendwie mit Schuld daran sind, wenn ein waffenstarrender Imperialist in ein Nachbarland einmarschiert oder ein Autokrat Minderheiten abschlachten lässt, denn global seien ja wir das Böse, sodass auch Mörder keine Mörder sind, sondern Leute, die einfach nicht anders konnten, da „wir“ sie gedemütigt und provoziert haben. 

An den pluralistischen, lebenskulturell diversen und liberalen Demokratien und kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten des Westens gibt es gewiss genug zu kritisieren, von ihren inneren Ungerechtigkeiten über die Tatsache, dass sie auf Kosten der Welt leben bis hin zu ihrer Doppelmoral. Manchmal regieren auch wirklich schlimme Finger, wie George W. Bush oder Donald Trump, werden dann aber immerhin abgewählt, was ein nicht unerheblicher Vorteil ist, der gerne übersehen wird. Kurzum: Dass es hier immens viel Verbesserungwürdiges gibt, sollte nicht blind dafür machen, dass es auch viel Verteidigungswürdiges gibt. Manchmal erinnern die Debatten von heute ein wenig an linksradikale Postulate von vor hundert Jahren, als die einen die Meinung vertreten haben, das „demokratische Ideal“ des Kapitalismus sei nichts als Lüge und Show, die Besseren unter den radikalen Gesellschaftskritiker aber darauf hinwiesen, dass eine zukünftige Gesellschaft nicht mit den Idealen der bürgerlichen Demokratie aufräumen würde, sondern von deren Errungenschaften ausgehend noch mehr Demokratie, noch mehr gleiche Rechte, noch mehr Teilhabe und Gerechtigkeit durchzusetzen habe. Die einen verteufelten die „bürgerliche Demokratie“, die anderen sagten, „wir wollen nicht weniger Demokratie, sondern mehr davon“. Erstere endeten als Gulag-Wächter, was dafür spricht, dass sie welthistorisch eher falsch lagen. 

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