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Folge 55

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Vorweg

Wer von den mitlesenden Freund*innen und Bekannten sich wundert, dieses Jahr nicht zur Gartenparty am 2.7. in Berlin eingeladen worden zu sein, bitte melden, ich habe irgendwie meine Mailfächer verknotet. – Ehrlich, versprochen, ich habe bei keiner einzigen Person gedacht: Also diiiieeese Person lade ich nicht mehr ein. – Wer gern zum ersten Mal eingeladen werden möchte, auch gern fragen. Es ist zwar relativ privat, aber im Gestus offen. Bitte nicht zu viel erwarten, es gibt Bowle, Brot und Dips, keinen Mega-Glamour. Schön ist es aber schon.

Etwas Altes: Gewalt in allen Räumen

Gestern kurz nach Mitternacht ist mein gerade 19 gewordener Sohn überfallen und ausgeraubt worden, zwei Typen auf Rädern sind ihm von der S-Bahn-Station aus gefolgt, haben ihn mit einem Messer bedroht, zu Boden geschubst und ihm sein drei Tage altes (neuwertig gebraucht gekauftes) iPhone  – das einzige Geburtstagsgeschenk, weil teuer – und sein Geld abgenommen. 

Inzwischen bringt man Kindern ja bei und erinnert sie als Jugendliche und junge Erwachsene regelmäßig daran, im Falle eines Überfalls sofort alles herzugeben, um nicht das Gesicht zertreten und dann mit Titan nachgebaut zu bekommen oder abgestochen zu werden. Daran hat sich mein Sohn, obwohl er groß, sportlich und nicht ängstlich ist, zum Glück gehalten.

Ich bin fast zur gleichen Zeit den gleichen Weg nach Hause gekommen, zum Glück hatte ich ein schlechtes Gefühl und habe mir für das letzte Stück ein Taxi genommen, in 90 % der Fälle bin ich dafür zu sparsam und laufe mitten auf der Straße nach Hause, immer mit Herzklopfen und simuliertem Handy-Telefonat.

Mein Sohn war gestern den ganzen Morgen über in einer Weise zerrüttet, die ich noch nie an ihm beobachtet habe. Die meisten von uns – je marginalisierter, desto wahrscheinlicher – kennen diesen Zustand schon lange: wenn das Vertrauen, sich selbstbestimmt und sicher in der Welt bewegen zu können, temporär oder ganz abhanden kommt. Es ist eines der beschissensten Gefühle überhaupt, ein Schock, der im Kern nicht mehr endet, mit dem man lediglich zu leben lernt. Fast alle Gewaltbetroffenen entwickeln zunächst für sich allein Strategien, so etwas zu verarbeiten – manchmal geht das nicht, weil das Erlebte zu überwältigend war und ist, dann wird professionelle Hilfe aufgesucht oder man zerbricht –, während die Notwendigkeit, gegen eine grundsätzlich gewalttätige Kultur vorzugehen, weiterhin systematisch kleingeredet oder ganz abgetan wird. Freiheit scheint fast nirgendwo auf der Welt zu implizieren, dass alle Menschen sich sicher im öffentlichen Raum bewegen können.

Faktisch haben mein Sohn und ich aktuell kaum eine Möglichkeit, in der umweltfreundlichen Kombination Öffis plus Zufußgehen sicher nach Hause zu kommen. Unsere Fahrräder werden dauernd geklaut, ein Bus fährt nachts nicht zu uns in die Ecke, der Weg von der S-Bahn führt an einem wirklich dunklen Park vorbei, wo ungefähr hundert Meter weit kein einziges Haus steht.  Menschen, die tapfer von der S-Bahn nachts diesen Weg gehen, jagen sich jedes Mal gegenseitig einen Riesenschrecken ein. Wir wohnen in einer so genannten guten Gegend, aber es sind eben böse Zeiten.

Mein Sohn meinte: »Ohne Rad ist es so unausweichlich. Wenn dich da einer überfallen will, dann tut er es und muss nichts befürchten. « Wer jetzt unweigerlich, weil medienaufgehetzt irgendwelche spezifischen Tätergruppen vor Augen hat, irrt schmerzlich. Potenziell jede Art Mensch, vielleicht abgesehen von Babys, übt brutale Gewalt aus, vom sechzehnjährigen wohlstandsverkommenen Bürgerskind bis hin zum Crackgespenst, das sehr schnell Geld für Drogen braucht. Und wenn du bestimmte Looks hast, geht die Gewalt manchmal auch von der Polizei aus. Entscheidend ist, dass aktuell sehr schnell und sehr inflationär sehr drastische Gewalt ausgeübt wird. Ausrauben, sobald ein schutzloser Mensch auftaucht. Vom Rad schubsen für ein Widerwort. Umfahren, weil ein Fußgänger zu langsam geht. Umbringen, um ein Handy zu bekommen. Das liegt nicht nur an Individuen, sondern auch an gesellschaftlichen und medialen Strukturen.

Falls ihr euch immer mal wieder fragt, warum ich, obwohl ich meist witzig schreibe, letztlich doch immer so ernst bin: Es ist wegen dieser universellen Gewalt und deren machtpolitischer Leugnung. Ich kann mich nicht richtig freuen, nicht richtig mein Leben genießen, solange diese strukturelle Gewalt die Möglichkeit eines guten Lebens für alle ausschließt.

Lasst euch bitte nicht einreden, dass Abtreibungsrecht und gerechte Sprache nebensächlich werden, weil Krieg herrscht. So argumentieren Gewaltprofiteur*innen, mal nach vorne, mal zurück, mal rechtsherum, mal linksherum; es entbehrt aber grundsätzlich jeder Logik und ist selbst wieder rhetorische Gewalt. – Alle Ungerechtigkeit ist miteinander verbunden.

Etwas Neues: Deathscrolling

Als junge Person amüsierte es mich sehr, wenn ältere Menschen interessiert oder, besser, gehypet bis aufgegeilt, die Todesanzeigen in Zeitungen studierten. Mir war klar, dass es die zunehmend wahrscheinlichere Nähe zum eigenen Tod war, die dieses Interesse befeuerte, ein merkwürdiger Mix aus Angst (wann bin ich dran?) und delightful horror (hah, es hat eine andere Person getroffen). Interessant, das konnte ich beobachten, waren dabei das Todesalter der verstorbenen Person im Verhältnis zum eigenen Lebensalter und der Beruf der Person. War da eine vermutlich sehr wohlhabende Person gestorben (siehst du, hat das ganze Geld auch nichts genützt) oder jemand »so wie du und ich«? Schockierendes Highlight waren natürlich Tote, die man persönlich gekannt hatte. Ihre merkwürdige Passion lief bei diesen aufgeregt mit der Zeitung raschelnden Menschen in meinem Gesichtskreis ziemlich unreflektiert ab, zumindest gemessen an dem, was sie darüber sagten (nichts). 

Neulich bin ich erstmals in etwas Ähnliches hineingeraten, nur digital. Ich habe im Netz nach der Halbschwester meiner Mutter in den USA gesucht, mit der meine Mutter schon lange den Kontakt verloren hatte, und fand dann tatsächlich in irgendeiner obskuren Genealogiedatenbank deren Todesdatum. Das erschien mir etwas tragisch für meine Mutter, die jetzt ihr latent schlechtes Gewissen in ein richtig schlechtes Gewissen verwandelt fand, aber mich selbst hat es auf eine nur bedenklich zu nennende Weise draufgeschickt: Ich suchte weiter nach Toten, anderen Toten, suchte und suchte, erst nach dem früheren Freund meiner Mutter (tot), dann nach einem guten Freund aus meinen Zwanzigern, der viel älter gewesen war (tot), irgendwann tippte ich jeden x-beliebigen Namen ein, der in meinem Leben mal große bis minimale Bedeutung gehabt hatte. So fand ich auch noch die Frau des besten Freundes eines Ex-Freundes tot; alle anderen scheinen noch zu leben. Das mit dem alten Freund und der Frau des besten Freundes eines Ex-Freundes hat mich ziemlich kalt erwischt, weil sie gute Erinnerungen sind, Menschen, die ich wirklich mochte. 

Ich habe mir also in kurzer Abfolge vier Todesnachrichten selbst geschrieben. Gut getan hat mir das nicht, mir war danach elend, nicht zuletzt, weil der Motor hinter der Sucherei zu hundert Prozent Voyeurismus gewesen war. Medial hingegen war es interessant, einmal darüber nachzudenken und zu schreiben. Dennoch werde ich mich jetzt wieder an meine alte Planung halten, wie ich nicht unnötig schnell und schlecht altere: 1. darauf achten, dass ich nicht fortwährend vor Erschöpfung und Ennui ächze, stöhne, seufze* (man kann es im Zweifelsfall auch innerlich tun, das ist etwas besser) , 2. nicht laut rumtröten, dass ich mit einer neuen Technologie, Plattform, Mode, Körpermodifikation etc. »überhaupt nichts anfangen kann« (Nullnachricht, interessiert nicht, ist einfach nur cringe), 3. nicht öfter als einmal im Monat ein attraktives/cutes/cooles Foto aus der Vergangenheit posten, 4. viele laute Gespräche mit der Katze, aber keine lauten Selbstgespräche führen und 5. – neu – NIE WIEDER DEATHSCROLLEN!!!  

* Wichtig: Wer buchstäbliche Schmerzen hat, soll bitte nach Belieben ächzen, stöhnen, schreien, heulen,– würde ich auch machen.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Lektion fürs Leben: Ficke niemals Dudes, die sich selbst als Feministen bezeichnen, denn ihr Narrativ hält der Realität nicht stand. Zweite Lektion: Wenn dein Bauchgefühl sagt, dass du keinen Sex mit einer Person willst, lenk dich niemals mit falscher Höflichkeit davon ab.«  – Sofie Lichtenstein, Fuck Forever, noch nicht erschienen

Etwas Uncooles: Romantik-Sehschwäche 

Müsste ich eine Liste mit individuellen absurden Unfähigkeiten anlegen – bitte macht ihr das auch und mailt sie mir –, stünde ganz oben »Sternschnuppen-, Vierblattklee, Rehe-am-Waldrand-Sehschwäche«. Wie oft habe ich als Kind in den Nachthimmel gestarrt und Planeten, Sterne, Satelliten gesehen, aber niemals eine Sternschnuppe. Als Erwachsene auch, nur habe ich seltener in den Nachthimmel gestarrt. Zwischendurch fragte ich mich, ob ich die Dinger vielleicht doch sehe und sie nur nicht korrekt als Sternschnuppen einordne. Als ich dann aber mit 29 dank akuter Hilfe meines heutigen Mannes eine Sternschnuppe gesehen hatte, wusste ich: Ich kann es wirklich nicht, nicht allein.

Den Waldrand anstarren und Rehe sehen? Hunderte Auto- und Zugmitfahrten in der Dämmerung hätten durchaus Gelegenheit dazu geboten. Aber nein, Fehlanzeige, ich starrte immer nur auf den tierlosen Waldrand. 

Das gleiche Spiel mit ins Ins-Gras-Starren. Für mich sprang dabei immer nur der Anblick von Normcore-Klee raus. Julia Pühringer (Öffnet in neuem Fenster)s auf Twitter bezeugte Glücksklee-Superkraft fasziniert mich derart, dass ich sie gebeten habe, ein E-Book darüber bei mir im Verlag zu machen. – Vielleicht ist meine unterschwellige Hoffnung dabei dem katholischen Heiligenkult vergleichbar, ich hoffe, dass durch die digitale Nähe zu Julia etwas Superkraft auf mich abfärbt.

Was mit mir selbst verkehrt ist und mich von so großartigen, stimmungsvollen Naturromantik-Erlebnissen ausschließt, konnte ich bis heute nicht aufklären. Es ist merkwürdig, weil ich in anderen Kontexten sehr scharf beobachten kann. Vielleicht klimpere ich zu oft mit den Augenlidern oder bin mit den Gedanken gleich wieder woanders oder bin einfach die unromantischste Person auf der Welt. Letzterer Gedanke gefällt mir sehr gut. 

Fun fact: Selbst im Spiel Animal Crossing New Horizons brauchte ich anfangs die geduldige Hilfe von Mitspielerin Giulia (danke!), um Sternschnuppen sehen zu lernen. Mittlerweile erledige ich es so routiniert, wie ich Masku-Villager von der Insel jage. Even more fun fact:  Letzten August legte ich mich am späten Abend draußen auf meine Liege und lauerte den Perseiden auf. Vorher hatte ich gesuchmaschint, wo die Schnuppen* herumfliegen. Am Himmel in der Variante meiner Wahrnehmung zunächst aber wieder nichts, nichts und nichts. Ich auf der Liege, am Rande der Verzweiflung. Dann aber habe ich hintereinander 18 Sternschnuppen gesehen. Es war also nur eine Sternschnuppen-Seh-Unreife gewesen. Jetzt kann ich es. (Hallo Hirnforschung, das ist doch was für dich.) Dieses Jahr lerne ich Kleeblätter, nächstes Jahr Rehe. 

Nebengedanke: »Schnuppen« ist meines Erachtens das hässlichsten Wort für die hässliche Kulturtechnik Kokain konsumieren. Gehört habe ich es bei einem cool girl. Ihr verdanke ich erstaunlich viele nasty Vorstellungen und Erfahrungen, eigentlich müsste ich ihr zum Undank mal ein literarisches Denkmal setzen. 

Rubrikloses

Neue Worte für euch:

Ignarroganz, Nomen: besonders hartnäckige Form der Ignoranz, die auf der Annahme beruht, etwas Bessseres zu sein

suchmaschinen, Verb: Synonym für g00geln, das vorzuziehen ist, weil man damit nicht Megalodudes zu mehr Klickmacht verhilft 

Internet-Einkaufsbummel mit Frau Frohmann

Wenn Sie Chaneltaschen ab etwa 5.000,00 Euro, besser noch, Hermès-Birkin-Bags für bis zu 500.000,00 Euro kaufen, werden Sie nach heutigem Wissen keinen Verlust machen, sondern große Wertsteigerungen erleben, selbst schuld, wenn Sie sich keine leisten können, hahahahahahahaha. 

... und um 4.000,00 EUR reduziert wurde. Dankeschön.

Präraffaelitische Girls erklären Megalonäre, Vol. 7

Zurück in die Schlacht, zu den Schlächtern, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,    
FrauFrohmann

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