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Etwas Altes: Erstes digitales Passfoto (1999)

Es ist meiner Meinung nach das schönste Foto, das es von mir gibt, aus der Zeit, in der ich mich am schönsten fand und als ich vielleicht nicht mein Leben – das mag ich, abgesehen von Phasen großen äußeren Drucks, tatsächlich fast durchgehend sehr gern –, aber die Zeit um mich herum am schönsten fand, weil ich dachte, dass mein schönes, kreatives Berliner Leben der Jahrtausendwende mit regem Kontakt und Austausch mit Menschen aus aller Welt unweigerlich zum Modell für eine Welt der Möglichkeiten und ohne willkürliche Grenzen werden müsste. (Little did I know.) Dass es ausgerechnet mein erstes digitales Foto überhaupt ist, verleiht ihm für mich zurück in die Vergangenheit weitere Bedeutung. 

Seitdem ist es, das muss ich nicht groß ausführen, gesellschaftlich ziemlich stabil abwärts bzw. rasend schnell rückwärts gelaufen, was aber auch daran liegt, dass vorher für gutmeinende, letztlich aber doch ziemlich privilegierte Menschen wie mich, nicht richtig zu sehen war, dass mit dem Fortschritt, dem Progressiven, dem Vorwärts eine Menge nicht stimmte. Ups, da hatte man offensichtlich ungefragt für ein paar Milliarden Menschen und auch nicht besonders plausibel mitgeredet, gedacht, gehofft, geglaubt. 9/11, das ist mittlerweile bekannt, war historisch nicht der Anfang einer globalen gesellschaftlichen Wende, es war nur das erste Mal, dass alle in der westlichen Welt etwas davon mitbekamen, auch liebe, weichgespülte Partymenschen in Berlin.  

Insofern ist mein schönes Passbild von Anfang 1999 eine Zeitkapsel, ich kann mich darin sehen, wie ich noch komplett unbefangen und hoffnungsvoll in die Zukunft blicke, und ich war da immerhin schon 29. Coole Grauhaar-Feuilletonboys haben bestimmt auch solche Bilder von 1999, nur dass sie stolz darauf sind, noch genauso wie damals zu sein.

Die Welt der Möglichkeiten und ohne willkürliche Grenzen möchte ich immer noch, ebenso die menschen- und lebensfreundliche Digitalisierung. Ich gebe das alles nicht auf, obwohl ich irgendwie aufgegeben habe. 1999 feiern möchte ich auch nicht, denn jetzt ist 2022, und daraus muss man etwas machen.

Etwas Neues: Generationenübergreifender Rave (2022)

Zur alljährlichen Gartenparty, bei der mein Mann und ich unseren Doppelgeburtstag und ich zusätzlich den Verlag feiere, gibt es traditionell den einstündigen Mini-Rave. Dieser findet in unserem Keller statt, der so niedrig ist, dass ich in gespielter Ekstase beim Tanzen die Decke berühren kann, während große Menschen gekrümmt zum Beat wackeln müssen. Immer legt DJ Female Macho (Öffnet in neuem Fenster) auf. Heike, so ihr bürgerlicher Name, ist nicht, wie man vermuten könnte, Mitglied eines meiner digitalfeministischen Hexenorden, sondern eine alte Freundin meines Mannes und mittlerweile längst auch eine Freundin von mir. Wenn Female Macho auflegt, ist Club, egal ob das ein Firmen-Event, ein Kunst-Chichi oder unser Keller am Stadtrand ist. Für Auftraggeber*innen, die bei der Veranstaltung nicht die totale Kontrolle  à la »bitte nur 80er-Hits«, »bitte nur Gloria Gaynor, Cher und Kylie« brauchen, also der auflegenden Person mehr Expertise als sich selbst zutrauen und nicht jeden Track von damals aus ihrer Jugenddisco kennen müssen, ist das perfekt. 

Female Machos Post-Rave-Garten-Spa-Installation mit Katja Kullmanns Buch »Die singuläre Frau« 


Dieses Jahr war der Mini-Rave länger, zum einen weil vorher und nachher Playlists liefen, zum anderen weil Heike ungefragt länger auflegte. Zum noch anderen gab es einen ungefragten Anschluss-Rave, dazu gleich mehr. 

Neu in diesem Jahr war auch, dass drei Altersgruppen jeweils sehr stark vertreten war: die ungefähr 50-Jährigen, die ungefähr 35-Jährigen und die ungefähr 20-Jährigen. Erstere setzen sich aus den Gastgeber*innen und deren alten Freund*innen zusammen, Letztere aus den Kindern der Gastgeber*innen und deren alten Freund*innen. Die mittlere Gruppe verdankt sich überwiegend meinem Netzleben seit etwa 2009, ich habe da viele Menschen kennen- und mögen bis lieben gelernt, die anfangs so alt waren wie jetzt meine Kinder, ohne dass dabei der biologische Altersunterschied eine sonderlich große Rolle gespielt hätte. – Wir waren alle digital-virtuelle Babys, die dann zusammen aufgewachsen sind. 

Während es ein bisschen rührend war, zu sehen, dass manche Gleichaltrige noch oder wieder bunte Haare haben, und meine viel jüngeren Freund*innen die ersten grauen Strähnen bekommen, fand ich das Beobachten der Jüngsten in diesem Jahr am spannendsten. Diese befanden sich in einem Zustand kolossalen Amüsements, der sich konventionell aus free drinks und dreistem Kiffen vor ehemaligen Erziehungsberechtigten speiste, aber auch im offensichtlichen Nichtfassenkönnen, dass eine grauhaarige Horde den gleichen Kram auf Partys macht wie sie selbst. Es ist allerdings auch komplett absurd, dass jetzt gerade 90s-Revival ist, und sie wirklich buchstäblich das Gleiche anziehen und hören wie  eine Kerngruppe der älteren Partygäste zusammen in den 90ern. Der 2022-(RA)V(E)-Effekt. 

New-Frohmanntic-Leser*innen erinnern sich: Partys und Jugendliche sind in meinem Haushalt seit einigen Wochen ein heikles Thema, weil die vierwöchige Abwesenheit der Eltern im Mai geradezu klischeehaft ausgenutzt wurde. Man sollte also meinen, dass die gebeutelten Eltern nun in Ruhe ihren extended Mini-Rave genießen und dann zufrieden ins Bett gehen durften. Weit gefehlt. 

Während ich gegen vier Uhr morgens gerade damit beschäftigt war, unsere notorisch letzten beiden Gäste allmählich rauszukomplimentieren, trafen mein einer Sohn, der etwa eine Stunde vorher gegangen war, mit seinem Freund A., DJ-Name Der ravende Holländer, und einer nicht ganz kleinen Gruppe komplett neuer Zwanzigjähriger ein. Im Keller tobte wenige Sekunden später unvorstellbar lauter Kirmes-Techno, und eine grauhaarfreie Horde tanzte. 

Ich saß etwas fassungslos, vor allem aber todmüde im Wohnzimmer genau darüber, verfluchte die leistungsstarken Boxen und sorgte mich um die Nachbarin, die ja im Mai schon vier Wochen Dauerparty ertragen hatte müssen; Kater Laser, der gerade hoffnungsvoll eingetroffen war, um sich unverfänglich nach einem Frühstück im Morgengrauen zu erkundigen, rollte – es ist wirklich wahr – genervt mit den Augen.

 »Eine halbe Stunde, dann ist Schluss«, hörte ich meinen Mann, der wohl kurz die Musik unterbrochen hatte, im Keller rufen, und dann erklärte mein Sohn ihm ausufernd, dass das ja alles nur für uns sei, dass A. ja nur für uns auflege, für unsere tolle Party. Laser und ich rollten im Erdgeschoss synchron mit den Augen. Unsere beiden standhaften Originalgäste begrüßten diese neue Entwicklung, das wusste ich, ohne nachzusehen. Tatsächlich konnte mein jüngerer Sohn beim Nachhausekommen eine Stunde später beobachten, dass der Eine noch, aus einer Flasche Weißwein trinkend, mit den Zwanzigjährigen im Park verschwand. Der andere harte Gast, lustigerweise die Mutter von DJ Der ravende Holländer, radelte derweil nach Hause. Zuvor hatte sie noch zu mir, als ich mich darüber beklagte, dass es nicht nur zu laut für mich jetzt, sondern auch zu schrammeliger Techno für mich grundsätzlich wäre, gesagt: »Das ist gerade total angesagt.« 

Wie viele Eltern fallen mein Mann und ich uns unter großem Stress manchmal pädagogisch in den Rücken, dieses Mal aber dankte er mir für meine Intervention, als ich nach 45 Minuten Hardcore-Rave in den Keller rauschte, auf ihn zeigte, »SEIN GEBURTSTAG, MEIN GEBURTSTAG, UNSERE PARTY, FEIERABEND, AUF WIEDERSEHEN« rief und und wieder verschwand. 

»Das ist gerade total angesagt«, sagte nach dem Erwachen auch Female Macho, als ich gestern Mittag noch einmal ausführte, dass ich ja brachialen Techno lieben würde, aber das da morgens einfach zu Kirmes für mich gewesen sei. Ich konnte an ihrer Stimme hören, dass sie den Anschluss-Rave und unsere Empörung darüber einfach nur lustig fand. 

Wir haben also Party-Bereicherung und -Crashing durch die nächste Generation erlebt – sehr übergangszeitgemäß.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»I knew these were the things to want, the right things to reach for. But I felt sick of reaching, enduring.« – Natasha Brown, Assembly (Öffnet in neuem Fenster), 23

Etwas Uncooles: Ausschreibungs-Mindfuck 

Mehrmals im Jahr, wenn ich angestrengt Bewerbungsunterlagen für irgendwelche Stipendium und Preis ausfülle, mal für den Verlag, mal für mich als Autorin, quält mich, wie sehr sich die Beschreibung dessen ist, was gefördert und ausgezeichnet werden soll und dessen, was dafür verlangt wird, inhaltlich widersprechen. 

Ich soll ganz neue Wege gehen und digital publishen, aber eine gedruckte Verlagsvorschau in so und so viel Exemplaren beilegen. Ich gehe ganz neue Wege und publiziere digital. Ich habe keine gedruckte Verlagsvorschau, weil ich ganz neue Wege gehe und digital publiziere. 

Ich soll innovativ sein, neue Verbindungen herstellen, grenzüberschreitend arbeiten. Ich soll jung sein. Ich bin innovativ, stelle neue Verbindungen her, arbeite grenzüberschreitend. Ich bin nicht mehr jung. (Sorry, ich habe leider zwei Kinder großgezogen, nicht meine Haltung verkauft, den Verlag mit trial und error, ohne geerbtes Geld aufgebaut – das hat Zeit gekostet. Außerdem ist Jungsein keine Leistung, meine Arbeit aber schon.) 

Ginge es um das, was angeblich gesucht wird und was ich faktisch die ganze Zeit mache, müsste ich häufiger Preise und Stipendien bekommen. Tatsächlich bekomme ich selten welche. Ich kann daran nichts ändern. 

Was ich ändern kann, ist, mich diesen Verbiegungen zu verweigern. Ich habe gerade zum ersten Mal eine Bewerbung eingereicht, in der ich bestimmte geforderte Unterlagen nicht im gewünschten Format beilege, sondern auf die gleichen Inhalte in digitaler Form verweise bzw. auf andere digitale Inhalte, die in meinem System an deren Stelle getreten sind. Eine Jury, die meine digitale Publishing-Kompetenz bewerten soll, kann doch sicherlich problemlos auf einen Link klicken. Für mich hingegen bedeutet das Erstellen einer gedruckten Verlagsvorschau verbranntes Geld und verbrannte Zeit – sie passt konzeptuell einfach gar nicht zu meiner Arbeit –, zumal ich dann immer noch kaum eine Chance habe, bedacht zu werden. Bisher habe ich immer eine Art Verlagsvorschau-Simulation produziert, ein teurer und ziemlich absurder Nicht-Spaß.

Der Frohmann Verlag ist kein regulärer Game Player, aber wäre längst ein Game Changer, wenn ich nicht immer nur unnötige Krisen bewältigen und unvermeidliches Nichtpassen kompensieren müsste. Damit, das Nichtpassen zu kaschieren, höre ich jetzt auf, so wie ich nach und nach mit ganz Vielem wieder aufgehört habe, was ich zuvor als Kompromiss gegenüber alten Strukturen versucht habe. 

Heute Abend schreibe ich einen Verlags-Newsletter dazu – mein letzter Versuch, den Frohmann Verlag freizuschaufeln, beginnt. Ich möchte einfach nur verlegen, auf meinem Tisch liegen dutzende Projekte, in meinem Kopf hunderte Ideen. Aber genau dazu komme ich viel zu wenig. Vielleicht wird das zehnte Jahr das letzte, vielleicht bringt es die Wende. Bislang wird der Verlag auch im Jubiläumsjahr vor allem nicht bedacht, übersehen, vergessen. Das Gute ist, dass ich – manches erklären die Präraffaelitischen Girld auch mir selbst – verstehe, warum das so ist und es nicht persönlich nehme. Ich bin gelassen, und zur Not lasse ich eben los. Mir das vorstellen zu können, empfinde ich als wirkliche Freiheit.

Wie schade, werden einige sagen und es dann bald vergessen. Es war ein für seine Zeit wichtiger Verlag, wird man später resümieren und respektvoll auf meinen in irgendeinem Archiv ausgestellten abgenutzten goldenen Laptop blicken. Beides ist mir, ehrlich gesagt, egal. Ich bin ganz banal einer von Milliarden Menschen, die am System scheitern, allerdings an einer sehr privilegierten Stelle, die nicht meine ganze Existenz betrifft.

Präraffaelitische Girls erklären Megalonäre, Vol. 8

Zurück zur toxischen Expertise, zu den Toxik-Experten, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,     
FrauFrohmann

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