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Über atemlose Rezensionen, skrupellose Lügen und Francas Reserven

Der Übermedien-Newsletter von Frederik von Castell

Frederik von Castell, Übermedien

Liebe Übonnent:innen,

na, schon wach? Oder: Noch wach?, weil Sie sich (wie offenbar mindestens halb Medien-Deutschland) nicht von Benjamin von Stuckrad-Barres gleichnamigen Roman losreißen können?

Ich mutmaße in den Haushalten deutscher Journalist:innen mindestens den ein oder andere schiefen Haussegen, wenn ich mir vorstelle, wie atemlos es in den letzten Tagen bei so manchem Feuilleton- oder Medienressort-Mitglied zugegangen sein muss. Ich male mir aus, wie übermüdete Redakteur:innen das Buch mit vor Koffeinüberdosis zitternden Fingern Seite für Seite durchackerten. Ein Wettrennen über knapp 400 Seiten.

In der ersten Startreihe die Boliden von Spiegel und Zeit. Letztere sind gefühlt sogar mit einer Runde Vorsprung ins Rennen gegangen. Anders wäre es ja nun wirklich nicht zu erklären, wie ausgeruht die (wirklich lesenswerte (Öffnet in neuem Fenster)) Rezension von Volker Weidermann daherkam, schon kurz nachdem überhaupt die ersten Bahnhofsbuchhandlungen ihre Türen geöffnet haben dürften. Warum ich so naiv tue, als würde es so etwas wie Druckfahnen oder Rezensionsexemplare gar nicht geben? Weil beim Spiegel stand (Öffnet in neuem Fenster):

„Die Erwartungen an ‚Noch wach?‘, den neuen Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre, 48, sind immens. Das liegt auch daran, dass bis zum Erscheinen an diesem Mittwoch niemand wusste, worüber genau der Schriftsteller eigentlich schreiben würde. Es gab keine Vorabexemplare für Kritiker. Jetzt kommt das Buch heraus.“

Ganz glauben will man das schon deshalb nicht, weil dieser Text einem „exklusiven Vorabdruck“ des ersten Kapitels des Romans voransteht, ausstaffiert mit aufwändiger „Spiegel“-Illustration und Textzeilen, die wiederum mehr nach Verlags-Werbesprech denn nach Nachrichtenmagazin klingen:

„Selten ist ein Roman mit so viel Spannung erwartet worden. Lesen Sie hier das erste Kapitel aus Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Buch ‚Noch wach?‘“

Wenn es aber doch stimmt, dass es zumindest für den „Spiegel“ kein Vorabexemplar gegeben hat, beeindrucken mich zwei Dinge immens:

Erstens: mit welcher Hingabe man sich (wie auch andere Medien (Öffnet in neuem Fenster)) in jedem Artikel zur Lage bei Springer schon Tage vor der Buchveröffentlichung dazu hinreißen lassen konnte, Zusammenhänge zum „erwarteten“ oder „gehandelten“ „Schlüsselroman“ herbeizudeuten – wo doch über den konkreten Inhalt angeblich „niemand“ etwas wissen konnte.

Zweitens: die Dreistigkeit, in einem „Spiegel“-Artikel davon zu schreiben, dass es keine Vorabexemplare gab, um den mitfabrizierten Hype noch zu steigern – und sich im nächsten Artikel direkt zu widersprechen. Zum Vorabdruck gab es nämlich noch die (nun maximal atemlose) Ankündigung eines Interviews mit Benjamin von Stuckrad-Barre:

„‚Ein Roman, also eine Fiktion, kann wahrer sein als die Wirklichkeit‘, sagt der Autor in einem Gespräch, das in wenigen Stunden bei SPIEGEL.de erscheinen wird.“

In wenigen Stunden! Was war das für ein Vormittag für mich: die Fingernägel abgekaut, F5 ausgeleiert, Popcorn und Cola längst verzehrt und die Blase bis zum Anschlag gefüllt. Aber den Sessel zu verlassen kam einfach nicht in Frage, weil, na wegen der ganzen Spannung und Aufregung! Und der Neugierde! Was werden sie ihn wohl gefragt haben, die vom „Spiegel“, so ganz ohne das Buch vorher gelesen zu haben, weil ging ja nicht! Um elf Uhr dann die Erlösung, Zigarettenrauch über der Ericusspitze, das Interview, es erscheint (Öffnet in neuem Fenster). Und es beginnt so:

„Herr Stuckrad-Barre, die Leseexemplare Ihres neuen Buches waren mit einem speziellen Code gesichert.“

Danke, das genügt, mein Bedarf an irreführender Angeberei ist gedeckt, lieber „Spiegel“. Natürlich hat Stuckrad-Barre alles dafür getan, dem Wettrennen der Medien Sprit zu geben. Zum Beispiel in zahllosen Instagram-Videos seine Boxencrew, das Who-is-Who der deutschen Unterhaltungs- und Medienprominenz, die Überschriften der Kapitel vorlesen lassen. Immer und immer wieder. Aber das darf er ja auch. Er ist Autor, er bewirbt sein Buch, er macht Eigen-PR. Und zwar so gut, dass der „Spiegel“ vor lauter Aufregung gleich mitmachen wollte. Geht mal schlafen.

Haben Sie es gemerkt? Ich habe es geschafft, über Stuckrad-Barre und den Zirkus um sein neues Buch zu schreiben, ohne die Namen Döpfner und Reichelt zu erwähnen, um die es darin geht oder nicht geht (noch so ein Zirkus). Aber natürlich hat der Roman ein sensationelles Timing.

Am gleichen Tag erschien die (für mein Dafürhalten viel zu wenig beachtete) Recherche des „Stern“ (Öffnet in neuem Fenster) , in der es um einen Döpfner-Kredit über 60 Millionen Euro bei der Warburg-Bank ging, die Döpfners Aufstieg offenbar überhaupt erst möglich machte und später wegen illegaler Steuertricks in Veruf geriet. Am Montag bereits ging die Podcast-Produktion „Boys Club“ über „Macht & Missbrauch bei Axel Springer“ (Öffnet in neuem Fenster) an den Start. Und das alles wenige Tage, nachdem Holger Stark und Cathrin Gilbert ihre Recherche zu Döpfner (Öffnet in neuem Fenster) in der „Zeit“ veröffentlichten.

Während man sich noch darüber streitet, ob Nachrichten wie „Please Stärke die FDP“ „privat“ gewesen seien oder eben doch in die Öffentlichkeit gehörten (Stark und Gilbert haben darüber im Übermedien-Podcast mit Holger Klein gesprochen) (Öffnet in neuem Fenster), kann man sich mit der gleichen Frage nun erneut herumschlagen.

Wieder geht es um die „Welt“ und die FDP. Konkret um das Personal Lehfeldt und Lindner, Franca und Christian, Chefreporterin für Politik hier, Parteivorsitzender und Finanzminister da, Ehepaar. Interne Nachrichten, aus denen der „Spiegel“ zitiert, stammen von Lehfeldt.

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