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Vor kurzem haben wir über den Leak des Weltklimarat-Reports berichtet (Öffnet in neuem Fenster), jetzt gibt es einen weiteren. Der BBC wurde ein Dokument zugespielt, das zeigt, wie verschiedene Staaten den wissenschaftlichen Bericht verwässern wollen:

Argentinien und Brasilien echauffieren sich über die negative Darstellung von Fleischkonsum fürs Klima. Die Schweiz möchte die Notwendigkeit finanzieller Unterstützung für Entwicklungsländer herunterspielen. Und Saudi-Arabien, Australien und Japan finden, dass die Rolle fossiler Brennstoffe viel zu prominent dargestellt wird.

Wir werden das Ganze weiter beobachten und Euch bei Twitter (Öffnet in neuem Fenster) und Instagram (Öffnet in neuem Fenster) auf dem Laufenden halten. Heute geht es aber nicht um Klimapolitik, sondern um etwas viel Greifbareres: die Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten – und warum wir sie unbedingt bewahren sollten.

#15 #Biodiversität #Naturschutz #Reportage

Aussterben zum Anfassen

Das sechste große Massenaussterben in der Geschichte des Planeten bahnt sich an – ausgelöst durch den Menschen. Ein Rundgang durch das Berliner Naturkundemuseum zeigt, was auf dem Spiel steht. ~7 Minuten Lesezeit

Als Gregor Hagedorn das Gebäude betritt, sieht er was Meteoriten anrichten können. Er bleibt stehen und guckt zu einem der größten Dinosaurier auf, den es jemals gab. Es ist ein baukran-artiger Brachiosaurus. Auch mit versteinerten Knochen wirkt er noch lebendig. In der Eingangshalle des Berliner Naturkundemuseums stehen drei der besterhaltensten Dinosaurierskelette der Welt.

Sie sind Zeitzeugen des fünften und bisher letzten großen Massenaussterbens der Erde. Dessen Ablauf kennt fast jedes Kind: Meteorit, Bumm, alle tot. Drei Viertel aller Tierarten sind in Folge des Meteoriten-Einschlags ausgestorben.

"Meist ist es jedoch ein schleichender Prozess”, sagt Gregor Hagedorn. “Mit jeder Generation gibt es weniger Nachkommen und irgendwann gar keine mehr, was das Ende dieser Population bedeutet.” 66 Millionen Jahre später steuern wir geradewegs auf das sechste Massenaussterben zu. Nur dieses Mal ist die Ursache kein Meteorit, sondern die Menschheit.

Als Biologe ist Hagedorn mit der Geschichte der Natur, die hier im Museum erzählt wird, bestens vertraut. Vor zwei Jahren hat er die Initiative Scientists for Future ins Leben gerufen. Ihm geht es mindestens genauso sehr um die Geschichte der Natur wie um ihre Zukunft.

Biodiversitätsforscher, Initiator der Scientists for Future und Freund der Natur: Gregor Hagedorn. 📸 by Ralf Roletschek (Öffnet in neuem Fenster)

Und dieser sieht Hagedorn mit großer Besorgnis entgegen. Die Aussterberate von Tierarten liegt aktuell hundert bis tausendmal höher als der natürliche Wert. In lebensnahen Dimensionen heißt das: den Schätzungen zufolge könnten jeden Tag bis zu 130 Arten aussterben. “Es gibt aber auch eine gute Nachricht”, sagt der Wissenschaftler. “Noch können wir viel bewahren.” Seitdem der Mensch seine Finger maßgeblich im Spiel hat, sind nämlich “nur” 1,5 Prozent aller Arten für immer ausgestorben.

Unser Meteorit ist leise und langsam

Das Museum ist eine lebendige Bibliothek der Natur. Viel Holz, hohe Decken, gedimmtes Licht. So gut wie keine gut gemeinten, digital-interaktiven Screens, die einen von den eigentlichen Herzstücken der Ausstellung ablenken. Hagedorn betritt das abgedunkelte Planetarium und geht zielstrebig zu einem unförmigen Stein. Er berührt ihn mit beiden Händen.

“Das ist mal Naturkunde zum Anfassen.” Der Stein ist ein waschechter Eisen-Meteorit. Er fühlt sich kalt an. Und strahlt eine gewisse Faszination aus. Ein solcher Meteorit (natürlich deutlich größer) hat die Dinosaurier ausgelöscht.

Im Vergleich dazu sind die Ursachen der aktuellen Natur- und Klimakrise geradezu unsichtbar: Pestizide und Chemikalien, Überdüngung der Böden, Treibhausgase in der Atmosphäre. Der Meteorit unserer Zeit ist leise und langsam. Die menschengemachte Ökosystemkrise ist kein Einschlag, der alles von jetzt auf gleich verändert. Die Veränderung tritt im Verlauf mehrerer Jahrhunderte ein.

Bereits zwei Drittel weniger Tiere

Vom dunklen Planetarium aus macht sich Gregor Hagedorn auf den Weg zu der wohl imposantesten Vitrine des ganzen Museums: "Die große Wand der Biodiversität". Gefühlt jedes Tier, das man in einer dieser David-Attenborough-Naturdokus mit vielen Bildern und blumigen Worten gesehen hat, wird darin angestrahlt – Rochen, Muscheln, Flamingos, Spinnen und Käfer aller Couleur. "Das Verhältnis der Artengruppen ist natürlich nicht ganz realistisch. Sonst wären hier zu einem Großteil Insekten", sagt der Biologe.

Eine Besucherin guckt interessiert herüber. “Schauen Sie mal hier”, sagt Hagedorn zu ihr, bevor er auf ein kleines Easter Egg des Museums deutet. Der Wellensittich an der Wand der Biodiversität sitzt nicht wie alle anderen Vögel auf einem Ast – sondern auf einem Zeigefinger. Da wo Wellensittiche eben am häufigsten anzutreffen sind.

Vor dieser großen Vitrine wird einem die Dimension der natürlichen Vielfalt bewusst. Das Ausmaß der Biodiversitäts-Krise wird greifbar. “Um zwei Drittel ist der durchschnittliche Bestand an Individuen von jeder dieser Arten im Durchschnitt zurückgegangen”, sagt Hagedorn. 66 Prozent weniger Seesterne, Molche, Schlangen, Krebse, Adler und Falter. Eigentlich müssten die meisten Tiere in der Vitrine nur noch zu einem Drittel angestrahlt werden.

Diagnose: Selbstüberschätzung

Nach der bunten Wand bleibt Hagedorn als nächstes vor einem schwarzen Brocken stehen. Diesmal ist es kein Meteorit. Es ist Steinkohle – dunkel, kantig und leicht glänzend. So sieht also das schwarze Gold aus, das uns gerade tief in die ökologische Krise stürzt.

"Steinkohle hat sich vor hunderten Millionen Jahren gebildet. Vermutlich durch die riesigen Bäume der Karbonwälder. Denn die konnten lange nicht von Mikroorganismen zersetzt werden und haben sich im Laufe der Zeit in Steinkohle verwandelt. Hätte nicht ein Pilz oder ein Bakterium irgendwann genau diese Fähigkeit entwickelt, sähe die Erde jetzt wohl ganz anders aus.”

Die Menschheit hat es vollbracht, große Teile dieser Energiereserven, die über Jahrmillionen entstanden sind, innerhalb von wenigen Menschenleben zu verprassen. Und unsichtbare Mikroorganismen haben die Voraussetzung für unsere heutigen Nährstoffkreisläufe geschaffen. Wie viel Selbstüberschätzung legt der Mensch eigentlich an den Tag, wenn er sich anmaßt, die komplexen, langfristigen Auswirkungen seiner Naturdegradierung zu verstehen?

Diese Selbstüberschätzung zu erkennen, ist laut Gregor Hagedorn ein äußerst wichtiger Schritt. "Meiner Erfahrung nach glauben viele Menschen irrtümlicherweise, dass Wissenschaftler°innen unseren Planeten und die natürlichen Prozesse sehr gut verstehen und wir auf dieser Basis unsere Welt gut managen können”, sagt Hagedorn und klemmt sich das Jackett unter den Arm. “Und dass wir wissen, welchen Artenreichtum wir benötigen und auf welche Arten man im Zweifelsfall gut verzichten kann." Dieser Glaube an technologische und wissenschaftliche Errungenschaften sei aber deplaziert. "Nur ein kleiner Teil der existierenden Arten ist überhaupt bekannt. Und nur von einem Bruchteil davon verstehen wir ihre vielfältigen Beziehungen in Ökosystemen."

Der Biologe zeigt auf eine Vitrine, in der eine überdimensionale Ameise an einer Blattlaus nuckelt. “Hier haben wir die Wechselwirkung verstanden. Ameisen essen die Fressfeinde der Läuse und bekommen dafür Zuckerwasser, das die Blattläuse im Überschuss aus den Blättern saugen.” Eine Symbiose. Von wie vielen solcher essentiellen Symbiosen in den Ökosystemen hat die Menschheit noch nicht den blassesten Schimmer? Vermutlich von den meisten. Vor allem die Rolle von Mikroorganismen ist nur zu einem Bruchteil erforscht.

Wir sind abhängig von dieser einen Biosphäre

Die Biosphäre braucht uns nicht. Sollte der Mensch aussterben, werden Tiere und Pflanzen weiterexistieren. In einer neuen Form, mit einem neuen Klima – auch wenn es hunderttausende bis Millionen Jahre brauchen könnte, bis die genetische Vielfalt wiederhergestellt ist. “Wir Menschen allerdings sind abhängig von genau dieser Biosphäre, in der sich unsere Art entwickelt hat”.

Im hinteren Teil des Museums macht der Wissenschaftler seinen letzten Halt bei der Nachbildung eines Korallenriffs. “Das werden viele Kinder, die heute geboren werden, wohl nicht mehr zu sehen bekommen. Selbst wenn sich die Erde nur um 2 Grad erwärmt, werden es 99 Prozent der Korallenriffe nicht überleben.” Er macht eine kurze Pause. “Das macht mich sehr traurig.”

Wie wir das Artensterben aufhalten können

Draußen blendet die Herbstsonne fast ein bisschen nach dem schummrigen Licht in den Ausstellungsräumen. "Das ist auch eine ganz wichtige Erkenntnis. Die Biodiversität ist nicht in Museen, die ist da draußen." Und obwohl wir von genau dieser Biodiversität da draußen abhängig sind, zerstören wir sie, nehmen Tieren und Pflanzen ihren Lebensraum und vergiften die Natur.

Bei einem Spaziergang zum nahegelegenen Invalidenpark erzählt Hagedorn vom aktuellen Stand der Forschung zu den Ursachen des Artensterbens. "Wir sind als Menschheit in der Lage, ungeheure Zerstörungskräfte zu entfesseln. Nicht durch Atombomben, sondern durch unsere Land-, Forst-, Fisch-, Rohstoff- und Energiewirtschaft. Insbesondere die industrielle Landwirtschaft ist ein Haupttreiber des Artensterbens".

An Hagedorns Sakko steckt ein Button mit dem Logo der Sustainable Development Goals, die sich die Vereinten Nationen 2016 auferlegt haben. Ein Ring aus 17 bunten Pizzastücken. Jedes Stück steht für ein zivilisatorisches Entwicklungsziel der Menschheit. Keine Armut, kein Hunger, Hochwertige Bildung. Aber auch: Leben unter Wasser und an Land erhalten. Wie viele Menschen würden wohl überhaupt das Logo der SDGs erkennen? Wahrscheinlich die wenigsten. Und wie viele haben schonmal etwas von den Aichi-Zielen gehört? Sie sind das Pendant des Pariser Klimaabkommens für den Biodiversitätsschutz. Weder die nachhaltigen Entwicklungsziele noch der Biodiversitätsschutz sind im breiten gesellschaftlichen Diskurs angekommen.

“Es geht nicht ohne die großen Zusammenhänge. Es muss sich global etwas verändern.” Dafür fand diesen Monat die Weltnaturkonferenz (Öffnet in neuem Fenster) im chinesischen Kunming statt. Das ernüchternde Ergebnis: Die Staaten drücken sich vor konkreten Maßnahmen und vor allem vor konkreter Finanzierung. “Was wir für den Erhalt unserer Biodiversität brauchen, ist eine umfassende Transformation der Landwirtschaft und eine globale Ernährungsumstellung”, sagt Hagedorn. Eine Reduktion von bis zu 95 Prozent der Fleischproduktion müsste aus wissenschaftlicher Sicht erfolgen. “Durch den hohen Fleischkonsum brauchen wir zu viel Landfläche, um Futtermittel anzubauen. Das ist total ineffizient, um eine wachsende Weltbevölkerung zu ernähren und zerstört natürliche Lebensräume im großen Stil.” Aber auch hier wieder die gute Nachricht: Es gibt die gesellschaftlichen Lösungen und wissenschaftlichen Modelle, sie müssen nur umgesetzt werden.

“Vielleicht braucht es auch ein greifbares Ziel für den Schutz der Biodiversität. So etwas wie die 1,5-Grad-Grenze für die Klimakrise. Ein Beispiel wäre das Half-Earth-Ziel”. Dabei soll die Hälfte der Fläche auf der Erde für den Naturschutz eingesetzt werden. Wenn wir das schaffen, könnte man 85 Prozent aller Arten noch retten, bevor es zu spät ist.

Die restlichen 15 Prozent zu bewahren, wird wegen der hohen Aussterberate schwierig. Sie werden wohl für immer von diesem Planeten verschwinden. So wie die drei Dinosaurier im Eingang des Museums. Die Botschaft dieser ausgestorbenen Riesen könnte eindrücklicher nicht sein: Die Menschheit muss unbedingt aufhören, Meteorit zu spielen.

Danke fürs Treibhauspost-Lesen und weiterempfehlen! 🌱

Schönes Wochenende
Julien



Aufnahmen mit freundlicher Genehmigung des Museums für Naturkunde (Öffnet in neuem Fenster) in Berlin.

Kategorie Forschung

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