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#Klimawissenschaften #Bericht
Die zehn unbequemsten Ergebnisse der Klimaforschung
Wissenschaftler°innen haben den letzten Teil des neuen Weltklimarat-Berichts geleakt – bevor die Politik den Rotstift ansetzen kann. Die Öffentlichkeit soll ungefiltert von den Lösungen der Klimakrise erfahren, bevor es zu spät ist. ~6 Minuten Lesezeit
Es klingt wie der Anfang von The Day After Tomorrow: Eine internationale Gruppe von Wissenschaftler°innen veröffentlicht geheime UN-Dokumente, um die Menschheit vor einer nahenden globalen Katastrophe zu warnen. Was sich nach einem klassischen Roland-Emmerich-Plot anhört, ist allerdings Realität.
Die Gruppe von Wissenschaftler°innen nennt sich Scientist Rebellion; bei den UN-Dokumenten handelt es sich um den letzten Teil des aktuellen IPCC Reports, der erst März 2022 offiziell veröffentlicht wird; und bei der globalen Katastrophe um die Erderwärmung.
Das geleakte Dokument (Opens in a new window) ist eine Zusammenfassung für die Politik (Summary for Policymakers) und das Herzstück des aktuellen IPCC Reports. Es geht nämlich um konkrete Lösungen und Maßnahmen gegen die globale Erwärmung.
Wissenschaftler°innen, die Fakten schaffen
Uns läuft die Zeit davon, findet Nana-Maria Grüning. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité in Berlin und Mitglied der Scientist Rebellion. “Die Politik hört seit 40 Jahren nicht auf die Wissenschaft, obwohl sie wissen, wie schlimm es ist und was zu tun ist”, sagt die Molekularbiologin. “Wir müssen sofort handeln, um die Lebensgrundlagen unseres Planeten zu bewahren. Das ist nicht alarmistisch, sondern wissenschaftlicher Konsens.” Im Hinblick auf den Weltklimagipfel im November in Glasgow sei es fatal, wenn nicht alle Ergebnisse auf dem Tisch lägen.
Biologin Nana-Maria Grüning: "Es braucht einen Bewusstseinsruck in der Gesellschaft."
Laut Grüning sei die eigentliche Arbeit am geleakten Bericht nämlich schon abgeschlossen. Verschiedene wissenschaftliche Instanzen hätten ihn bereits auf Richtigkeit und Vollständigkeit überprüft. Dass der letzte Teil des Reports trotzdem erst in einem halben Jahr veröffentlicht werden soll, habe einen einfachen Grund: Ab jetzt können einzelne Staaten der UN (als Auftraggeber des Berichts) noch Passagen anfechten. So wurde laut Grüning beispielsweise im letzten Bericht die genaue Aufteilung der Treibhausgas-Emissionen nach Ländern gestrichen (Opens in a new window) – politisch wohl eine zu brisante Statistik und wissenschaftlich in dem notwendigen Detailgrad nicht zu 100 Prozent zu belegen.*
Wenn schon nicht im IPCC-Bericht, dann wenigstens in der Treibhauspost: der bisherige CO₂-Ausstoß nach Ländern.
Mit dem Leak möchte Scientist Rebellion der Öffentlichkeit die unbearbeitete Version vorlegen, so wie Wissenschaftler°innen sie geschrieben haben. Wir haben für euch die zehn wichtigsten Erkenntnisse herausgeschrieben – fünf Herausforderungen und fünf Lösungswege. Einige davon werden es wohl nicht in den finalen IPCC-Bericht schaffen, weil sie zu unbequem sind für einige Staaten. Hier könnt ihr sie trotzdem lesen.
Die fünf größten Herausforderungen
1) Wenn wir nichts ändern, wird sich alles ändern.
Unsere Zukunft ist völlig offen. Im Jahr 2100 werden wir eine Erderwärmung zwischen 1,5°C und 5,4°C haben. Der IPCC macht deutlich, dass die aktuellen Klimaziele der Staaten nicht ansatzweise mit dem Pariser Abkommen vereinbar sind, uns also aktuell eine Erderwärmung von deutlich mehr als 2°C erwartet – selbst wenn die Ziele umgesetzt würden.
2) Die Weltwirtschaft darf bis 2050 nicht weiter wachsen
Sie müsste, damit wir 2°C einhalten sogar leicht schrumpfen – verglichen mit heute um circa drei Prozent bis 2050. Denn je höher das weltweite BIP, desto höher die Treibhausgas-Emissionen. Zumindest solange das BIP nicht entkoppelt ist von fossilen Energieträgern, was momentan noch nicht in Aussicht steht. Der IPCC suggeriert damit nicht mehr und nicht weniger als einen bisherigen Grundpfeiler der globalen Wirtschaftsordnung neu auszurichten – das Wachstum. Laut Bericht beinhalten “die Szenarien mit den höchsten Emissionen ein schnelles, anhaltendes, ökonomisches Wachstum ohne weitreichende Klimaschutzmaßnahmen.” – oder mit anderen Worten: ein Weiter so.
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3) Die globalen Emissionen müssen jetzt ihren Höhepunkt erreichen
Um wie viel Grad sich die Erde erwärmt, hängt stark von zwei Fragen ab: Wann stoßen wir keine Treibhausgase mehr aus und wann ist der globale Höchstand der Emissionen erreicht? Letzteres müsste “sofort” sein, um 2°C in den nächsten Jahrzehnten nicht zu überschreiten. Das Problem: Die globalen Emissionen steigen immer noch um 1,3 Prozent pro Jahr. Das ist zwar langsamer als im vergangenen Jahrzehnt, ein Höchststand ist aber noch nicht in Sicht. China möchte ihn nach eigener Aussage beispielsweise erst 2030 erreichen.
Die globalen Treibhausgas-Emissionen nach Regionen – kein "Peak" in Sicht. Die Screenshots sind aus dem geleakten Bericht, der nicht gerade in HD ist.
4) Je reicher Menschen sind, desto höher ist ihr CO₂-Ausstoß
Ein Argument in Richtung aller, die mit dem Finger auf afrikanische Länder und Südostasien zeigen: "Die reichsten zehn Prozent der Menschen stoßen zehnmal so viele Treibhausgase aus wie die ärmsten zehn Prozent."
Allein das eine Prozent mit dem weltweit höchsten Einkommen ist für die Hälfte des weltweiten Flugverkehrs verantwortlich. Wer jetzt an russische Oligarchen und Fußballstars in Privatjets denkt – ja, die auch. Zu dem einen Prozent gehört man aber schon mit einem Netto-Einkommen von rund 50.000 Euro im Jahr.
5) Es fehlen jährlich zwei Billionen US-Dollar für Erneuerbare Energien
Die globalen Investitionen in Erneuerbare Energien und die dazugehörigen Technologien sind von rund 360 Milliarden US-Dollar (2012) auf 546 Milliarden US-Dollar (2018) gewachsen. Klingt erstmal gut. Die Summe müsste aber ganze fünfmal höher sein.
Fünf Lösungswege für unter 2°C
1) Erneuerbare Energien, Wälder und Lebensmittel – die Bereiche mit dem größten Einsparpotenzial bis 2030
An erster Stelle steht der Ausbau von Solar- und Windenergie. Zusammen haben die beiden Technologien das Potenzial mehr als sieben Gigatonnen CO₂ einzusparen. Außerdem sind sie jetzt häufig schon günstiger als fossile Energieträger.
Wälder zu erhalten und aufzuforsten, kann rund fünf Gigatonnen Treibhausgase einsparen – ganz ohne innovative Technologien.
Würden wir weniger Lebensmittel wegwerfen und weniger Fleisch essen, könnten wir ganze vier Gigatonnen einsparen. Zur Einordnung: Das Einsparpotenzial von Atomenergie liegt in etwa bei einem Viertel davon.
2) Der Ausstieg aus fossilen Energien ist unausweichlich
Der Aspekt ist nicht neu, aber konkreter und drängender denn je. Allein die bereits geplanten Emissionen durch fossile Energieträger (also zum Beispiel durch Restlaufzeiten von Kohlekraftwerken) sind doppelt so hoch wie das gesamte globale CO₂-Budget für 1,5°C. Davon abzuweichen, hieße ein riesiger finanzieller Schaden für Betreiber°innen und Investor°innen der Kraftwerke. Genauer gesagt ein Schaden von “mehreren Billionen US-Dollar”.
Und was passiert mit den ganzen Angestellten der fossilen Energiekonzerne? Für die hat der IPCC gute Nachrichten. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass eine Umstellung auf Erneuerbare Energien mehr Jobs schafft als sie kostet.
3) Auch individuelles Verhalten von Endverbraucher°innen ist entscheidend
Wichtige “Lifestyle Optionen”, die der IPCC nennt, sind unter anderem weniger Heizen und Klimatisieren, weniger Fliegen sowie öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Der Weltklimarat macht aber auch deutlich: Individuelle Verhaltensänderungen alleine können die Emissionen nicht signifikant reduzieren. Die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen zunächst gesetzt werden.
4) Viele Klimaschutzmaßnahmen sind extrem günstig
Die Hälfte der Maßnahmen, die bis 2030 notwendig sind, kostet weniger als 20 US-Dollar pro eingesparter Tonne CO₂. Es kommt noch besser: In jedem der Sektoren gibt es solche günstigen Lösungen. Die finanziellen Vorteile mancher Maßnahmen würden die Kosten sogar übersteigen.
Einzelne Maßnahmen und ihre Einsparpotenziale in den beiden Sektoren Energie und Landnutzung. Je dunkler die Balkenabschnitte, desto günstiger die Maßnahmen.
5) Klimaschutz geht einher mit der Bekämpfung von Armut und Hunger
Der IPCC widmet dem Zusammenspiel von Klimaschutz und den Sustainable Development Goals (SDGs) der UN einen ganzen Abschnitt. Das Ergebnis: Ein Großteil der Maßnahmen hat einen signifikant positiven Effekt auf die nachhaltigen Entwicklungsziele. Eine Umstellung auf pflanzenbasierte Ernährung hätte beispielsweise positive Auswirkungen auf Ernährungssicherheit, Gesundheit, sauberes Trinkwasser und fünf weitere SDGs.
Und jetzt?
Zwei Sachen werden aus dem geleakten Bericht deutlich. Erstens, die Klimawissenschaft ist sich einig, bezüglich Ursachen und Lösungen der Klimakrise – und zwar nicht erst seit gestern. Neu ist, dass dieses Mal politische rote Linien überschritten werden. So rüttelt der IPCC am heiligen Wirtschaftswachstum und der ungleichen Verteilung von Reichtum. Die Reduktion von tierischen Nahrungsmitteln wird nicht im Nebensatz als eine von mehreren Optionen erwähnt, sondern ist (auf Ebene der Endverbraucher°innen) die Maßnahme mit dem höchsten Einsparpotenzial überhaupt. In einem halben Jahr wissen wir, ob es diese und andere kritischen Punkte in die offizielle Veröffentlichung geschafft haben oder aufgrund politischer Interessenswahrung heraus gestrichen wurden.
Zweitens, die Lage ist so ernst, dass Wissenschaftler°innen persönliche Risiken auf sich nehmen, um die Öffentlichkeit zu informieren und Druck auf die Politik aufzubauen. Das ist in diesem Ausmaß eine relativ junge gesellschaftliche Entwicklung. Die Scientist Rebellion, die den Bericht geleakt hat, gibt es seit einem Jahr. Die Scientists for Future, die sich mit knapp 30.000 Wissenschaftler°innen hinter die Fridays-Bewegung stellen, seit zwei Jahren. Was noch vor kurzer Zeit undenkbar schien, ist mittlerweile Realität: Forschende gehen in Talk-Shows, streiken oder setzen sich in Bundespressekonferenzen (Opens in a new window) vor Mikrofone und Kameras. Die Wissenschaft ist laut geworden.
* In einer früheren Version des Artikels hätte an dieser Stelle der Eindruck entstehen können, dass die UN-Mitgliedsstaaten selbst aktiv in den Schreibprozess eingreifen können. Passagen ändern oder kürzen können jedoch ausschließlich die IPCC-Autor°innen.
Danke fürs Treibhauspost-Lesen! Bald gibt es uns seit einem halben Jahr. Egal, ob Du uns schon seit April abonnierst oder letzte Woche beim Klimastreik von uns gehört hast: es freut uns sehr, dass Du dabei bist! 🌱
Schönes Wochenende
Julien