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Ist Architektur Arbeit?

Das Narrativ, Architektur könne man*frau nur voll und ganz machen, spiegelt sich unter anderem in einer starken zeitlichen Vereinnahmung wider, die schon im Studium in luziden Nachtschichten eingeübt wird. Doch man*frau kann schließlich froh sein, in so einem exklusiven Beruf zu arbeiten. Oder?

Als Studentin habe ich eine Weile in einem Büro gearbeitet, in dem die Inhaber*innen auch wohnten. Tagsüber arbeiteten sie mit ihren Mitarbeiter*innen, abends zogen sie sich in ein eigens in den großen Raum eingebautes Element aus Holz zurück. Es war nach oben offen, enthielt ein kleines Schlafzimmer, eine Duschgelegenheit und ein Sofa, ein großes Schrankregal übernahm die Abtrennung zum Arbeitsbereich. Alles war selbst entworfen und gestaltet. Ich war mitten im Studium, und dieses Arrangement erschien mir romantisch und konsequent. Ja, zusammen Architektur machen, oder besser gesagt Architektur leben und jedes Detail der persönlichen Umgebung selbst entwerfen.

Einige Jahre später dachte ich oft an dieses Setting zurück. Konsequent war es gewesen, und Konsequenz war die wichtige Botschaft. Ich dachte daran, wie viel Lebenszeit die beiden in diesen Räumen verbrachten (ihre räumliche Situation änderte sich später zwar noch, aber blieb sehr fokussiert auf kurze Wege zur Arbeit), wie sie sich selbst genügten – und wie die Architektur ihnen genügte.

Unter anderem dieser Lebensentwurf steht für mich heute noch dafür, wie die Berufung zur Architektur Menschen und ihre Biografien ganz und gar vereinnahmen kann und wie sie zu einer Entgrenzung von Privatleben und Beruf führt. Ist dieser Einsatz der Maßstab, wird es schwierig, normale Bedürfnisse anzumelden, nach Entspannung, einem sinnstiftenden Ehrenamt oder Zeit für Freundschaften.

Welchen Mehrwert hat die Architektur für ihre Protagonist*innen? Welche Währung zahlt darauf ein, die eigenen Bedürfnisse über viele Jahre – nicht selten ein Leben lang – zurückstellen. Was ist der Gegenwert für so viel Lebenszeit.

Die in der Architektur schon lange wirkenden Narrative passen gut in unsere neoliberale Zeit. Sarah Joffe untersucht in ihrem Buch mit dem sprechenden Titel "Work won't love you back", wie es in den letzten Jahrzehnten in der Arbeitswelt regelrecht zum Trend wurde, seine Arbeit zu lieben. Nicht zufällig geht dieser Trend wunderbar mit kapitalistischen Interessen zusammen und der Grat zur Ausbeutung ist schmal. Wer seine Arbeit liebt, kann gut und gerne viel arbeiten und hat es schwerer, viel Lohn einzufordern. Das zeigt sich besonders in Berufen, die vorwiegend von Frauen ausgeübt werden und daher feminisiert werden, genau diese sind auch schlechter bezahlt.

Das Narrativ der Berufung führt in der Architektur neben der Bereitschaft zu viel Arbeit auch zur Isolierung. Die kleine Schwester der Berufung ist die Konkurrenz. Vielleicht führt dies zur großen Beliebtheit von Architekturwettbewerben um die beste Lösung eines einzelnen Autors. Der kompetitive Anteil scheint auch dafür zu sorgen, dass sich Architekturschaffende nicht leicht zusammenschließen, um sich zum Beispiel gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu wehren. Dazu müssten sie sich solidarisieren und anerkennen, dass sie in einem Boot sitzen.

Marisa Cortright analysiert in ihrem Buch „Can this be? Surely this cannot be.“ Architectural Workers Organizing in Europe die Situation von Architectural Workers in Europa und wie ihre oft prekären Bedingungen mit einer abgehobenen Arbeitskultur zusammenhängen. Sie definiert die Architectural Workers als weisungsbefugt im Gegensatz zu Architects. Auf die Fragestellung, warum Architectural Workers mit unzumutbaren Arbeitsbedingungen sich nicht organisieren antwortet einer ihrer Interviewpartner: “Most people just don’t have time. That’s one way that the system works against unionizing and collective action […]“ Doch die Situation ändert sich. Die in England ansässigen informellen Initiativen Future Architects Front (Öffnet in neuem Fenster) und die section of architectural workers (Öffnet in neuem Fenster) setzen sich gegen ein gegen die ausbeuterische Arbeitskultur und adressieren die RIBA. Architectural Workers United (Öffnet in neuem Fenster) in Nordamerika hält Informationen und Ressourcen bereit, um akut zu helfen. Es bleibt spannend, ob sich diese Organisationen mittelfristig institutionalisieren, um zum Beispiel berufspolitisch oder gewerkschaftlich aktiv zu werden.

In „Schwarzer Rolli, Hornbrille“ gehe ich oft auf die Situation von Müttern ein. Aus meiner Sicht ist es ein untragbarer Zustand, dass sogar in Zeiten des Fachkräftemangels noch so viele gut ausgebildete Architektinnen aus strukturellen Gründen nicht, oder unter ihren Möglichkeiten arbeiten. Während der Lektüre von Sarah Joffe wird mir bewusst, dass an Mütter wie an Architekt*innen ähnlich hohe Anforderungen gestellt werden. Die Mutter scheitert am marienartigen Mutterbild der Gesellschaft, die*der Architekt*in an den unzeitgemäßen Stereotypen der Berufskultur. Wie in der Architektur nehmen auch viele Mütter strukturelle Rahmenbedingungen als ihr individuelles Problem wahr und versuchen zunächst, es allein zu lösen. Sie solidarisieren sich nicht und streiken nicht, eher bleiben sie in Konkurrenz. Architectural und Care Worker gehen ihrer gefühlten Berufung auf den Leim. Die überhöhten Erwartungen an sie, der Glaube, ihre Tätigkeit sei etwas Außergewöhnliches, führen sie bereitwilliger in die Isolation und Erschöpfung. Sarah Joffe beschreibt für die Kunst, wie Sorgetragende und Künstlerpersönlichkeit sich gegenseitig bedingen: "The romantic attachment of the artist to his work is the counterpart of the familial love women are supposed to have for caring work, and these two halves together make up the labor-of-love narrative that shapes our perception of work today" (Jaffe 2021, S. 180). Was ist aber, wenn die Medaille nur eine Seite hat, und eine Person beides leisten muss? Welche Konzessionen macht eine Mutter, um endlich wieder im Entwurf arbeiten zu können? Wie vereinbart sie die (selbstgewollte) Vereinnahmung durch die Architektur mit der gesellschaftlichen Anforderung an sie als Mutter? Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht werfen auf Architektinnen, die auch Mütter sind, aber ebenso auf bewusst kinderlos geblieben Architektinnen und diejenigen, die der Architektur zwischen 30 und 45 aus Gründen den Rücken zukehren.

Die Mystifizierung des Entwerfens erzeugt sehr viel Bereitschaft, Konzessionen zu machen zu Lasten der eigenen Zeit. Was wäre, wenn Architektur in kürzerer Zeit erledigt werden müsste? Welche Prozesse würden als erstes entfallen, welche vereinfacht? Welcher Anteil ist Mystifizierung, welcher konkrete Arbeitsanforderung "ohne die es nicht geht", welche sind eingeübte Narrative? Ein Projektleiter mit 20 Jahren Teamverantwortung antwortete mir auf die Frage, ob Präsenzkultur und Entgrenzung des Privatlebens wirklich sein müssten: „Das ist ein selbstgewählter Hype. Wenn ein Entwurf sauber und konzentriert durchgearbeitet wird und rechtzeitig Entscheidungen getroffen werden, ist es durchaus machbar, rechtzeitig nach Hause zu gehen.“ In Skandinavien sind die Durchschnittsarbeitszeiten kürzer. Hier wird auch die Care-Arbeit statistisch gerechter von beiden Elternteilen erledigt.

Die Branche tut gut daran, die der Architektur inhärente Zeitkultur mikroskopisch zu analysieren, um strukturelle Ursachen zu identifizieren und entschärfen zu können. Solange das Zeitdiktat bleibt und Architekturschaffende selbst ihr Gatekeeper sind, können einige Lanzen für die Gleichberechtigung nicht gebrochen werden. Denn es bleibt dabei, dass die Präsenzkultur nur erfüllbar ist für eine eingeschränkte Personengruppe, und diese ist im Wesentlichen schon am Ball. Es ist wunderbar, in der eigenen Arbeit Erfüllung zu finden. Dennoch verwenden wir auch für intrinsische Aufgaben unser knappstes Gut: unsere Lebenszeit.

Wie geht es euch mit dem Thema? Glaubt ihr, man kann Architektur in Teilzeit machen? Ihr könnt einfach auf diese E-Mail antworten, ich freue mich über eure Kommentare oder Nachrichten, über Themenwünsche und Anmerkungen.

herzlich, Karin

Buchempfehlungen

Über das Thema Zeitkultur schreibt Teresa Bücker in ihrem im Oktober erschienen Buch Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit (Öffnet in neuem Fenster).

Marisa Cortrights Buch aus dem Jahr 2021 „Can this be? Surely this cannot be.“ Architectural Workers Organizing in Europe (Öffnet in neuem Fenster) untersucht die Bedingungen von Architekturschaffenden in Europa.

Sarah Joffe's  Work won't Love You Back. How Devotion to Our Jobs Keeps Us Exploited, Exhausted, and Alone (Öffnet in neuem Fenster) untersucht die Auswirkungen von Berufung auf das Arbeitsleben in verschiedenen Branchen. 

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30.01.2023, 19:30 Uhr, online
Online-Lesung und Talk mit den Vorleser_innen (Öffnet in neuem Fenster)

01.03.2023, Bonn
Impuls zur Equal Care Day-Konferenz (Öffnet in neuem Fenster)

08.03.2023, Hamburg
Buchvorstellung und Panel, BDA Hamburg

02.05.2023, Potsdam
Buchvorstellung beim Studierendenkollektiv Perspektiv;wechsel, FH Potsdam

23.05.2023, Aachen
Vortrag in der Reihe ArchitektINNENwelten (Öffnet in neuem Fenster), FH Aachen

21.07.2023, Paderborn
Buchvorstellung und Kunst in der märz Manufaktur (Öffnet in neuem Fenster)

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