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In der fünften Ausgabe: IM WALD +++ ATEMNOT UND MACHTAUSÜBUNG +++ GRAMMATIK +++ PAUL BEATTY +++ CARL WEISSNER +++ KÜRBISGULASCH

 Hallo!

Es gibt hier einen tollen sprunghaften Abonnent*innenzuwach, nach einer Empfehlung im Newsletter von Maria C. Piwowarski, der berühmtesten Buchhändlerin und Literaturinfluencerin Berlins. Sie arbeitet um die Ecke von wo mein Haus wohnt. Und wir sind sehr verschieden! Maria: so lieb, so herzlich, so Instagram. Ich: so kratzbürstig, so wütend, so Twitter. Marias Newsletter (Link unten) ist der mit Herz, dieser hier mehr der mit Schmerz.

Ich darf jetzt manchmal mit Maria und ihrem berühmten Hund im Berliner Umland im Wald wandern gehen. Eine große Ehre – Reiten mit Denis Scheck und Juli Zeh ist nichts dagegen. Im Wald halten wir dann unsere Gegensätzlichkeit aus, und manchmal springt ihr Hund mich an. Darauf muss man bei diesen Wanderungen immer vorbereitet sein, sonst fliegt man plötzlich bei Oranienburg rücklings in die Wildschweinscheiße. Ein anderer von Marias auserwählten Begleitern (und Abonnent dieses Newsletters!) hat schon einen bemerkenswert eleganten Tänzelschritt einstudiert, mit dem er die Hundeattacke ins Leere laufen lässt.

Hier ein Foto von so einer Wanderung:

Manchmal lauert der Hund mir auch vor der Buchhandlung auf, über die Maria herrscht, dem "ocelot" in der Brunnenstraße, springt mich an und zwingt mich, drinnen mit ihr Kaffee zu trinken. Bei Dunkelheit gibt es Grauburgunder. Maria radelt dann irgendwann nach Hause, und ich besaufe mich mit dem Hund bis tief in die Nacht. So wild leben wir hier in Berlin-Mitte.

1. Die Lage

Der Bundeskanzler atmet nicht. Ich habe eine abgebrochene Schauspielausbildung, deshalb merke ich sowas, und es tut mir weh. Ich mache mir Sorgen. Ich fürchte eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff ganz oben, verursacht durch den zu starken Wunsch, eigentlich nicht anwesend zu sein. Wenn Olaf Scholz spricht, rechne ich jeden Augenblick mit einer Ohnmacht. Vielleicht sind seine Auftritte aber auch gespielte Ohnmachten in Zeitlupe. Vielleicht signalisiert er einfach, dass er nichts tun wird, weshalb ihm alle zu Hilfe eilen und die Arbeit für ihn erledigen müssen. Olaf Scholz lässt das Zentrum der Macht nicht leer, er droht aber ständig damit. Man bleibt auf dem Sprung und hat für den Notfall ein Sauerstoffgerät in der Tasche.

Macht, die sich nicht als Macht erkennbar machen will, die sich beim Akt der Machtausübung gar nicht mehr ertappen lassen will, ist in der offenen Gesellschaft natürlich ein kleines Problem. Schon die Vorgängerin von Olaf Scholz hat man für zu geschickte geräuschlose Machtausübung kritisiert, und ich hätte nie gedacht, dass man das noch steigern kann. Das man es ganz in einen schalltoten Raum versetzen kann, hundert Prozent passiv-aggressiv. Macht mir Kopfschmerzen, ganz real beim Ansehen von Scholz-Pressekonferenzen, die in mir immer den Impuls auslösen, ihn zu trösten. Aber ich möchte den Bundeskanzler gar nicht trösten müssen. Das macht mir dann Kopfschmerzen im übertragenen Sinne.

2. Beruf des Monats

Der Beruf des Monats ist Literaturübersetzer*in, das mache ich selber, da kann ich was sagen.

Ein bisschen empfinde ich mich natürlich auch als Schande für den Berufsstand, weil viele Menschen das studieren, während ich mit einem mir unter zwielichtigen Umständen angelebten Englisch da so reingerutscht bin. Während mir eingeübte Wege von Übersetzer*innen, sich miteinander zu verständigen, im Verband oder im wirklichen Leben, völlig fremd vorkommen. Und mein Verhältnis zu den Kolleg*innen ist völlig anders, weil ich das Literaturübersetzen nie geplant hatte. Da fühle ich mich immer ein bisschen unwohl. (Dieser Newsletter ist eigentlich der erste minutiös durchgeplante Karriereschritt meines Lebens, bitte macht was draus!)

In meinen Augen, als Autodidakt, besteht der Beruf darin, unter Zeitdruck und ohne große Vorbereitung überraschendes Material zu synthetisieren. Zum Beispiel ein Klarinettenkonzert nach Gefühl auf Klavier zu transponieren, ohne dass das Quäken der Klarinette verloren geht. Der Beruf besteht aus der Erfindung von Notlösungen am Fließband, und sie müssen auch noch inspiriert wirken. Dabei bringen die besten Originaltexte eigene Persönlichkeit mit, für deren Übersetzung man immer auch Teile der eigenen Übersetzer*innen-Persönlichkeit einsetzen muss.

Chuzpe hilft.

Ich kenne deutsche Übersetzungen berühmter amerikanischer Autor*innen, denen die Übersetzung die Luft absaugt wie Olaf Scholz dem Amt des Bundeskanzlers. Manche Übersetzer*innen vergessen ihre Persönlichkeit zuhause, andere glauben, dass man gar keine haben darf. Und manche Lektor*innen lektorieren das Eigene einer Übersetzung mit einer Art sadistischer Freude wieder heraus, vielleicht auch, weil ihr selbst erlassenes Neutralitätsgebot in Stilfragen sich zufällig mit ihren persönlichen Grenzen trifft, Eigenes und Stil zu erkennen und zu schätzen. Im Notfall einfach Grammatik und Schluss!

Grammatik ist der Fluch der deutschen Sprache, die Verliebtheit darin. Hoch- und Schriftdeutsch sind sehr konfuzianisch, Verwaltungssprache. Deutsche Sprache ist ein gelebter Verwaltungsakt. Alles, was im ganz lebenspraktischen amerikanischen Englisch umherspringt, kann man mit deutscher Grammatik umstandslos zum Stillstand bringen.

Ohne ständige bewusste Rebellion gegen das Ordnungsbedürfnis der deutschen Sprache kommt man beim Übersetzen aus dem Englischen nicht weit, meine Meinung. Ohne sie ist das Übersetzen so etwas wie korrektes Einparken unter Einhaltung aller Abstandsregeln. Für mich gehört zum Beruf viel Offenheit für Chaos und Kontrollverlust.

Aber ich bin Autodidakt.

3. Promiklatsch

Kaum eine Gruppe hat sich in der Pandemie so blamiert wie die Prominenten, meine Meinung. Kaum eine wurde von der Gesellschaft stolzer vor sich hergetragen, und kaum eine war der Lage weniger gewachsen. Prominente sollen sich schämen. Prominenz kann man von mir aus abschaffen. Ich protestiere hiermit scharf gegen diese von mir selbst eingeführte Rubrik in meinem Newsletter.

4. Buchtipps

Heute etwas, das ich selbst übersetzt habe. Meine neueste Neuerscheinung ist „Tuff“ von Paul Beatty bei btb, dabei ist die Übersetzung schon ein paar Jahre alt. Eine liebvoll-satirische Geschichte von einem dicken schwarzen Kleinkriminellen in New York, der Politiker wird, und einem durchgentrifizierten schwarzen Rabbi, der auf lustige Weise erfolglos versucht, ihn zu betreuen. Der Debütroman von Paul, der inzwischen Bookerpreisträger ist. (Es gibt grandiose Fotos von ihm und Camilla, Duchess of Cornwall bei der Preisverleihung.)

Übersetzungsprobleme: Coolste schwarze amerikanische Coolness in East Harlem meets uncoolen weißen Übersetzer in Berlin.

Das Coolnessproblem: Eine meiner größten Leidenschaften. Coolness ist gar nicht so „cool“, finde ich immer. Coolness kann einfach nicht anders, sie ist also nicht nur eine Stärke. Ein Übersetzer, mit dem ich große Probleme habe, ist der verehrte und gefeierte Carl Weissner, der 2012 verstarb und in den Sechziger- und Siebzigerjahren US-amerikanischen Burschen-Underground nach Deutschland geholt hat, Burroughs und Bukowski etc. Der aber immer auch seine eigene Geilheit auf Coolness mit übersetzt und eine Art „cooler“ Coolness erfunden hat, bei der mich oft die Fremdscham packt.

(Foto: Frank Zappa, übersetzt von Carl Weissner, aus Frank Zappa: "Plastic People - Songbuch", Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1977)

Bei 54books hat Simon Sahner ausführlich (und gerechter als ich) über Weissner geschrieben, da gibt es auch Übersetzungsbeispiele, ich verlinke den Text unten.

Meine eigene Lösung des ersten Übersetzungsproblems: Coolness drückt sich oft als Nichtstun aus. Der coole Übersetzer findet zur Coolness einen sachlichen Zugang und setzt nicht noch einen drauf.

Das Hautfarbenproblem: interessant. Mich stört, mit welcher Leichtigkeit manche erklären, Hautfarbe oder kulturelle Identität dürften beim Übersetzen keine Rolle spielen. Jede Übersetzung ist ja ein kritisierbares Angebot, auch die eines weißen Übersetzers von schwarzer Literatur. Und zwischen den Erfahrungen einer afrodeutschen Frau und eines weißen Mannes in Deutschland oder den USA liegen Welten.

Warum sollte das keine Chance sein, warum sollte sich das nicht verwerten lassen? Warum sollten weiße Übersetzer*innen von schwarzen Übersetzer*innen nicht etwas über POC- Literatur lernen können? Oder vielleicht sogar über die Lebenswirklichkeit von Menschen schwarzer oder brauner Haut, samt der Rassismuserfahrungen, die ein Teil von ihr sind?

Und letztendlich: Warum sollten weiße Übersetzer*innen nicht einfach für eine Weile Platz machen? Wir sollten darüber reden, gleich nächste Woche, wann, wo?

(Meine Ausrede bei „Tuff“: Der Autor wollte mich. Aber, na ja. Auch Autoren können sich irren.)

Noch einmal zurück zum Coolnessproblem des Literaturübersetzens: Das coolste Deutsch finde ich heute den von Jugendlichen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund entwickelten Slang. Wenn ich lebendiges, gewitztes, unverschämtes Deutsch hören möchte, gehe ich ein paar Stunden in Neukölln die Sonnenallee auf und ab und sammle ein paar Satzfetzen – ein Genuss. Manchmal mit Schreckmomenten, aber doch ein Genuss.

Ich kann mit meinen Schätzen bloß leider nichts anfangen. Ich kann Harlemer Coolness nicht in Neuköllner Migra-Slang übersetzen, weil der zu stark lokal konnotiert ist. Da bin ich jedes Mal ein bisschen traurig.

5. Schlusswort

Danke fürs Lesen. Danke fürs Abonnieren. Danke fürs Weitersagen, Dank im Voraus für Feedback aller Art. Danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht! Und bitte ab und zu tief Luft holen.

Links und Vids

Marias Newsletter:

https://steadyhq.com/de/mariachristinapiwowarski/about (Öffnet in neuem Fenster)

Luftleerer Raum:

https://www.youtube.com/watch?v=E43-CfukEgs (Öffnet in neuem Fenster)

Babelwerk, die sehr schöne Übersetzungsplattform vom Deutschen Übersetzerfonds:

https://babelwerk.de/ (Öffnet in neuem Fenster)

„Tuff“:

https://www.genialokal.de/Produkt/Paul-Beatty/Tuff_lid_44578227.html (Öffnet in neuem Fenster)

Carl Weissner:

https://www.54books.de/der-amerikanische-deutsche-zum-geburtstag-von-carl-weissner/ (Öffnet in neuem Fenster)

Gleich nach Verfertigung dieses Newsletters habe ich gekocht: 

https://cookiteasy.at/2021/01/13/kartoffel-kuerbis-linsengulasch/ (Öffnet in neuem Fenster)

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