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In der vierten Ausgabe:  AUSGELIEFERTSEIN +++ FUSSMASSAGE +++ WILDE TIERE +++ WILDE KÜNSTLER +++ SPIELEN +++ SCHOKOLADE

Hallo,

ich weiß alles über die Besucher meiner Newsletter-Seiten: Anzahl, Ort, Land, Browser und Betriebssystem. Nur keine Namen. Ich teile jetzt einfach mal ein paar Schätze aus meinem Data Mining mit euch:

Euer Lieblingsbrowser ist Safari. (Echt jetzt?) Überraschend viele nutzen als Betriebssystem Linux - elf Prozent (im weltweiten Vergleich sind es nur zwei bis drei Prozent). Das wundert mich nicht, der „Bessere Weltuntergang“ entsteht auf einem Linux-Rechner und strahlt das einfach aus. Aber die meisten von euch kommen mit dem iPhone.

Ihr kommt aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Kanada, den USA, Polen und der Russischen Föderation, unter anderem, und ausnahmslos aus tollen Städten. Mein Dashboard zeigt mir Hitlisten an, die ich auf verschiedene Tage eingrenzen kann, und an meinem Lieblingstag kamen die meisten von euch aus Moosach, New York City und Kleinmachnow. In dieser Reihenfolge. Daraus kann ich mir jetzt mein eigenes Roadmovie basteln, das wird sehr lustig. Danke für euren Input!

1. Die Lage

Besser als dieser Tweet (Öffnet in neuem Fenster) kann ich es auch nicht sagen: Wir können uns nicht herausoptimieren aus dieser Pandemie, wir entkommen ihr nicht, weil wir geistig gesund sind oder Therapie machen oder Tagebuch schreiben. Wir durchleben das Trauma, und die Systeme lassen uns im Stich.

Seit zwei Jahren. Ohne ersichtliche Lernkurve.

Die Strukturen, die uns hätten schützen sollen, haben uns aufgegeben. Sie waren vielleicht nie zu unserem Schutz gedacht, sondern nur zum eigenen Erhalt. Eine Drohkulisse, struktureller Selbstzweck.

Die Pandemie ist für mich eine Erfahrung tiefer Schutzlosigkeit. Des Ausgeliefertseins. Im Bezirk mit oft der zweithöchsten Inzidenz Deutschlands, in einer Straße, durch die immer wieder die Querdenker marschieren, auf und wieder ab, direkt unter unseren Fenstern. Ausgeliefert weniger dem Virus selbst als Menschen, die sich weigern, andere vor ihm zu schützen oder ihn überhaupt als Realität anzuerkennen.

Sofort fällt mir ein, dass dieser Newsletter sich vorgenommen hat, komplexere Formen von Trost anzubieten. So geht es nicht! Was tun?

Eine Freundin hat mir ein Fußmassagegerät empfohlen. Ein Ei mit zwei Löchern für die Füße, die dann mechanisch durchgeknetet werden. Ich habe aber zu große Angst, dass ich den Kopf reinstecken würde.

Ich halte mich fest an dem Gedanken, dass Traumatisierung auch etwas ist, über das sich auf heilsame Weise nachdenken lässt. Und dass es in einer Gesellschaft der Traumatisierten vielleicht erst dieses Nachdenken geben muss – das die Traumata all derjenigen einschließen muss, die bei uns aus anderen Schmerzgebieten angespült werden –, bevor wir wieder ein Gefühl von Gemeinschaft entwickeln und uns gegenseitig trösten können.

2. Tier des Monats

Ich glaube inzwischen, dass man menschliche Gemeinschaft gut in der Gemeinschaft mit Wildtieren üben kann. Ich lebe nämlich nicht nur seit zwei Jahren in Angst, ich lebe genauso lange in einer merkwürdigen Gemeinschaft mit Nebelkrähen. In meinen Kolumnen für den „Merkur“ habe ich schon viel darüber geschrieben, und ich gehe immer davon aus, dass alle Menschen diese Texte gelesen und auswendig gelernt haben, aber das ist vielleicht gar nicht so. Also:

In Indien hatte ich einmal eine Begegnung mit Krähen. Ich fühlte mich auf eine intensive Weise wahrgenommen, die ich mir nicht erklären konnte. Dann las ich, dass ich mich wahrscheinlich nicht getäuscht hatte – dass Rabenvögel, zu denen die Krähen gehören, Menschen am Gesicht wiedererkennen, dass sie sich Erfahrungen mit ihnen merken und Bindungen zu ihnen aufbauen können.

Ich lebe hier in Berlin sowieso unter Krähen. Sie sind größer und dicker als in Indien, dafür sind ihre Schnäbel nicht ganz so spitz. Zu Pandemiebeginn habe ich eine Walnuss aufs Fensterbrett gelegt, in der Hoffnung auf Krähenkontakt. Mir war nicht so ganz klar, wie intensiv er werden würde.

Ich bin fast augenblicklich von einer Krähe adoptiert worden – einem besonders struppigen, verwuschelten Exemplar. Sie begrüßt mich manchmal auch auf der Straße, und ein paar Mal ist es vorgekommen, dass sie mich in den Baumkronen ein Stück auf meinem Weg begleitet. In diesem Sommer und Winter hat sie einen festen Partner, und beide kommen jeden Tag ein paar Mal zu mir, auch während ich dies schreibe. Sie sitzen auf dem Fensterbrett und zerhacken ungeschälte Erdnüsse oder versuchen, sich mehrere davon in den Schnabel zu stecken (sie schaffen bis zu drei, über Eck).

Das sind große Tiere. Sie haben spitze Schnäbel. Wenn sie auf Augenhöhe aus einem Baum auf mich zufliegen, bekomme ich Angst. Wenn sie im Anflug merken, dass ich noch am Fenster stehe, bekommen wiederum sie Angst, machen eine Armlänge vor mir eine Vollbremsung mitten in der Luft – ein wirklich beeindruckendes Schauspiel – und drehen ab.

Das passiert oft. Nähe und Distanz werden täglich neu ausgehandelt. Wir gehen oder fliegen mit großer Neugier aufeinander zu und bleiben einander unheimlich. Sie schrecken vor mir zurück und ich vor ihnen, zum Beispiel wenn ich zusehe, wie sie einen Hausspatz schlagen oder Fleischstücke aus dem Kadaver einer Ratte reißen, die auf der Straße von der Tram überfahren wurde.

Und trotzdem kommen diese Aasfresser dann wieder zu mir. Und trotzdem empfinde ich es jedes Mal als eine Art Gnade, dass sie mir so viel Nähe erlauben.

Freund*innen, die von dieser seltsamen Beziehung wissen (oder die Videos davon in meinen Insta-Stories sehen), fragen immer, warum ich den Krähen keine Namen gebe. Und ich sage dann: Weil ich die Fremdheit zwischen uns nicht verschleiern will. Und weil ich sie wirklich nicht lieb oder niedlich finde.

Das sind keine Haustiere. Wir können uns aber trotzdem aufeinander verlassen.

Woher weiß ich überhaupt, dass ich mit einem anderen Menschen mehr gemeinsam habe als mit einer Krähe? Davon ausgehen kann nicht nicht. Jede enge Beziehung basiert auf dem Aushalten eines Quantums unüberwindlicher Fremdheit. Haustiere unterwerfen sich uns oder tun so als ob, oder wir unterwerfen sie uns, auch durch Verniedlichung. Ich möchte nicht wissen, wie meine Krähen reagieren würden, wenn ich versuchen würde, sie mir zu unterwerfen.

Und das wäre für das Einüben menschlicher Gemeinschaft ja schon ein wichtiger Punkt: nicht zu versuchen, die anderen zu unterwerfen.

3. Promiklatsch

Kann man in Deutschland eigentlich auf anderem Weg prominent werden als über das besonders intensive Ausstrahlen von Durchschnittlichkeit? Hat jemand von euch ein paar Klatschgeschichten dazu? Ich bin gerade so leer.

Vor ein paar Tagen musste ich einen Nachruf schreiben, auf Herbert Achternbusch, den bayerischen Filmkünstler, Maler, Dichter, Performer, der für mich sehr wichtig war, als ich in München gelebt habe. Ich hatte oft mit seinem Umfeld zu tun, immer zaghaft, ganz am Rand. (Einmal habe ich mit einer seiner Töchter getanzt.)

Das war ein Künstler, und einmal, 1977, hat ihm die bundesdeutsche Kulturprominenz einen Preis verleihen wollen. In meinem Nachruf zitiere ich eine Reportage aus dem „Spiegel“, die beschreibt, wie er damit umgegangen ist. Als einer, der anerkannt werden wollte, ohne mit der Eitelkeit der Prominenten umgehen zu müssen, die ihm Anerkennung versprachen. Ich habe den Nachruf unten verlinkt.

4. Buchtipps

Während ich meine Krähenfreundschaft entwickelt habe, habe ich Bernd Heinrich gelesen, um mich zu bilden. Sein Buch „Die Weisheit der Raben“ war gerade bei Matthes & Seitz als Paperback wieder aufgelegt worden. Die Raben sind die größeren, noch etwas klügeren Geschwister der Krähen, und Bernd Heinrich ist ein Biologe und Marathonläufer, der in Polen geboren wurde, in Schleswig-Holstein Unterschlupf fand und dann im Nordosten der USA landete.

Dort betreibt er unter anderem Rabenforschung, auf sportliche Weise. Weil Raben keine Vegetarier sind, schleift er ihnen halbe Kuhkadaver in den Wald und beobachtet, was sie damit anstellen. Er klettert auf hohe Bäume, um Nester zu inspizieren, und zieht junge Raben in Volieren auf. Sie akzeptieren ihn als Elterntier, und er geht – zu Fuß – mit ihnen in den Wald, um zu sehen, wie sie sich die Welt erobern.

Eine zentrale Vermutung des Buches ist, dass Rabenvögel in der Evolution mehr Intelligenz mitbekommen haben, als ihnen nützt, und dass sie mit dieser überschüssigen Intelligenz spielen. Sie lösen blitzschnell experimentelle Aufgaben. Sie necken Menschen oder Hunde, indem sie sie aus der Luft mit Kieselsteinen bewerfen oder am Schwanz ziehen (nur die Hunde).

Eine weitere Vermutung Heinrichs lautet, dass Raben früh Jagdgemeinschaften mit Wölfen gebildet haben, weil sie mit ihren Schnäbeln das Fell toter Tiere nicht aufreißen können. Sie führen die Wölfe zu den Kadavern, die Wölfe übernehmen die Häutung, dann fressen beide Arten gemeinsam (und die Krähen zwicken die Wölfe in den Schwanz). Dieses Verhalten ist durch Beobachtungen belegt.

Heinrich prüft auch die Berichte von Inuit, dass Raben sie zu toten Robben führen, und er vermutet, dass  zwischen Mensch und Rabe ebenso uralte Jagdgemeinschaften existieren. Dabei trennt er das wissenschaftlich Beweisbare immer gründlich von den Vermutungen.

Aber die Vermutungen erklären mir vielleicht, warum ich mich von Krähen immer so herausfordernd angeblickt fühle: Sie wollen spielen. Eine Gemeinschaft herstellen, zu der sie die Befähigung schon mitbringen. Wissenschaftlich bewiesen ist nur, dass sie es können.

Hier klettert Bernd Heinrich gerade auf einen Baum, ich verlinke die Quelle unten:

Es ist seltsam, dass wir nicht erfassen können, was Tiere wollen, aber gleichzeitig von unserer eigenen Überlegenheit völlig überzeugt sind. Bei Suhrkamp ist gerade ein Wälzer erschienen, der mich interessiert. Ich traue ihn mir nicht ganz zu, aber ich habe ihn mir trotzdem auf die Leseliste gesetzt. Das Buch trägt den Titel „Das rationale Tier“. 671 Seiten Kognitionsforschung. Der Autor heißt Ludwig Huber und ist Professor an der Veterinärmedizinischen Universität Wien.

Verfügen Tiere über Bewusstsein und Rationalität? Handeln sie zielgerichtet, und genau wo verläuft die Grenze zwischen Tier und Mensch? Es gibt viele neue Forschungsergebnisse, die diese Grenze verrücken. Aber sie zu ziehen und ihren Verlauf zu bestimmen, bleibt das wissenschaftliche Interesse des Buches. Mein Interesse wäre vielleicht eher, sie mir versuchshalber wegzudenken und zu schauen, wo ich dann lande.

Trotzdem könnte auch dies ein Buch sein, das uns über den Anthropozentrismus in Verhältnis zu Tieren hinweghilft und einen nüchterneren Blick darauf erlaubt, was da eigentlich ist (und nicht ist). Damit wir irgendwie weiterkommen und Tiere nicht immer in Nutztiere und wilde Monstren einteilen oder gleich alle zu wehrlosen Opfern des bösen Menschen erklären, worauf wir dann die Rolle der edlen Retter einnehmen.

Damit wir einfach klüger werden. Klugheit wird bei uns so heftig verachtet, dass es die Sau graust, und wenn das nicht so wäre, hätte die Pandemie Tausende Opfer weniger gefordert.

5. Schlusswort

Danke fürs Lesen. Danke fürs Abonnieren. Danke fürs Weitersagen, Dank im Voraus für Feedback aller Art. Und danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht. Besondere Grüße gehen raus nach Moosach, New York City und Kleinmachnow. Bitte bleibt weiter dabei, wenn ich hier selbsttherapeutisch weitermümmele und Sachen wiederkäue, die mir seit fünfzig Jahren oder fünf Minuten auf dem Herzen liegen.

Links & Vids

Eine Nebelkrähe:

https://www.youtube.com/watch?v=D4IMm-ztH_8 (Öffnet in neuem Fenster)

Der Nachruf auf Herbert Achternbusch:

https://www.zeit.de/kultur/literatur/2022-01/herbert-achternbusch-regisseur-schriftsteller-nachruf (Öffnet in neuem Fenster)

„Die Weisheit der Raben“:

https://www.genialokal.de/Produkt/Bernd-Heinrich/Die-Weisheit-der-Raben_lid_40671054.html (Öffnet in neuem Fenster)

Bernd Heinrich:

https://www.podiumrunner.com/culture/runnings-most-interesting-recluse-bernd-heinrich/ (Öffnet in neuem Fenster)

„Das rationale Tier“:

https://www.genialokal.de/Produkt/Ludwig-Huber/Das-rationale-Tier_lid_44540097.html (Öffnet in neuem Fenster)

Was mir während der Verfertigung dieses Newsletters niemand geschenkt hat:

https://www.xocoatl.de/dunkle-schokolade-100-la-dalia-the-lazy-cocoa-grow.html (Öffnet in neuem Fenster)

(100 Prozent Kakao ohne Zucker schmeckt ein bisschen wie Gartenerde, aber eigentlich unvergleichlich, seufz!)

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