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#70 Verantwortungsgemeinschaft

Traditionelle generationenübergreifende Familienstrukturen sind heutzutage selten. Gleichwohl besteht ein starkes Bedürfnis nach menschlicher Wärme, Nähe und Zusammengehörigkeit. In Zeiten, in denen Einsamkeit weit verbreitet ist, ist es umso sympathischer, verbindliche Gemeinschaften zwischen Menschen zu suchen.

Die künftigen Herausforderungen werden darin bestehen,

  1. das Engagement der sorgenden Gemeinschaften wertzuschätzen

  2. Beratung und Unterstützung von sorgenden Gemeinschaften bereitzustellen und

  3. die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen zu verdeutlichen.

1. das Engagement der sorgenden Gemeinschaften

Der Mikrozensus 2022 dokumentiert, dass 73.000 Menschen im Alter von 65 bis 80 Jahren in Wohngemeinschaften leben, die als „Gemeinschaft familienfremder Personen“ definiert werden. Die Motivation für eine solche Wohngemeinschaft liegt in der Verhinderung von Einsamkeit sowie in der Alltagsunterstützung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Die Angst vor nicht finanzierbaren Pflegekosten oder der Befürchtung, in eine Pflegeeinrichtung abgeschoben zu werden, schwingt stets mit.  

Angesichts des demografischen Wandels ist es im Interesse der Kommunen und des Sozialsystems, Menschen so lange wie möglich im häuslichen Umfeld zu betreuen und professionelle Pflege zu minimieren. Neben pflegenden Angehörigen (Ehepartner, Kinder) sind entlastende und ergänzende Angebote von großer Bedeutung. Nachbarschaftshilfe und Quartiersangebote sind dringend erforderlich. 

Sorgende Gemeinschaften spielen auch bei jungen Menschen eine Rolle. Es gibt den Trend, nichteheliche Lebensformen einzugehen. Gleichzeitig gibt es die Erkenntnis, durch Sharing-Modelle die komplexen Herausforderungen zwischen Beruf, Kindern und Freizeit besser bewältigen zu können. Wohnraum, Auto oder technische Großgeräte sind für den Einzelnen oft schwer finanzierbar. Die Kinderbetreuung in öffentlichen Einrichtungen passt nicht immer zu den flexiblen Arbeitszeiten. Gemeinsames Wohnen und gegenseitige Unterstützung werden als Ausdruck von Selbsthilfe wahrgenommen. Gleichzeitig ist die Generation Y oder sind die Millennials besorgt, dass sie später sehr wenig Rente erhalten und von Altersarmut bedroht sind. Für diese Generation stellt sich die Frage, ob sie mehr arbeiten und Teile ihres Einkommens in börsennotierte Geldprodukte investieren oder sparsamer und suffizienter leben und sich in Netzwerken engagieren sollten.

Charlotte Hitzfelder sagt bei perspective-daily: (Öffnet in neuem Fenster)

„Für das Alter vorsorgen heißt in meiner Vision, gute gemeinsame Netzwerke aufzubauen und Verbindlichkeiten zu schaffen, damit Geld weniger Bedeutung erhält. In einer Postwachstumsgesellschaft wäre es nicht die Aktienrente, auf die man sich verlassen muss, sondern die gemeinsame Organisierung im Stadtteil, Nachbarschaft oder Dorf. Care, das Kümmern untereinander, ist die Grundlage unseres Lebens, ohne die nichts funktionieren würde. Hilfe in Anspruch zu nehmen, darf nicht als Defizit gesehen werden. In Verbindung mit anderen zu sein, gibt im Gegenteil viel Kraft.“ 

Idealerweise sollten sorgende Gemeinschaften inklusiv, generations- und kulturübergreifend gestaltet werden.

2. Beratung und Unterstützung von sorgenden Gemeinschaften

Es ist positiv, dass es Beratung und Unterstützung zu gemeinschaftlichen Wohnformen gibt. Das Gemeinschaftliche Wohnen verbindet Nachbarn und Generationen, während plus-Bausteine das Wohnen(-bleiben) im Quartier - auch bei Pflege-, Assistenz- und Betreuungsbedarf - ermöglichen.

In vielen Bundesländern gibt es entsprechende Landesberatungsstellen.

Gerne verweise ich auf die kostenfreie Fachtagung“ gemeinschaftliches Wohnen plus in der Kommune“ am 📅 23. Mai 25 in Aachen, an der ich als Vorstandsmitglied des FORUM Gemeinschaftlichen Wohnens e.V. Bundesvereinigung teilnehmen werde.

https://win.fgw-ev.de/gemeinschaftlich-wohnen-plus-in-der-kommune/ (Öffnet in neuem Fenster)

Am Folgetag 📅 24. Mai 25 können Sie am Wohnprojekt-Tag der Stadt Aachen teilnehmen. Dort werde ich als Wohnprojektberaterin teilnehmen.

https://www.aachen.de/DE/stadt_buerger/wohnen/Wohnraumentwicklung/wohnen_neue_wohnformen/Aachener-Wohnprojektetag/index.html (Öffnet in neuem Fenster)

3. Eigenverantwortung des Einzelnen

Ein Aspekt wird oft vernachlässigt: die juristische Basis, um die Interessen eines Unterstützungsbedürftigen überhaupt wahrnehmen zu dürfen.

Die sorgende Gemeinschaft mit ihren praktischen Angeboten in Alltag stößt an ihre Grenzen, wenn ein gerichtlich bestellter Betreuer Entscheidungen trifft, ohne die Einbindung des Betreuten in die Nachbarschaft und Gemeinschaft überhaupt zu kennen. Das Miteinander von juristischem Vertreter und praktischen Helfer:innen ist selten geregelt und damit konfliktanfällig.  

Dabei wurde das Betreuungsrecht 2023 in Hinblick auf die UN-Behindertenkonvention modernisiert. Individuelle Autonomie und Unabhängigkeit in allen Lebensphasen, auch bei Krankheit und Behinderungen sind unabdingbar.

📌 Diese Freiheit muss der einzelne aber auch für sich nutzen.

Für die juristische Verbindlichkeit muss der Einzelne rechtzeitig sorgen und schriftlichen Regelung niederlegen.

Dazu gehören

  • Betreuungsverfügung und Patientenverfügung als Bekundung der eigenen Wünsche (Innenverhältnis) und

  • verschiedene Vollmachten als Legitimationsnachweis (Außenverhältnis).

Nur durch juristische Unterfütterung kann die sorgende Gemeinschaft auch rechtssicher handeln und wirklich Verantwortung füreinander übernehmen.

Hinweis: Die juristische “Verantwortungsgemeinschaft”, die ins BGB integriert werden sollte, wurde durch das Ampel-Aus zu Grabe getragen und hat derzeit keine Chance auf Umsetzung. Mit den aktuellen rechtlichen Möglichkeiten kann schon vieles abgesichert werden. Es muss nur getan werden!

Dies möchte ich anhand eines typischen Beispiels verdeutlichen:
Eine Seniorin mit fortschreitender Demenzerkrankung lebt in einem Wohnprojekt auf Mietbasis. Ihre Nachbarn versorgen sie mit Mittagessen, holen Medikamente und fahren sie zum Arzt. Im Winter hat die Seniorin einen schweren Unfall und kommt ins Krankenhaus. Es sind medizinische Maßnahmen erforderlich und eine Reha zu beantragen. Die Ärzte gewinnen den Eindruck, dass die Seniorin aufgrund ihrer Demenz nicht mehr selbst entscheidungsfähig ist und beantragen beim Gericht eine Betreuung. Dies ist ein alltäglicher Ablauf. Als Betreuer wird der Neffe eingesetzt, mit dem sie nettes, aber distanziertes Verhältnis aus der Ferne hatte. Der Neffe organisiert einen Pflegedienst, eine Putzfrau und Essen auf Rädern. Nach ihrer Rückkehr in die Wohnung möchten die Nachbarn wie gewohnt Unterstützung leisten. Der Pflegedienst und die Dienstleister beschweren sich jedoch beim Neffen, dass sich Fremde einmischen und ihnen Anweisungen geben wollen. Der Neffe verlangt die Herausgabe der Wohnungsschlüssel und verbietet den Umgang mit seiner Tante. Die Seniorin ist völlig verwirrt von der neuen Situation und ihr Zustand verschlechtert sich. Der Neffe kündigt den Mietvertrag und besorgt einen Pflegeplatz in einem Seniorenheim in seiner Nähe, um sich besser um sie kümmern zu können.

Diese Entwicklung hätte die Seniorin durch eine frühzeitige Kommunikation mit ihrem Neffen verhindern können.
Vielleicht hätte sie ihm eine Vorsorgevollmacht erteilen können und damit das Betreuungsverfahren vermeiden können. Auf jeden Fall hätte sie ihre Wünsche nach Einbettung in die Hausgemeinschaft formulieren können. Vertrauenspersonen aus der Hausgemeinschaft hätten namentlich benannt werden können, gegenüber denen die Pflegedienstleister von der Verschwiegenheitspflicht entbunden sind. Die Abstimmung zwischen dem juristischen Betreuer / Bevollmächtigten und der Alltagsunterstützung hätte im Vorfeld geklärt werden können. Dies hätte alle Beteiligten enorm entlastet.

Fazit: Für Wohnprojekte ist es wichtig, dass die Gruppe gemeinsam verbindliche Strukturen etabliert. Die Auseinandersetzung mit altersbedingten Einschränkungen, Krankheiten oder Unfällen kann für viele Menschen herausfordernd und unangenehm sein – dennoch ist sie unerlässlich. Der bewusste Umgang mit den Themen Alterung, Trauer und Tod macht uns alle resilienter. Hierzu gibt es eine hilfreiche Broschüre vom Verein Wohn:Sinn.

https://www.wohnsinn.org/fileadmin/Redaktion/PDFs/WOHNSINN_Broschuere_Alterung_Barrierearm_Final.pdf (Öffnet in neuem Fenster)
Hinweis

In meiner kostenpflichtigen Schulung "Vorsorge im Wohnprojekt" hatte ich verschiedene Regelungsmöglichkeiten vorgestellt.

Für zahlende Mitglieder und deren Gäste, gibt es die Möglichkeit - hinter der Paywall - die Schulungsunterlagen (nur Auszug) als Flipbook einzusehen.
Für eine persönliche oder projektspezifische Beratung stehe ich gerne zur Verfügung.

Falls auch Sie diesen zusätzlichen Vorteil nutzen wollen, freue ich mich sehr über eine Mitgliedschaft.

Angelika Majchrzak-Rummel
Rechtsanwältin, Projektberaterin
LINK zu meiner Homepage mit aktuellen Veranstaltungshinweise (Öffnet in neuem Fenster)

Hier das versprochene Flipbook zum Selbststudium:

Auszug aus den Schulungsunterlagen
"Vorsorge im Wohnprojekt" (Öffnet in neuem Fenster)

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