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MCP – Der Newsletter #17 Februar 2023

Liebe Leser*innen,

der Januar-Newsletter (Öffnet in neuem Fenster)war so vollgepackt mit Büchern, mit meiner Vorfreude auf die Neuerscheinungen dieses Frühjahrs, dass ich uns für den Februar nun etwas sehr Ungewöhnliches leiste: Ich widme diesen Newsletter dem Gastbeitrag meines Freundes Tobias Schiller (Öffnet in neuem Fenster).

Ich hatte ja hier schon öfter (befreundete) Menschen aus dem Literaturbetrieb zu Gast. Menschen, deren literarische Stimmen ich schätze, Menschen, deren Projekte ich bewundere. Manchmal kommen sie auf mich zu, meist frage ich an, ob sie kurz (oder ausführlicher) etwas davon erzählen wollen, was sie im Kontext ihres Lesens, ihres Denkens oder ihrer Arbeit an und mit Texten gerade bewegt.

Tobias Schiller ist im ocelot über die Theke des Buchladens von einem Kunden zu einem meiner besten Freunde geworden. Über die Auswahl seiner bestellten Bücher entspannen sich Gespräche, die wir bald im privaten Rahmen bei Kaffee, Wein und gutem Essen fortführten. Längst reden wir über viel, viel mehr als über Literatur. Im letzten Jahr durfte ich seine Trauzeugin sein. Aber Tobis Lesen, seine Sicht auf Bücher, auf Debatten, auf Gesellschaft, auf Autor*innen und unseren Literaturbetrieb ist weiterhin eines der größten Geschenke des Lesens und des Lebens für mich. Unsere Gespräche machen mich klüger, aufmerksamer, kritischer, verbundener. Sie befeuern meine Lektüren und inspirieren mein Denken. Danke für Dich, Tobi!

Tobi hat extra für diesen Newsletter einen Text geschrieben, der ein leuchtendes (und zutiefst berührendes) Beispiel dafür ist und den ich nun mit großer Dankbarkeit hier mit euch teilen darf.

Ein Gastbeitrag von Tobias Schiller

Die Sache mit der Scham

Eigentlich sollte dies ein Text über Aufbrüche werden. Denn in meinem eigenen, wie auch in den Leben meines engen Umfelds scheint 2023 ein Jahr zu sein, in dem sich Dinge bewegen, wichtige Entscheidungen getroffen und Wagnisse eingegangen werden. Doch manchmal schreibt sich das Leben in den Text, Sachen passieren, die sich so sehr ins innere Bewusstsein schieben, dass alles andere daneben verblasst. Daher habe ich beschlossen, ihnen hier, an diesem so liebevollen wie geschützten Ort, Raum zu geben.

Als ich diesen Text beginne, geschehen zwei Dinge, die erst einmal nicht in einen kausalen Zusammenhang zu bringen sind: (1) Ein polemischer Artikel, der sich über die Thematisierung von Scham in der Autofiktion lustig macht, wird in der WELT am Sonntag publiziert. (2) Ich werde in der U-Bahn homophob beleidigt, weil ich in mein Handy vertieft nicht mitbekomme, dass jemand mit einem Kinderwagen meinen Platz braucht.

Eine scheinbar zufällige Abfolge von Geschehnissen. Und dennoch verdichten sie sich in meinem Kopf in all ihrer Willkür zu einer Erzählung, die mich durch den Alltag begleitet, mich nicht loslässt. Einzeln betrachtet haben beide Ereignisse kaum etwas Neues an sich. Artikel, die der Autofiktion trotz ihrer jahrhundertelangen Geschichte den literarischen Wert absprechen, sie als bloßes Aufschreiben des Geschehenen abkanzeln, so als wäre jedes Tagebuch ein autofiktionaler Text, erscheinen fast wöchentlich.

Homo- und queerphobe Beleidigungen gehören nach wie vor zum Alltag queerer Menschen. Ob in Kommentarspalten, in vermeintlichen Witzen, deren Pointen auf Herabwürdigung abzielen oder ganz direkt ins Angesicht, meist vor Publikum. Und auch wenn ich einen geschützten sozialen Raum habe, in dem ich darüber sprechen kann - Freund*innen, die mir zur Seite stehen, die teilwiese selbst diese Erfahrung durchleiden mussten und müssen, einen Partner, der mir wortlos mein Lieblingsgericht kocht – verschlägt es mir die Sprache. Ich schäme mich.

Die Scham durchzieht meinen Körper, sie ist, in den Worten von Lea Schneider, „ein Wissen, das dem Körper gehört.“ Über sie zu sprechen, befreit mich nicht von ihr. Über sie zu schreiben ebenso wenig. Es gibt keine Katharsis. Ob die Wut des Beleidigers wirklich mir gegolten hat oder nicht, ist unerheblich. Seine Worte tun ihre Wirkung. So wie es die Blicke der Umherstehenden tun, die sich auf mich richten. Ohne erkennbaren Zuspruch oder Sympathie. Niemand sagt etwas. Ihre Zeugenschaft verstärkt meine Scham. Ihr Schweigen legitimiert die Gewalt des Gesagten, markiert die Grenzen der Zugehörigkeit, außerhalb derer man mich damit befördert.

Darüber zu sprechen und zu schreiben, fällt mir auch deshalb schwer, weil ich weiß, dass ich mich hinsichtlich meiner Diskriminierungserfahrungen noch in einer relativ privilegierten Position befinde. Als weißer, queer-schwuler cis-Mann bekomme ich weniger ab als viele andere, die sichtbarer von der weißen cis-heteronormativen Mehrheit abweichen. Scham, so Lea Schneider in ihrem gleichnamigen Essay, „ist kaum in Worte zu fassen. Es bedeutet, die eigene Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu gefährden.“ Ist man Teil einer oftmals marginalisierten Minderheit, ist die Zugehörigkeit zur Gesellschaft ohnehin schon prekär.

Meine kürzliche Erfahrung mit der Scham macht mir den anfangs erwähnten WELT-Artikel schwer erträglich. Denn hier konstatiert eine Redakteurin süffisant literarische Schamexzesse, einen Schamkult, gar eine autofiktionale Schamoffensive. Sie macht die Scham als Trendthema der autofiktionalen Literatur unserer Zeit aus, verliert aber kein Wort über deren Wirkmacht. In gewisser Hinsicht versucht sie, die über Scham Schreibenden zu beschämen.

Dabei ist Scham ein ziemlich guter Gradmesser für den Zustand einer Gesellschaft. Für das in ihr Sagbare. Und ein Machtinstrument für einen sich als normativ empfindenden Teil von Gesellschaft und Politik. Sie entsteht nicht außerhalb von Gesellschaft und Politik, sie ist einer ihrer wirkungsvollsten Kontrollmechanismen. Texte über Scham sind daher auch immer Texte über die Gesellschaft, über die Agent*innen der Scham und ihre Profiteur*innen. Wer in der autofiktionalen Verarbeitung der Scham etwas Exzessives oder gar einen Kult sieht, der ignoriert diese so wichtigen Komponenten und spielt damit denen, die von ihr profitieren, in die Hände.

„Autofiktion, das Spiel mit Variationen des Selbst, ist für Marginalisierte zentral. Weil unser Ich nicht gegeben oder selbstverständlich ist, müssen wir es entwerfen“, schreibt die Autorin Eva Tepest in ihrer Essay-Sammlung „Power Bottom“. In autofiktionalen Texte legen Autor*innen nicht etwa einfach Zeugnisse ihrer selbst ab, sie positionieren oftmals Identitäten, Ichs, die häufig nicht mitgedacht werden, denen Sichtbarkeit verwehrt wird, die beschämt werden. Ihr identifikatorisches Potenzial ist daher umso wichtiger. Nicht zuletzt für diejenigen, denen die Scham die Sprache raubt; die beschämt werden. Sie helfen, die Sprachlosigkeit zu überwinden, geben Worte, Bilder, Metaphern an die Hand, empowern.

So richtig bewusst wurde mir das zum ersten Mal vor 13 Jahren. Auf meiner täglichen Zugfahrt in die Uni erlebte ich einen sexuellen Übergriff. Der Täter durchbrach nicht nur meine körperliche Autonomie, sein Handeln raubte mir auch die Sprache, es lähmte mich. Einen Tag später nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zur Polizei. Ich wollte meine Hilflosigkeit nicht hinnehmen, zumal jede weitere Zugfahrt mir Angst machte. Es fiel mir sehr schwer, dem diensthabenden Polizisten zu schildern, was ich erlebt hatte. Die Scham legte sich wie ein Gewicht auf meine Zunge. Ich brach ab, setzte neu an, konnte ihm kaum in die Augen sehen.

Doch seine Reaktion war nicht etwa Verständnis. Als ich fertig mit meiner Schilderung war, fragte er mich als erstes, warum ich mich nicht gewehrt hätte. Ich sei doch schließlich ein Mann, warf er mir vor. Auf meine irritierte Antwort, dass ich Angst hatte, schüttelte er den Kopf und entgegnete, die meisten Täter würden sofort von ihren Opfern ablassen, sobald diese sich wehrten. Die meisten Täter. Woher erkennt man denn, ob es sich um einen „der meisten Täter“ oder aber um die scheinbare Minderheit derjenigen handelt, die nicht ablassen, fragte ich mich, wagte aber nicht, es zu formulieren.

Es blieb nicht dabei. Ob ich homosexuell sei, war seine nächste Frage. Denn, so fügte er an, sei das der Fall, könne der Täter mein Erscheinungsbild als Einladung empfunden haben. Das müsse man berücksichtigen, ich käme durchaus so rüber. Es endete damit, dass ich meine Sexualität verleugnete, um als Betroffener ernst genommen zu werden. Nur wenn ich mich als zugehörig zur cis-heterosexuellen Mehrheit bekannte, würde das mir widerfahrene Unrecht als solches anerkannt, schien es mir. Die Wahrscheinlichkeit, dass man den Täter fassen würde, sei sehr gering, sagte der Beamte, bevor er mich nach Hause schickte. Ich verließ die Polizeiwache mit einer tieferen Scham als ich sie aufgesucht hatte.

Den Täter sah ich tatsächlich noch einmal. Im Zug. Die Polizei rief ich nicht. Die Scham und die damit einhergehende Ohnmacht waren zu groß. Ich trug sie mit mir, in mir, bis ich einige Monate später auf David Wojnarowiczs Essay-Band „Close to the Knives: A Memoir of Disintegration“ stieß. Darin schildert Wojnarowicz unter anderem seine von Missbrauch geprägte Jugend; aber auch seine Wut gegenüber wegschauenden Politikern, den heteronormativen Strukturen als solchen. Die Lektüre war wie eine Mischung aus Spiegel und Ventil.

Auf den Buchseiten standen die Worte, die ich nicht sagen oder schreiben konnte, die mir selbst jetzt, mehr als eine Dekade danach, schwer fallen. Ich lernte, diese Scham, die mir von ihren Agenten – dem Täter wie dem Polizisten –  eingepflanzt wurde, als etwas zu identifizieren, das nichts mit mir zu tun hatte. Sie war kein Teil meiner Identität, sie war ein toxischer Kontrollmechanismus eines patriarchal-heteronormativen Machtsystems, einzig auf die eigene Aufrechterhaltung gerichtet.

Um das zu erkennen, brauchte ich Literatur. Queere autofiktionale Literatur. Sie war ein Mittel, die Wirkmacht der Scham als solche zu erkennen und zu benennen, wem die aus meiner Scham entstehende Sprachlosigkeit nutzte. Dass Wojnarowiczs Text zum damaligen Zeitpunkt bereits zwanzig Jahre alt war, er den Großteil seines Lebens im New York der 70-er und 80er-Jahre verbrachte, unsere Leben sich sehr voneinander unterschieden, spielte keine Rolle. Sein Text sprach zu mir, weil er die Scham und ihre Agent*innen benannte und sie in gerechtfertigte Wut, Aktion und Kunst überführte.

Autofiktionales Schreiben über Scham ist mehr als ein Akt individueller Selbstermächtigung. Schlussendlich ist es das von Lea Schreiber beschriebene Wagnis, „die eigene Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu gefährden“, das sich in der abkanzelnden Reaktion der WELT-Redakteurin spiegelt. Es gehört viel Mut dazu.

Man kann autofiktionale Auseinandersetzungen mit Scham individuell in der Wahl ihrer Mittel analysieren, auch kritisieren, wie jeden literarischen Text. Sich jedoch in erster Linie über die thematisierte Scham zu ereifern, bedeutet letztendlich, sich zum*zur Agent*in ebenjener zu machen.

Autor*innen wie etwa Daniela Dröscher, Jovana Reisinger, Kim de l’Horizon oder Annie Ernaux eröffnen uns (Sprach-)Räume, in denen die Scham greifbar, sagbar, die Ohnmacht durchbrochen wird und ermöglichen damit den Blick auf Missstände, die erst durch die Thematisierung der Scham und ihrer Wirkmacht wirklich sichtbar werden. Sie leisten somit eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, derer wir uns bewusst sein sollten.

Tobias Schiller

Ich danke Tobi von ganzem Herzen, dass er mir und uns diesen Text hier anvertraut hat. 

Tobias Schiller arbeitet im Marketing und als freier Redakteur. Er moderiert Lesungen und Literaturveranstaltungen. Gemeinsam mit Marlon Brand (Öffnet in neuem Fenster) verschickt Tobi regelmäßig den Literatur-Newsletter Queerer Kanon? (Öffnet in neuem Fenster), den ich euch empfehlend ans Herz, in den Geist und in die Postfächer legen möchte. Auf Instagram schreibt Tobi unter @tobiborns (Öffnet in neuem Fenster) über zeitgenössische Literatur.

Vor dem Abschied teile ich noch kurz ein paar Termine für den vor uns liegenden März mit euch. Eigentlich findet alles davon auf Instagram statt. Aber die 50. Folge unseres blauschwarzberlin Literatur-Podcasts (Öffnet in neuem Fenster) feiern Ludwig und ich gern auch mit echten Zuschauer*innen, natürlich da, wo für uns alles begann: im ocelot.

Was der März bringt:

♡ Am 3.3. um 20 Uhr spreche ich auf meinem Instagram-Kanal (Öffnet in neuem Fenster)mit Raphaela Edelbauer über ihren neuen Roman Die Inkommensurablen (Öffnet in neuem Fenster).

♡ Am 10.3. gibt es auf Instagram um 20:23 Uhr eine Freitagsstunde mit den Verleger*innen Barbara und Stefan Weidle (Öffnet in neuem Fenster). Eine Weidlestunde quasi.

♡ Am 16.3. um 20 Uhr spreche ich in einem Insta-Live mit Annika Reich über ihren neuen Roman „Männer sterben bei uns nicht“. (Öffnet in neuem Fenster)

♡ Am 24.3. machen Tobi Schiller und ich eine zweifellos legendäre Freitagsstunde auf Instagram.

♡ Und am 25.3. gibt es im Livestream auf blauschwarzberlin (Öffnet in neuem Fenster) und tatsächlich auch direkt im ocelot (Brunnenstraße 181, 10119 Berlin) die Möglichkeit, Ludwig Lohmann (Öffnet in neuem Fenster) und mich bei der Aufnahme der 50. Folge unseres Literaturpodcasts zu treffen. Wir starten um 20:30 Uhr. Kommt gern besonders pünktlich, damit der Livestream nicht warten muss, bringt gern Grauburgunder mit und gute Laune. Wir freuen uns auf euch. On- und offline. Keine Anmeldung, kein Eintritt. Ganz unkompliziert. Es ist den ganzen Tag überall in der Literaturwelt #Indiebookday (Öffnet in neuem Fenster) - deshalb sprechen wir in dieser Jubelfolge über 50 Bücher aus unabhängigen Verlagen. Und ich freue mich jetzt schon unbändig darauf!

An dieser Stelle lesen wir uns am letzten Sonntag im März wieder.

Bis dahin habt ein gutes Lesen.

Eure Maria

 

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