Zum Hauptinhalt springen

MCP - Der Newsletter #18 im März 2023

Liebe Leser*innen,

gestern war Indiebookday (Öffnet in neuem Fenster) und mein lieber Freund und Komplize Ludwig Lohmann und ich haben unsere aktuelle 50. (Jubel!) blauschwarzberlin-Podcastfolge 50 Büchern aus unabhängigen Verlagen gewidmet. 

Zum Anhören wird euch diese Feierfolge bald auf allen gewohnten Kanälen zur Verfügung stehen. Wer möchte kann sich die Aufzeichnung des Livestreams bei uns auf Instagram wie immer auch nachträglich anschauen. 

50 Folgen! Wer unseren Podcast tatsächlich erst jetzt entdecken sollte, kann also eine Menge Literaturbegeisterung nachholen. Seit über vier Jahren sprechen Ludwig und ich nun schon gemeinsam für euch über Lektüren, die uns zuletzt begeistert und beschäftigt haben. Immer zuerst im Livestream auf Instagram. Blauschwarzberlin ist also vielleicht der einzige LiteraturPodcast, dem man auch bei der Entstehung zuschauen kann? Meist öffnen wir eine Flasche Grauburgunder, es hat seltene Ausnahmen gegeben. Immer beginnen wir mit Lyrik. Es gab wilde Best-of-Jahres-End-Champagner-Folgen: Wer erinnert sich noch an den wahnwitzigen Versuch 60 Bücher in 60 Minuten zu besprechen?  Doch mittlerweile haben wir uns bei überschaubaren Buchmengen in Alltagsfolgen eingespielt, die immer auch Zeit für das Gespräch, das gegenseitige Interesse lassen, die immer auch Raum für weitere Überlegungen entlang eines Buches finden. Kein Monat wird ausgelassen. Vor allem aber entscheiden wir frei, frei, frei, welche Bücher wir gerade zum Thema machen wollen. Es ist ein großes Glück, dass ich diesen Podcast mit diesem wunderbaren Menschen machen darf. (Danke, ewig, mein lieber Ludwig!)

In Vorbereitung auf die aktuelle 50. Folge habe ich naturgemäß viel Zeit mit meinen 25 Titeln aus unabhängigen Verlagen verbracht. Ich habe nochmal im akkord und ganz gezielt indie gelesen, mich fast bis ganz zuletzt für und gegen und wieder für Bücher entschieden. Ich habe mich ganz neu oder wieder oder so völlig überraschend in Bücher verliebt, dass ich euch meine 25 Büchern gern auch hier auf dem Silbertrablett meines Newsletters servieren möchte. Denn ein Indiebookday ist immer nur ein Feiertag für eine Literatur, die uns das ganze Jahr über begleiten und begeistern will und der nächste Indiebookday kommt bestimmt. Bis dahin findet ihr hier also 25 Buchempfehlungen, von seit Jahren absoluten Lieblingsbüchern bis zu überraschenden Neuheiten der letzten Wochen und Monate, die mich sprachlich oder thematisch begeistert haben:

AvivA Verlag

Luise F. Pusch

„Gegen das Schweigen“ (Öffnet in neuem Fenster)

Mit „Meine etwas andere Kindheit und Jugend“ sind die Memoiren der feministischen Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch untertitelt. Sie erzählt darin von ihrem Aufwachsen als lesbische junge Frau in den ultrahomophoben Nachkriegsjahren der ostwestfälischen Provinz und schließt mit dezidiert weiblichem Blick eine Lücke des bisher Ungesagten in autofiktionalen Texten vornehmlich männlicher Intellektueller, die über ihre Aufwachsen und ihre Homosexualität schreiben.

Bahoe Verlag

Amanda Michalopoulou

übersetzt von Michaela Prinzinger

„Warum ich meine beste Freundin tötete“ (Öffnet in neuem Fenster)

Zwei griechische Mädchen, die mit ihren Familien zur gleichen Zeit zurück nach Athen kommen: Maria hasst alles an der griechischen Hauptstadt und möchte lieber zurück nach Nigeria, wohin die Familie wegen des Berufs des Vaters lange lebte, Anna hingegen ist froh, endlich aus dem Pariser Exil zurück in Athen zu sein. Sie freunden sich an und werden symbiotisch mit einer Dringlichkeit, die an Ferrante erinnert. Und mit dieser Mädchenfreundschaft, verhandelt Amanda Michalopolou die jüngere Geschichte Griechenlands, die Militärdiktatur in den 60ern und die bewegte Zeit bis in die 90er Jahre auf soghafte Weise.

Berenberg

Margherita Costa

herausgegeben und übersetzt von Christine Wunnicke

„Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht“ (Öffnet in neuem Fenster)

Was Christine Wunnicke uns da entdecken lässt, grenzt an ein MargheritenWunder. Herausgegeben und auch übersetzt hat sie Margherita Costa für diese schöne, zweisprachige Ausgabe des Berenberg Verlags. Die römische Dichterin, Kurtisane und Feministin war schon zu Lebzeiten (vor immerhin 400 Jahren) eine gefeierte Autorin, die kein Genre und in ihrer berauschenden Modernität auch kein Thema scheute: Liebeslyrik, Sexpoeme, Pferdeballett, politische Strippenzieherei bei den Medicis! Findet man alles bei der Costa und origineller ist es seither nicht so oft geworden. Die Barockdichterin wird nicht mehr vergessen werden, wenn man dieses Buch staunten und jubelnd gelesen hat.

Diaphanes Verlag

Chantal Akerman

übersetzt von Claudia Steinitz

„Meine Mutter lacht“ (Öffnet in neuem Fenster)

Die belgische Autorin, Regisseurin und Künstlerin Chantal Akerman ist filmisch auf ganz eigene Art mit feministischen Themen umgegangen und hat für ihre Arbeit oft visionär Frauenleben portraitiert. In diesem Buch widmet sie sich ihrer sterbenden Mutter, einer Holocaustüberlebenden, die zeitlebens nie über ihr Trauma sprechen konnte, während ihrer Tochter sich unterwegs durch die künstlerische (Film)Szene zwischen Paris und New York eine eigene Stimme suchte.

Dieses Buch ist eine Hommage, eine intime und zärtliche Beobachtung ihrer Mutter, aber auch ihres eigenen Lebens, Liebens und Schaffens. Es erschien im Original vor zehn Jahren, bevor sich Chantal Akerman 2015 kurz nach dem Tod ihrer Mutter das Leben nahm.

Drachenhaus Verlag

Lung Ying-Tai

übersetzt von Monika Li

„Am Fuße des Kavulungan“ (Öffnet in neuem Fenster)

Der auf Übersetzungen aus dem Chinesischen spezialisierte Drachenhaus Verlag aus Esslingen hat mit einer Reihe Taiwanischer Literatur eine ganz besonders wichtige Rolle unter den übersetzenden deutschsprachigen Verlagen.

Monika Li hat nun den schönen Roman von Taiwans ehemaliger Kulturministerin ins Deutsche übertragen. In 84 Miniaturen wird von einer Schriftstellerin mit akuter Schreib- und vor allem Menschenmüdigkeit erzählt, die von ihrem buddhistischen Meister an den Fuß des Südtaiwanischen Berges Kavulungan geschickt wird. Philosohisches Nature-Writing wird hier spielend leicht gesellschaftskritische Studie, Liebes- und Geistergeschichte.

Edition Atelier

Jo Frank

„Gewalt“ (Öffnet in neuem Fenster)

Wie schon im ersten Buch „Snacks“ arbeitet Jo Frank, einer der drei Köpfe hinter den Kompliz*innen vom Verlagshaus Berlin, sich mit einer Sprache, die fast körperlich aus den Seiten greift, diesmal durch das Thema der Gewalt, der erlebten, beobachteten, erfahrenen, ausgeübten. Fußnoten, Mehrsprachiges, Einschübe — der Text wirkt durch und durch poetisch kunstvoll komponiert und hat trotzdem eine Rohheit und Purheit, die die Schmerzgrenze von Sprache in ihrer Schönheit punktgenau trifft.

Edition Azur

Simone Scharbert

„Rosa in Grau“ (Öffnet in neuem Fenster)

Keine andere Autorin unserer Zeit schreibt sich so in meine Sprachwahrnehmung wie Simone Scharbert, keine erweitert meinen Wortschatz so sehr wie sie.

In dieser Heimsuchung lässt sie eine Frau sprechen, eine junge Mutter, die wegen Wahnvorstellungen und möglicher Schizophrenie in den Nachkriegszeit in eine psychische Anstalt eingeliefert wird und dort viele Jahre bleiben wird.

Mit tiefer Genauigkeit und großer Zartheit findet Simone Scharberts Sprachkunst auch hier wieder genau die richtigen Bilder für eine weibliche Stimme, die zu lange ungehört blieb.

Edition foto.tapeta

Hg. Aleksanda Konarzewska, Schamma Schahadat und Nina Weller

„Alles ist teurer als ukrainisches Leben“ (Öffnet in neuem Fenster)

Der Schrecken des nun schon seit über einem furchtbaren Jahr andauernden Angeiffskriegs Russlands gegen die Ukraine mag hier bei uns keine dauernden NewsTicker mehr wert sein, aber in der Ukraine kostet er täglich Menschenleben, während wir uns im gönnerhaften Westsplaining gefallen. Das Unverständnis eines versöhnlichen Kurses gegenüber des Angreifers Russland ist verwirrend. Kenntnisreiche und deutliche Texte aus den Kriegsmonaten März bis Dezember sind in diesem Band versammelt, die eindrücklich zeigen, wohin unsere verklärte Sicht auf Russland führt und wer dafür mit dem Leben bezahlt, damit wir eine Illusion aufrechterhalten.

Edition Zweifel

Heinrich Böll und Sharon Dodua Otoo

„Gesammeltes Schweigen“ (Öffnet in neuem Fenster)

Die Bachmannpreisträgerin Sharon Dodua Otoo findet Worte für Heinrich Bölls Klassiker „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Sie reagiert nicht nur auf diesen ERzählung, sie beginnt ein Gespräch mit dem Autor. Als Dritter tritt bei diesem unfassbar schönen Buch die Gestaltung (der Herausgeber Katharina Mevissen und Simon Wahlers) in den höchst lebendigen Text, denn sie greift auf, führt weiter, denkt mit, macht sichtbar und für uns Lesende und Schauende fühlbar und erzählt ganz neu vom Schweigen. Ein grandios gelungenes Projekt.

Elif Verlag

Hg Dinçer Güçyeter und Wolfgang Schiffer

„Türschwellenkinder“ (Öffnet in neuem Fenster)

Über die Arbeit der Eltern haben 25 Menschen geschrieben, die heute (kreativ) im Kulturbetrieb arbeiten. In Kooperation mit dem Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt ist daraus eine Anthologie entstanden, die von der Nachkriegszeit bis in die jüngere Gegenwart erzählt, wie das Brot verdient wurde, das wir auf den Tischen unserer Kindheit hatten und wie es unser heutiges Denken über (unsere) Arbeit prägt.

én Verlag

Aaiún Nin

übersetzt von Ọlaide E. Frank

„Denn Schweigen ist ein Gefängnis“ (Öffnet in neuem Fenster)

Aaiún Nin wurde 1991 in Angola geboren und studierte in Zimbabwe und Südafrika. Sie musste wegen der Verfolgung von Homosexualität in Angola fliehen und lebt heute in Dänemark, wo sie unter anderem Teil eines Schwarzen Femme Poetry Kollektivs ist. Ihr Lyrikdebüt ist unter dem Titel „Broken Halves of a Milky Sun“ erschienen und erzählt eindrücklich von Rassismus und Kolonialismus, von Trauma und Todeswunsch, aber auch von Sehnsucht und Begehren, von Wehmut und Wut. Großartig übersetzt von Ọlaide E. Frank, deren Lyrikband „Dunkelkalt“ im Verlag Literatische Diverse erschienen ist. Der én Verlag ist aus dem Nord Verlag von Camilla Zuleger hervorgegangen und verspricht ein Buch für die Zeit und ein Buch zur Zeit.

Frankfurter Verlagsanstalt

Nino Haratischwili

„Das mangelnde Licht“ (Öffnet in neuem Fenster)

Nach nichts werde ich so oft gefragt wie nach: Was lese ich nach „Das achte Leben (für Brilka)“. Dieser Roman ist die Antwort. Zwar springen wir zeitlich in die jüngere Geschichte Georgiens, nämlich in die 80er Jahre, aber wieder versteht meine noch und immer und immer, immer wieder Lieblingsautorin es meisterhaft, persönliche Schicksale mit großen geschichtlichen Umwälzungen zu verbinden. Gerade angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sollte dieser Roman sehr genau gelesen werden und noch viel häufiger Thema literarischer und gesellschaftspolitischer Unterhaltungen sein.

Guggolz Verlag

Lewis Grassic Gibbon

übersetzt von Esther Kinsky

„Lied vom Abendrot“ (Öffnet in neuem Fenster)

Noch immer mein Lieblingsbuch aus diesem liebsten Klassiker-Verlag: Chris Guthrie, die im rauen Osten Schottlands auf einem bitterarmen Bauernhof aufwächst, entschließt sich nach dem Tod des brutalen Vaters, nicht als Lehrerin eine Stellung in der nahe gelegenen Kleinstadt zu suchen, sondern den Hof aus eigener Kraft weiter zu bewirtschaften. Sie heiratet (entgegen der Zeit und der Wahrscheinlichkeit in dieser kargen Landschaft) aus Liebe, dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Eine der tollsten Frauenfiguren der Literaturgeschichte!

Kanon Verlag

Christine Koschmieder

„Dry“ (Öffnet in neuem Fenster)

Über das Leben in all seiner Wüstheit und Zärtlichkeit berichtet Christine Koschmieder in diesem Roman, der vom Verlust und seinem Verwinden, von Mutterschaft und Frausein, vom Funktionieren, vom Lieben und vom Alkoholismus erzählt. Dieser Text hat mich nicht losgelassen, seit ich ihn das erste Mal gelesen habe und begleitet mich in meinem Kopf und in meinem Herzen lachend, warnend und ermutigend.

Kjona

Linus Giese

„Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung“ (Öffnet in neuem Fenster)

Im 1. Band der Briefe an die kommenden Generationen des Kjona Verlags schreibt Linus Giese einen Brief an Jonas. Jonas ist ihm gemeinsam mit seiner Mutter im Buchladen begegnet, nachdem beide „Ich bin Linus“ gelesen haben, in dem Linus Giese von seinem Coming-Out und Leben als trans* Mann berichtet. Viel ist in diesen letzten fünf Jahren passiert, aber viel muss auch noch passieren. Linus Giese schreibt über das, was ihn ihm gerade hilft, anderen auf ihrem Weg zu helfen, woran es aber auch weiterhin dringend fehlt. Wie nötig (literarische) Vorbilder und Selbstverständlichkeit sind, welche Räume es braucht und welche Weite in den vielen Gedanken um Geschlechterdiversität. Ein liebevolles, Mut machendes und deutliches Buch.

Kunstmann

Laura Dornheim

„Deine Entscheidung“ (Öffnet in neuem Fenster)

Jedes Jahr brechen 120.000 Frauen im deutschsprachigen Raum eine Schwangerschaft ab. Und trotzdem ist es unfassbar schwierig an Informationen zu kommen zu einem Thema, dass jede 4. Frau einmal in ihrem Leben betrifft — aus welchen Gründen auch immer. Laura Dornheim stellt in ihrem Buch „Alles was du über Abtreibung wissen musst“ alle notwendigen Informationen zu medizinischen, rechtlichen, bürokratischen Fragen zusammen und ermutigt Frauen, die ungewollt schwanger sind sicher informiert zu werden und sich trotzdem wie im Gespräch mit einer guten Freundin zu fühlen.

März Verlag

Eva Tepest

„Power Bottom“ (Öffnet in neuem Fenster)

Eva Tepest geht in sechs essayistischen Texten und einem Gespräch den Fragen nach, wie wir neu über Lust, Begehren, Scham und Macht denken und vor allem sprechen können. Auf mitreißend lustvolle Weise lotet dey dabei sexuelle Identität und gesellschaftliche Norm und die Vielfältigkeit von Dominanz und Hingabe aus. Nach diesem Buch haben wir viele neue Worte, Sichtweisen und Gedanken, die unsere patriarchal festgelegten Strukturen von Sexualität notwendig erschüttern und weiten.

Mairisch

Hg. Rebecca Buxton & Lisa Whiting

übersetzt von Roberta Schneider, Daniel Beskos & Nefeli Kavouras

„Philosophinnen“ (Öffnet in neuem Fenster)

Von der Antike bis in die Gegenwart werden zwanzig große Denkerinnen portraitiert und zwar von zwanzig jungen Philosophinnen unserer Zeit. Dieses Buch ist also eine feministische Wunderkammer an inspirierenden Denkerinnen. Und auch wenn die essayartigen Texte elegant und eloquent geschrieben sind, eignen sie sich doch nicht nur für Philosohiestudierende, die weibliche Vorbilder mit der Lupe im Kanon suchen müssen, sondern auch für alle, die sich vielleicht erstmals mit Philosophie beschäftigen möchten.

Mikrotext

Dinçer Güçyeter

„Unser Deutschlandmärchen“ (Öffnet in neuem Fenster)

Eine ganz besonders erzählte Familiengeschichte, die in vielen poetischen Stimmen und Tonlagen auch eine Geschichte Deutschlands erzählt.

Dinçer hat sich mit diesem wahren Märchen fest in mein Herzen geschrieben und ist mit dem Roman höchst verdient ganz frisch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, was mich auch für den Verlag von Nikola Richter unfassbar freut.

Text/Rahmen

Dino Pešut

übersetzt von Alida Bremer

„Daddy Issues“ (Öffnet in neuem Fenster)

Ein akademisch gebildeter junger Mann mit schriftstellerischem Talent scheitert doch an seinen großen Träumen. Während viele seiner Bekannten im Ausland erfolgreich Karrieren beginnen, zieht er sich von Berlin in die kroatische Hauptstadt zurück. Hier landet er als Rezeptionist in einem Hotel, leidet unter der homophoben Stimmung in Zagreb, führt toxische Beziehungen und versucht vor allem, sich nicht wie ein Verlierer zu fühlen. Die Nachricht von der Krankheit seines Vaters, zu dem er nie ein gutes Verhältnis hatte, setzt unseren namenlosen Erzähler dann vor ganz neue dringliche Fragen von Klasse, Scham, Herkunft und Identität.

Verbrecher Verlag

Gunilla Palmstierna-Weiss

übersetzt von Jana Hallberg

„Eine Europäische Frau“ (Öffnet in neuem Fenster)

Mütterlicherseits entstammte Gunilla Palmstierna-Weiss einer jüdischen Buchdruckerfamilie, ihr Großvater väterlicherseits war der erste Außenminister der sozialdemokratischen Regierung Schwedens. In diesem Buch erzählt sie eine große und doch sehr persönliche Geschichte, beginnend mit ihrer Kindheit im Schatten des Nationalsozialismus, ihrer Arbeit am Theater und mit bekannten Filmregisseuren wie Ingmar Bergmann und natürlich von der Ehe mit Peter Weiss. Vor allem ist dieses Buch die spannende Geschichte eines modernen Künstlerinnenlebens und eine Kulturgeschichte vor allem der 60 und 70er Jahre. Es ist aber auch der menschenliebende Blick auf ihre Wegbegleiter*innen, der diese 600 Seiten anekdotisch klug und wunderbar unterhaltsam lesbar macht.

Verlagshaus Berlin

Lea Schneider

„Scham“ (Öffnet in neuem Fenster)

Augenöffnend ist die Lektüre dieses Bändchens aus der kleinen aber grandiosen Essayreihe des berühmtesten Lyrikverlages Verlagshaus Berlin nicht nur für mich, sondern für viele Leser*innen mit denen ich oft darüber spreche. Lea Schneider macht es möglich, dass über Scham ganz neu und endlich einmal sehr verständlich gesprochen wird. Brillant klug und anknüpfbar persönlich ist dieses Büchlein ein Standardwerk für mich geworden.

Wagenbach Verlag

Katharina Mevissen

Illustration Katharina Greeven

„Mutters Stimmbruch“ (Öffnet in neuem Fenster)

Vielleicht das seltsamste Buch, das ich auf meiner Liste habe, aber ich liebe diese sonderbare Erzählung von Mutter, die schon lang ohne Kinder in einem verlassenen Haus lebt. Erst fällt die Heizung aus, dann Mutters Zähne, schließlich ihre Stimme. Der alternde Körper, der ohnehin lieber Vater geworden wäre streikt. Und Mutter streikt kindlich bockend mit. Erst ein Einbruch der Natur ins Haus verleiht Mutter die notwendige Kraft zum Aufbruch.

Wallstein Verlag

Julia Friese

„MTTR“ (Öffnet in neuem Fenster)

Mean Time To Recover heißt es in der Programmiersprache, wenn ein System sich nach dem totalen Absturz wieder hochfahren muss. Der Nullpunkt dieses Romans ist die Mutterwerdung einer Frau, die auf so faszinierend reduzierte Weise erzählt wird, wie ich es noch nie gelesen habe. Wie lang Verschwiegenes sich tief durch unsere Geschichte gräbt und gegen welche Widerstände wie muttern müssen, davon schreibt Julia Friese sprachlich brillant und bildhaft schmerzlich.

Weidle Verlag

Wsewolod Petrow

übersetzt von Daniel Jurjew

„Die Manon Lescaut von Turdej“ (Öffnet in neuem Fenster)

Ein Lazarettzug zwischen den Fronten, ein versehrter und vergeistigter Soldat, der den Werther auf deutsch liest und nicht nur damit das Misstrauen aller Mitreisenden auf sich zieht. Und Vera, die traumschöne, nach dem puren Leben hungernde Krankenschwester, deren Lächeln selbst uns Lesenden sofort den Kopf verdreht. Hieraus entspann der Kunsthistoriker Wsewolod Petrow 1946 eine der schönsten und melancholischsten Liebesgeschichten, die ich jemals gelesen habe. Nie reichte er der diesen Prosatext zur Veröffentlichung ein, aber zu gesellschaftlichen Anlässen, las er bei sich zu Hause in Leningrad den begeisterten Gästen der kulturellen Boheme daraus vor. Und das verdient dieser Text: ein lautes (Vor)Lesen.

 

Ich hoffe, ihr habt viel Inspiaration für euer Regal gefunden.

An dieser Stelle treffen wir uns wieder zum nächsten Newsletter am letzten Sonntag im April. Bis dahin lesen wir uns auf Instagram.

Eure Maria

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Maria-Christina Piwowarski und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden