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MCP – Der Newsletter #24 Anfang Januar

Liebe Leser:innen,

ein gutes, sanftes, helles und leichtes Jahr wünsche ich euch. Bevor es in der nächsten Ausgabe dieses Newsletters um die Vorfreude auf den literarischen Frühling und die Neuerscheinungen in den Verlagsprogrammen geht, lasse ich nochmal mit viel Ruhe die erlesenen Glanzlichter des Jahres 2023 vorüberziehen. In aller Ruhe! In aller Fülle! Keine Top 10! Viel mehr als das!

Ich wünsche euch viel Freude und Inspiration. Ihr findet unter den folgenden 72 (ich hoffe, es stimmt) am meisten geliebten und am eindrücklichsten gebliebenen Büchern aus dem Jahr 2023 sicherlich alte Bekannte, oft Gepriesene, ein paar Namen, die auf keinen Fall vergessen oder übersehen werden sollten, hier und dort eine Erinnerung, eine Überraschung und bestimmt auch zwei oder drei Geheimtipps.

Ich habe die Bücher in intuitiven, herzgeleiteten Gruppierungen angeordnet und nur bei den ersten Rubriken jeweils ausführlichere Texte geschrieben. Danach gibt es gemeinschaftliche Beschreibungen, die der Brillanz der einzelnen Titel auf keinen Fall entsprechen, aber euch ein fröhliches Lesen ermöglichen sollen. Bei Rückfragen könnt ihr mir jederzeit gern schreiben.

Dieser Newsletter verdankt seine Opulenz ganz sicher auch den großzügigen Abonnent:innen meines Steady-Kanals (Öffnet in neuem Fenster), der sich in den letzten Monaten seit dem Neustart zu einer unfassbaren Freude entwickelt hat: Hier gibt es je nach gewähltem Paket exklusive Texte, Einblicke ins Lesen und Moderieren, in Projekte und Regale und unter anderem (seit diesem frischen Jahr) auch eine persönliche Buchberatung. Das ist alles eine schöne Fügung und ich danke euch, dass ihr das und damit auch die Zeit für diesen Newsletter möglich macht.

Und jetzt viel Freude beim Lesen!

Relevanz und Berührung

Jedes dieser drei Bücher hier hat mich in diesem Jahr getragen, erfüllt, getröstet, erstaunt, inspiriert und ermutigt, mich mit Klarheit gestärkt, mich zum genauen Schauen ermutigt, mir Gedanken und Gefühle erst geöffnet und dann geordnet. Meine Essay-Perlen aus 2023 sind Lebensbücher, die mit Mut und Menschenkenntnis, mit Weisheit und Weitsicht und einer großen literarischen und philosophischen Feinheit geschrieben sind. Diese drei Ausnahmetexte erfordern einen guten Stift für viele Unterstreichungen, die man beim Lesen zwangsläufig machen möchte, sie kurbeln das eigene Denken an, sind schmerzende Deutlichkeit und wärmende Decke — und Deutung, wo ich zuvor Nebel sah.

Daniel Schreiber hat mit Die Zeit der Verluste ein Buch geschrieben, das noch einmal über seine bisherigen Essays (Nüchtern, Zuhause, Allein – die ich alle drei innig liebe) hinaus strahlt. Vielleicht weil es vom Unsagbaren erzählt, weil es so persönlich und universell ist, wie nur Trauer und Verluste uns ereilen können. Wo uns keine Worte zur Verfügung stehen, findet Daniel Schreiber welche: klare und wunderschöne. Seinem Blick und seinen Gedanken zu folgen, während er einen Tag lang durch Venedig streift und dabei die ganze Welt sieht und all unser menschliches Hadern und Trauern und was uns dadurch trägt, ist für mich der innere Kern von Berührung und Relevanz.

Marica Bodrožić geht mit Mystische Fauna. Von der Liebe der Tiere nicht nur der Verbindung alles Lebendigen nach, sie findet wie immer eine Zeitlosigkeit bei der Beschreibung aller Zusammenhänge des Fühlens und Denkens, des Gewahrwerdens (des Wahrwerdens), die mich in ihrer poetischen Reflexion, ihrer Klugheit und ihrer Tiefe zutiefst beschenkt, auch noch lange nach dem Lesen. Ganz am Ende dieses langen Newsletters stoßt ihr noch einmal auf dieses Buch. Ich hoffe, wir sehen uns bei der Premiere in Berlin!

Gabriele von Arnim Der Trost der Schönheit. Eine Suche blickt behutsam aber klar auf die Verletzungen der Vergangenheit, die Herausforderungen der Gegenwart und die Unwägbarkeiten der Zukunft. Es ist ein Kraftquell, dieses Buch zu lesen, gerade auch, weil es als Suche keine einfachen Antworten liefert sondern zum Selbstdenken geradezu anstiftet. Gabriele von Arnim hat Bilder, Worte und Sätze von solcher Klugheit und Weisheit für uns, in die ich mich wie in eine weiche Decke schmiege.

Romane fürs Leben I

Doireann Ní Ghríofa hat mit Ein Geist in der Kehle, übersetzt von Cornelius Reiber und Jens Friebe, ganz zweifelsfrei mehr als nur meinen Lieblingsroman diesen Jahres geschrieben. Dieses Buch ist auch ein Memoir, eine historische Spurensuche und eine Ode an die Kraft der Lyrik, es ist aber vor allem ein weiblicher Text (wie es im Buch wiederholend heißt), der mich begeistert und beeindruckt hat. Ein außergewöhnliches Buch mit einem noch außergewöhnlicheren Rhythmus.

Augustblau von Deborah Levy, übersetzt von Marion Hertle, ist ein luftig und zarter, mysteriöser und inniger Roman, er ist lustig und abgründig und weise. Diese sommerliche Geschichte entfaltet bei genauem Lesen unter ihrer sinnlichen Leichtigkeit die tiefe Wucht, mit der vielleicht nur Deborah Levy ihre Figuren ausstatten kann. Eine meiner liebsten Autorinnen aller Zeiten und dies ist bis hierher wohl mein liebster Roman von ihr.

Milchbar von Szilvia Molnar, übersetzt von Julia Wolf, hat mir eindrücklich gezeigt, dass es immer noch notwendige Formen gibt, in denen neu über Mutterschaft geschrieben werden muss. Mir ist der Atem gestockt beim Lesen, weil ich so oft dachte: So! Genau so! Was der Körper und die Psyche im Wochenbett leisten und was ihnen durch Erwartungen und Tabuisierungen zusätzlich zugemutet wird, davon erzählt Szilvia Molnars Roman dringlich und mutig.

Romane fürs Leben II

Jarka Kubsova führt mit Marschlande ebenfalls dorthin, wo es mir bei Doireann Ní Ghríofa schon literarisch so gefallen hat: In die Verbindung zweier Frauen durch die Jahrhunderte und die Notwendigkeit, die Namen zu kennen und das Erzählen der Geschichte(n) nicht ausschließlich Männern zu überlassen. Ein tief berührender, starker, mitreißender Roman in beeindruckender Sprache und mit außergewöhnlicher Atmosphäre.

Gregor Hens hat ein Buch geschrieben, das gleichzeitig Familien- und Abenteuerroman ist und uns eine Welt eröffnet, die mir mal wieder gezeigt hat, wie sehr ich Romane liebe. Die eigentümliche Vorliebe für das Meer erzählt fantasievoll und gekonnt von den großen Fragen seiner Figuren nach Herkunft und Zugehörigkeit. Das Buch beweist die große Kraft der Erfindung und Komposition und verbindet eine besondere Geschichte mit einer wunderbar stimmungsvollen Sprache. Ich bin in diesem Buch versunken, wie in einer überraschenden Woche Urlaub am Meer und zehre heute noch davon.

Antonia Baum hat mich mit Siegfried seit dem frühen Frühjahr begleitet und beim Nachdenken über diese Liste war ganz deutlich, dass dieser Roman über eine Frau und Mutter, die sich den gesellschaftlichen Daueransprüchen (und denen ihres Partners) komplett verweigert, um in der Psychiatrie endlich mal zur Ruhe und wieder ins Schreiben zurück zu kommen, unbedingt hier in dieser Aufzählung dabei sein muss. Dass Antonia Baum nur drei (unfassbar gut charakterisierte) Figuren benötigt, um so viel bundesdeutsche Geschichte zu erzählen, finde ich spektakulär.

Neue Hausgöttinnen

Vigdis Hjorth Die Wahrheiten meiner Mutter, übersetzt von Gabriele Haefs, ist wohl das Buch, mit dem der Star der Norwegischen Literaturszene auch bei uns bekannt wird. Ein beklemmendes, soghaftes Buch über eine alternde Tochter, die (letzte) Fragen an ihre noch ältere Mutter hat und als schwarzes Schaf der Familie den Zugang zu ihr verwehrt bekommt. Ein Buch, dem ich mich nicht entziehen konnte. Der nächste Roman in deutscher Übersetzung von Vigdis Hjorth erscheint bereits im März. Doch sie stand schon mit diesem hie sofort neben meinen ganz Großen.

Pirkko Saisio ist ein Phänomen! Nach zwanzig Jahren liegt Das rote Buch der Abschiede nun endlich auf deutsch vor, grandios bis in jede Leerstelle übersetzt von Elina Krizokat. Endlich können wir das Werk dieser Ausnahmeautorin entdecken, die in Finnland längst zu den wichtigsten Stimmen den Literaturbetriebs gehört. Es geht ums Erwachsenwerden im kommunistischen Finnland, um Herkunft und Außenseitertum, um Kunst und Theater, um Mutterschaft und (queere) Liebe und um das mutige Gehen des eigenen Weges angesichts all der Trennungen und Abschiede. Im März wird bereits ein weiterer Teil der Trilogie auf deutsch veröffentlicht.

Lauren Groff ist mir bisher vor allem für ihre Erzählungen unersetzbar im Regal geworden. Weite Wildnis, preisgekrönt übersetzt von Stefanie Jacobs, ist nun ein Abenteuerroman, eine Heldinnenreise, eine Glaubens- und Mutgeschichte um eine 16 jährige Protagonistin, die sich allein aus einer nordamerikanischen Siedlung in die Wildnis stiehlt, weil diese Gefahr ihr weniger schlimm erscheint, als das, wovor sie fliehen muss. Mit keiner Protagonistin habe ich 2023 mehr mitgefiebert, mit keiner bin ich lieber auf so unwirtlichen Wegen gegangen.

Wiederentdeckungen

Josephine W. Johnson (1910 - 1990) war mit 24 Jahren die jüngste Pulitzer-Preisträgerin. Ihr Debütroman November-Schwestern liegt nun nach fast neunzig Jahren in einer deutschen Neuübersetzung von Bettina Abarbanell vor und zeigt eindrücklich die Modernität dieses Familienromans, der auch ein Naturroman, eine frühe Klimawarnung und eine beeindruckende Charakterstudie über drei sehr verschiedene Schwestern ist.

Von Magda Birkmann und Nicole Seifert erscheint seit dem vergangenen Herbst die Reihe rororo Entdeckungen mit Romanen bemerkenswerter, aber bereits vergessener Autorinnen aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Als letzter der ersten drei Bände erschien im Herbst Eine Tochter Harlems von Louise Meriwether (1923 - 2023), original aus dem Jahr 1970 und nun erstmals ins Deutsche übersetzt von Andrea O'Brien. Dieser Roman ermöglicht uns sprachmächtig darüber zu lesen, wie ein Schwarzes Mädchen im New York der Dreißiger aufwächst und ist ein leuchtendes Beispiel für die Notwendigkeit dieser Reihe, die man unbedingt sammeln und lesen sollte. Im Frühjahr folgen die nächsten drei Bände.

Maria Kuncewiczowa (1895–1989) gelingt in Zwei Monde, erstmals seit dem Erscheinen 1933 ins Deutsche übersetzt von Peter Oliver Loew, eine Liebeserklärung an das Örtchen Kazimierz Dolny an der Weichsel. Eine Sammlung leichter und trotzdem sehr genau beobachteter Erzählungen, bringt uns die Bewohner:innen der Kleinstadt auf dem Lande näher und die titelgebende zwei Monde zeigen an, dass Maria Kuncewiczowa nichts romantisch verklärt, sondern die Polarisierungen dieser Zeit gut zu beobachten weit.

Körper lesen

Drei Bücher haben mir in diesem Jahr die Bilder und Sprache eröffnet für Körper und S3x, für Begehren und Bewertung, für Verlangen und Consent, für Lust und Scham, für einen freien offenen Blick, auf die eigenen Höhepunkte und Abgründe. Es sind höchst literarische Essays(Sammlungen), die uns körperklüger, offener, behutsamer und ungehemmter machen: Christine Koschmieder Schambereich — Evan Tepest Power Bottom — Saralisa Volm Das ewige Ungenügend

Sprache und Rhythmus

In diesen drei Büchern geht es um Verluste, auf sehr verschiedene Weise. Was sie erzählen ist bedeutsam und persönlich, universell und erschütternd, schmerzhaft und heilsam zugleich. Es ist aber vor allem die Sprache, mit der sie sich tief in meine Lesebiografie eingeschrieben haben, der Rhythmus der Sätze, die Abstraktion der Laute, die Wortmacht, die Sprachgewalt- und Sprachbehutsamkeit. Diese Bücher kann man nicht still lesen und man kann nicht unverändert aus diesem Lesen hervorgehen. Wie angespitzt fühlt sich das Sprachempfinden danach, wie wundgescheuert der Herzmuskel und wie dankbar die Seele, dass es Menschen gibt, die dieser Worte fähig sind: Kate Zambreno, übersetzt von Dorothee Elmiger, Mutter (Ein Gemurmel)Jo Frank GewaltKatharina Mevissen Mutters Stimmbruch

Aus der Mitte erzählt

Wer (wie ich immer wie süchtig) Romane sucht, in denen sich Frauen auf der Mitte des Lebens plötzlich großen Veränderungen gegenüber sehen, wo Gewohntes einen neuen Lauf nimmt oder Verschorftes endlich abgelöst wird, um Luft an das Darunter zu lassen, der wird bei diesen Büchern fündig, berührt, bestärkt und hat zumindest bei den beiden äußeren Büchern auch eine Menge zu lachen, bei allen drei Büchern aber viel Starkes zu fühlen: Doris Knecht Eine unvollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habeHilde Rød-Larsen, übersetzt von Ursel Allenstein, DiamantnächteDana Spiotta, übersetzt von Andrea O’Brien, Unberechenbar

Debütant:innenball

Diese ersten Bücher von neuen Autor:innen sind für mich die allerbesten Debüts des Jahres 2023. Ihnen gehört das Glanzlicht auf dem Debütant:innenball, von ihnen will ich liebend gern bald zweite Romane lesen und bis es so weit ist lange über die Figuren und Geschichten nachdenken, di sie uns geschenkt haben und die alle gemein haben, dass sie klug von Sehnsucht erzählen können. Diese Bücher haben meine Welt größer, meine dicke Haut durchlässiger, mein Lesen soghafter gemacht und ich verneige mich vor so viel Talent: Dana Vowinckel Gewässer im Ziplock Necati Öziri Vatermal Charlotte Gneuß Gittersee

Beste Bekannte

Hier hingegen sind drei Autorinnen, die mein Lesen schon lange oder sogar sehr lange begleiten. Sie alle haben im letzten Jahr neue Romane veröffentlicht, und mich mit jedem davon wieder begeistert und bewiesen, warum ich sie seit langem zu meinen Lieblingsautorinnen zähle: Sandra Hoffmann Jetzt bist du da Annika Reich Männer sterben bei uns nicht Raphaela Edelbauer Die Inkommensurablen

Groß gestaunt

Und wenn Literatur auch immer ein kleiner Gottesdienst (lieber natürlich ein Göttinnendienst!) sein soll, wenn Lesen auch Ehrfurcht, Staunen und Bewundern bedeuten darf, dann dürfen diese drei Bücher nicht fehlen, die mich mit ihrer Erhabenheit fasziniert und mit ihrem grandiosen Witz berauscht haben: Margherita Costa, übersetzt und herausgegeben von Christine Wunnicke, Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht Florian Illies Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten Thomas Böhm Die Wunderkammer des Lesens

Ohne Pause gelesen

Es waren sicher mehr als drei Romane, die ich nahezu pausenlos gelesen habe, in denen ich sein und bleiben wollte und alles um mich herum vergessen konnte, die mich in ihren Bann gezogen haben, aber diese drei fielen mir sofort ein, als Empfehlung auch für alle, die Bücher suchen, mit denen sie sofort ins Lesen kommen, Geschichten, die sie begleiten, Protagonistinnen, mit denen sie auch die unwegsamen Pfade gehen wollen: Caroline Wahl 22 Bahnen Verena Kessler Eva Elena Fischer Paradise Garden

Gut gedacht, gut gefühlt

Und dann gibt es Romane, die schenken uns Orte, an die wir uns noch nach dem Lesen träumen, Gemeinschaften, von denen wir uns sofort als Teil fühlen, Protagonistinnen mit denen wir lachen und weinen. Sie besprechen bis in die Tiefen große Themen, scheuen sich nicht vor Konflikten und tragen trotzdem die wärmende Decke, die heilende Brise, den Duft von Geborgenheit, der dazu ermutigt, den eigenen Weg (weiter) gehen zu können oder neue Wege zu finden: Anika Landsteiner Nachts erzähle ich dir alles Eva Lohmann Das Leise Platzen unserer Träume Kristina Pfister Tage im warmen Licht

Laut gelacht

Literatur, die gute Laune macht, findet sich in meinen Leselisten nicht gerade leicht. Und der (hervorragende) Roman in der Mitte schummelt sich hier eigentlich auch ein bisschen rein, denn bei Bov Bergs kühnen, ideenreichen Buch bleibt das Lachen oft eher im Halse stecken, deshalb wird er umhüllt von der gewitztesten Schreibkolumnen einer Lieblingsdichterin und einer fabelhaft leichten, schönen Sonmmergeschichte, die wirklich gut fürs Gemüt ist: Wisława Szymborska, übersetzt von Renate Schmidgall, Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechselnBov Bjerg Der VorweinerFrederick Kohner, übersetzt von Hanna Hesse, Gidget. Mein Sommer in Malibu

Laut geweint

Und weil es für mich wichtig und wohltuend ist, bei Büchern nicht nur vor Lachen Tränen in den Augen zu haben, sondern auch die Erschütterung zu spüren, die nichts mit Rührung zu tun hat, die Fassungslosigkeit, die von der Traurigkeit kommt, bevor sie zur Bewunderung wird, bleiben diese drei Bücher aus dem Jahr 2023 die so tief und grandios sind: Cordelia Edvardson, übersetzt von Ursel Allenstein, Gebranntes Kind sucht das Feuer Brigitte Giraud, übersetzt von Michael Kleeberg, Schnell lebenChantal Akerman, übersetzt von Claudia Steinitz, Meine Mutter lacht

Liebe gelesen

Es gibt ja wohl nichts, das man nicht schreiben kann, oder? Kein Gefühl, dass so innig und intensiv in Worte gegossen werden kann, dass es beim Lesen aus den Seiten zu uns überspringt. Dass selbst die Liebe beeindruckend beschrieben und gelesen werden kann, nicht selten von ihrem Ende her, das beweisen (in bester Tradition) diese drei Bücher, die mir auch als große Liebesromane in Erinnerung bleiben weil deren Tragik den Kitsch nicht kennt: Helga Schubert Der heutige TagJudith Poznan AufrappelnJulia Schoch Das Liebespaar des Jahrhunderts

Lyrik, Lyrik

Generell fürchte ich in jedem Jahr, zu wenig Lyrik aus der heutigen Zeit gelesen zu haben. Das Vorhaben, diesen Umstand zu ändern, liegt allerdings ebenfalls jährlich neu und hochmotiviert auf meinem Tisch. Die Entdeckungen, die ich in diesem Jahr gemacht habe, bestätigen ja auf eindrückliche Weise, dass es immer lohnenswert ist, sich um die zeitgenössiche Lyrik zu bemühen, ihr zu lauschen, von ihr angezogen und angeschrien zu werden, zugeflüstert zu bekommen, rhythmisch, eindrücklich, was die Prosa nicht oder nur selten schafft: Martin Piekar Livestream & Leichen, mit Illustrationen von Nina KaunYirgalem Fisseha Mebrahtu, übersetzt von Kokob Semere, Miras Walid und Mekonnen Mesghena, Ich bin am Leben — Adrian Michael Green, übersetzt von Valeska Steiner, Deine Sonne kommt

Stories

Dir kurze Prosa, die auch mal zwischendurch gelesen werden kann und doch so gehaltvoll ist, dass eine Geschichte uns so lange beschäftigen kann wie ein ganzer Roman, hat mich in diesem Jahr mal wieder in ihrem Einfallsreichtum, ihrer Beobachtungsgabe, ihrer Bosheit und Präzision begeistert: Tove Ditlevsen, übersetzt von Ursel Allenstein, Böses Glück Jane Campbell, übersetzt von Bettina Abarbanell, Kleine Kratzer Bora Chung, übersetzt von Ki-Hyang Lee, Der Fluch des Hasen

Anthologien

Diese Anthologien haben mich erst thematisch interessiert und sind nun aus stilistischen Gründen aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Anthologien sind übrigens hervorragende Einladungen, neue Lieblingsautor:innen kennenzulernen: Hrsg. von Wolfgang Schiffer und Dinçer Güçyeter Türschwellenkinder. Von der Arbeit der ElternHrsg. von Katharina Bendixen, David Blum, Barbara Peveling und Sibylla Vričic Hausmann Other Writers nee to concentrateHrsg von Christa Morgenrath und Eva Wernecke, übersetzt von Aminata Cissé Schleicher & Eleonore Wiedenroth-Coulibaly, editiert von Margret Busby, mit einem Vorwort von Marion Kraft Neue Töchter Afrikas

Was sonst noch gut war

Auch diese Bücher sind keine Romane und keine Sachbücher, aber sie erzählen Geschichte(n) und Leben nach, suchen nach Spuren, fragen nach dem Warum, zeigen das Wie: Jenny Erpenbeck über Christine Lavant in der Reihe Bücher meines Lebens — Anja Reich Simone Lou Zucker mit Illustrationen von Josephin Ritschel Eine Frau geht einen trinken. Alleine. MaroHeft #11

Ganz ausgezeichnet

Diese vergebenen Preise aus dem Jahr 2023 sollen nicht vergessen werden: Der Bücherfrauen Literaturpreis Christine ging an Slata Rochal für 153 formen des nichtseins (Den ursprünglichen Indie-Verlag Homunculus gibt es mittlerweile leider nicht mehr, aber das Buch erscheint im Taschenbuchformat bereits am 24. Januar. Auch ein neues Buch der Autorin ist für dieses neue Jahr schon angekündigt, dazu im Februar-Newsletter mehr.)

Die Hotlist kürt die Bücher des Jahres aus unabhängigen Verlagen. Der Preis der Hotlist wurde verliehen an Leere Menge von Verónica Gerber Bicecci, übersetzt aus dem mexikanischen Spanisch von Birgit Weilguny.

Noch im Dezember wurde der Kurt-Wolff-Preis für das frisch vor uns liegende Jahr für den AvivA Verlag von Britta Jürgs verkündet, hier steht Ingeborg Gleichauf Alles ist seltsam in der Welt. Gertrud Kolmaar. Ein Porträt symbolisch für die unermüdliche Arbeit um wiederentdeckte Autorinnen. Der Kurt-Wolff-Förderpreis wurde Nikola Richters Verlag Mikrotext zugesprochen. Beides sind große, große Anlässe zur Freude!

Kurz und grandios

Auf die drei liebsten Literaturen in schmalen Bänden konnte ich mich leicht festlegen. Zwei Romane umrahmen einen Essay und zeigen, wie wenig Platz es braucht, um Großes zu erzählen: Anne Serre, übersetzt von Patricia Klobusiczky, Die GouvernantenJo Frank TrauerJannie Regnerus, übersetzt von Ulrich Faure, Das Lamm

Für die Kleinen (und uns alle)

Es war ein herausragend schönes Jahr im Kinder- und Jugendbuchbereich und daher gar nicht so leicht mich auf drei Titel zu beschränken. Heute geh ich in die Schule von meiner Freundin Clara Schaksmeier, mit Illustrationen von Pauline Pete, führt den Reigen aber ganz klar an: So divers, so liebevoll, so umsichtig und klug, so voller Begeisterung für das Lernen und die Individualität ist kein anderes Buch.

Saša Stanišić hat mich mit Wolf, illustriert von Regina Kehn, wieder ganz neu fürs Jugendbuch und generell für Romane über Ferienlager begeistert. Ein wirklich großartig geschriebener Roman über Freundschaft und Solidarität. Wenn jemand dieses schwierige Wort Elfjährigen cool erklären kann, dann Saša Stanišić.

Und vielleicht ist auch die eingereihte Füchsin aus Auf leisen Pfoten unterwegs von Patricia Thoma von meiner Liebe zu Fähen inspiriert, aber mit ihren schönen Illustrationen und Beobachtungen rund ums Fuchsjahr hat sie das gar nicht nötig. Von allen wunderschönen Büchern über die Natur, war mir dies das liebste.

Gern gehört

Es ist eine besondere Freude, wenn mich Literatur begleitet, während ich unterwegs bin, beim Spazieren (ja, das ist relativ neu) und bei anderen Dingen, die die Hände beschäftigen aber den Geist freihalten. Dann höre ich gern gute Hörbücher oder Autorinnenlesungen und staune immer wieder wie gern ich vorgelesen bekomme. Im Jahr 2023 haben mich fasziniert und begleitet: Anne Berest Die Postkarte, übersetzt von Amelie Thoma, gelesen von Simone KabstHelga Bürster Als wir an Wunder glaubten, gelesen von Katja DanowskiToni Morrison Sehr blaue Augen übersetzt von Tanja Handels und gelesen von Abak Safaei-Rad.

So, ich glaube, es waren wirklich 72 Bücher. Und nicht mal hier gibt es einen Anspruch auf Vollständigkeit, meine Lesestatistik war zwischendurch etwas löchrig. Bei einigen Titeln wollte sich bis zuletzt schlicht nicht fügen, wohin ich sie hier einreihen könnte. Zu anderen war schon längst allerorten alles (und besser) gesagt worden. Aber jedes der Bücher hat einen festen Platz hier und in meinem Herzen. Und solche Mammut-Rückblicke wird es auch nicht regelmäßig geben.

Ankündigungen

Und zum Schluss, liebe Leser:innen, oh ich bin wirklich gespannt, wer von euch es an einem Stück bis hierher geschafft hat, habe ich noch die Ankündigungen für die nächsten wirklich grandiosen Termine on- und offline. Den Januar laufe ich mich ganz in Ruhe warm, finde neue Strukturen und Routinen im Selbstständigsein, schreibe Vorwort und Kolumne und natürlich Steady-Texte, aber ab Februar spreche ich wieder mit großartigen Autorinnen über großartige Bücher und freue mich jetzt schon auf jedes Gespräch und euch im Publikum:

31.1. Buchpremiere Volksbühne Berlin (Öffnet in neuem Fenster) im Roten Salon mit Marica Bodrožić und Corinna Kirchhoff von Mystische Fauna

6.2. um 20 Uhr Instagram-Livestream mit Nicole Seifert zu Einige Herren sagten etwas dazu. Die Autorinnen der Gruppe 47

12.2 Instagram-Livestream zu Diane Oliver Nachbarn (übersetzt von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg) mit der Lektorin Nele Holdack und der Schauspielerin Benita Bailey

13.2. Literaturhaus Berlin (Öffnet in neuem Fenster) Buchpremiere Jacqueline Kornmüller & Kat Menschik von Das Haus verlassen (Band 17 der illustrierten Lieblingsbücher)

22.2. Instagram Livestream mit Alina Herbing zu Tiere vor denen man Angst haben muss

28.2. Instagram Livestream mit Simone Meier zu Die Entflammten

Wer weiter in die Zukunft schauen möchte, findet noch mehr Termine auf meiner Website (Öffnet in neuem Fenster).

Auf ein gutes Jahr! Auf ein gutes Lesen!

Eure Maria

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